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DIE STÄRKSTEN SIEGEN UND DIE SCHWÄCHSTEN ERLIEGEN

NATÜRLICHE SELEKTION

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

Charles Darwin (1809–1882), Alfred Russel Wallace (1823–1913)

FRÜHER

1809 Jean-Baptiste Lamarck entwickelt seine Theorie zur Evolution durch Vererbung erworbener Merkmale in seinem Buch Zoologische Philosophie. Sie erweist sich später als falsch.

SPÄTER

1900 Zahlreiche Biologen wie Hugo de Vries und William Bateson entdecken die Experimente von Gregor Mendel wieder, der die Vererbungsregeln aufgestellt hatte.

1918 Der britische Statistiker Ronald Fisher zeigt, wie Darwins Lehre der Evolution durch natürliche Selektion mit Mendels Vererbungsregeln kompatibel ist.

»… es gibt eine Tendenz in der Natur, dass der andauernde Fortschritt der Vielfalt bestimmter Klassen sich weiter und weiter von der ursprünglichen Art entfernt …«

Alfred Russel Wallace

Charles Darwin erklärte als erster Wissenschaftler die Evolution so, dass sie den Grundlagen der Biologie entsprach. Seine Idee, die natürliche Selektion, beruht darauf, dass eine Population lebender Organismen aus nicht identischen Individuen besteht. Wegen ihrer variablen Merkmale überleben und vermehren sich einige Individuen unter bestimmten Bedingungen besser als andere und geben diese Vorteile an ihren Nachwuchs weiter. Ändern sich die Bedingungen, ändern sich auch die Merkmale, die dem Überleben dienen. Populationen entwickeln sich und passen sich mit der Zeit ihrer Umwelt an. Tatsächlich aber wählt die Umwelt ihre Organismen aus.

Natürliche Selektion erklärt als beste Theorie, warum Organismen so sind, wie sie sind. Doch die allgemeine Anerkennung von Darwins Theorie dauerte lang. Die Idee von veränderbaren Arten stand im Konflikt mit der der Kreationisten, die im 19. Jahrhundert weitverbreitet war. Und auch seine Kollegen glaubten, dass jede Art eine unveränderbare »Essenz« besaß. Diese Vorstellung stammte aus Platons Lehre im alten Griechenland und die Ansicht von statischen, unveränderbaren Arten war tief verwurzelt.

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Eine Reise der Entdeckung

Wie seine christlichen Zeitgenossen war auch Darwin zunächst ein Kreationist. Doch seine Ansichten änderten sich ab 1831 auf seiner fünfjährigen Expedition auf der HMS Beagle, nachdem er sein Studium in Cambridge abgeschlossen hatte. Kaptän Robert Fitzroy hatte die Aufgabe, die Küste Südamerikas zu kartieren. Die Reise erwies sich als Wendepunkt in Darwins Leben. Sie sicherte seinen Ruf als Naturforscher und inspirierte ihn, seine Weltansicht zu überdenken und seine Evolutionstheorie zu schaffen. Darwin war beeindruckt von der Tatsache, dass in verschiedenen Teilen der Welt eigene, einzigartige Tiere und Pflanzen vorkamen. Auch seine Fossilienfunde – die in England besonders gelobt wurden – zeigten ihm, wie sich das Leben mit der Zeit verändert hatte. Sie widersprachen der Bibel, die sagte, Gott hätte die Welt und alles auf ihr in sechs Tagen erschaffen.

Nach seiner Rückkehr 1836 zweifelte Darwin, dass tatsächlich alle Arten unveränderlich sind. Denn neue Arten entstanden in Populationen, die durch einen Gebirgszug oder auf einer Insel isoliert waren. Insbesonders die Vögel auf den Galapagosinseln hatten sich scheinbar von gemeinsamen Vorfahren diversifiziert. Der britische Ornithologe John Gould zeigte auf, dass eine Gruppe – mit auffällig unterschiedlichen Schnäbeln – verwandte Finkenarten sind, die sich an die unterschiedlichen Lebensräume der Inseln angepasst hatten. Das war ein bahnbrechender Moment.

Im selben Jahr begann Darwin seine geheimen Aufzeichnungen über die »Transmutation« der Arten. Durch seine Verlagerung zu Populationen erkannte er, wie sich Arten entwickeln können. Bei einigen Pflanzen- und Tierarten wurde die Bedeutung von Individuen mit wünschenswerten Merkmalen seit langer Zeit geschätzt, um diese zu züchten. Darwin erkannte, dass sich auch wilde Arten so entwickeln konnten.

Kampf um die Ressourcen

Darwins spätere Studien zwischen 1846 und 1854 waren ein weiteres Schlüsselerlebnis für sein Verständnis der natürlichen Variation bei Populationen. Doch ihre wahre Bedeutung erkannte er 1838, nachdem er Das Bevölkerungsgesetz des britischen Ökonomen Thomas Malthus gelesen hatte. Darin beschrieb Malthus, wenn eine menschliche Population unkontrolliert anwuchs, die Produktion von Nahrungsmitteln aber nicht, waren Hunger und Krankheiten unvermeidbare Folgen. Im vorherigen Jahrhundert beschrieben die Naturforscher Comte de Buffon (Georges-Louis Leclerc) und Carl von Linné die mögliche Fruchtbarkeit von Lebewesen. Forschungen des deutschen Naturforschers Christian Ehrenberg zeigten, dass die fortlaufende Verdopplung einzelliger Mikroben schnell zu einer großen Anzahl führte. Er erkannte, dass auch komplexe Pflanzen und Tiere das Potenzial zur Übervölkerung besaßen.

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Die Galapagosinseln liegen isoliert im Pazifik. Darwin erreichte sie 1835. Seine Untersuchungen der einheimischen Organismen bildeten die Grundlage für seine Evolutionstheorie.

Während Naturforscher mit antievolutionären Ansichten Arten in Harmonie mit ihrer Umgebung sahen, konzentrierte sich Darwin auf den Kampf um die Ressourcen. Wenn Populationen stark anwuchsen, die Ressourcen aber endlich seien, verlören die Schwächsten.

Wie Arten sich ändern

Die Vorstellung, dass schwache Individuen sterben und starke überleben, war nicht neu. Viktorianische Krankenhäuser und Slums zeugten davon. Einige Theologen und Wissenschaftler nutzten diese Beobachtungen für antievolutionäre Ansichten, warum Arten unveränderlich sind. Der britische Zoologe und Briefpartner Darwins Edward Blyth sah sie als Verstärkung des »Typus« – wenn schwächere Individuen sterben, werden die Arten perfekter. Für Darwin liefen diese Kämpfe vor dem Hintergrund einer sich verändernden Welt ab. Geologen sahen Hinweise, dass selbst die Erde nicht statisch ist. Inseln entstanden, Lebensräume veränderten sich und Fossilien verschiedener Arten wurden in unterschiedlichen Gesteinsschichten entdeckt. Für Darwin war dies unvereinbar mit der Ansicht unveränderlicher Arten in Harmonie mit ihren Umgebungen.

Arten der natürlichen Selektion

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Die schwächsten Individuen werden sehr wahrscheinlich Opfer von Raubtieren wie diese junge Gazelle von einem Löwen. Stärkere Tiere haben bessere Überlebenschancen.

Stattdessen sagte Darwin vorher, unter veränderten Bedingungen überlebten nur die am besten angepassten Individuen und vermehrten sich. Im Lauf vieler Generationen verschieben sich die vorherrschenden Merkmale mit den veränderten Umständen – die Selektion sei gerichtet und dränge ein Merkmal in das eine oder andere Extrem (siehe links).

Veröffentlichung

Darwin war sich der Proteste bewusst, die eine Veröffentlichung seiner Ideen im viktorianischen England ausgelöst hätten. Über Jahre hielt er sich bedeckt und forschte weiter. Doch 1858 ließ ihm ein anderer britischer Naturforscher keine Wahl. Alfred Russel Wallace sammelte Proben in Südostasien und schrieb ihm eine Theorie dazu, die mit Darwins übereinstimmte. Durch die Erfahrungen in den Tropen von Südamerika und Asien wurde Wallace zu einem Evolutionisten und wie bei Darwin bildete Malthus’ Ansicht über einen Kampf um Ressourcen den Wendepunkt. Anfangs hatte Wallace wie Blyth die These der Perfektionierung vertreten, nun aber sah er, dass Selektion Arten veränderte.

Darwin und Wallace reichten ihre Theorien im Juli 1858 unabhängig voneinander bei der Linnean Society of London ein. Im folgenden Jahr veröffentlichte Darwin sein Buch Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Es war nur eine Kurzfassung seiner Theorie, aber er wurde dadurch weltberühmt.

Genetische Beweise

Im frühen 20. Jahrhundert verfeinerten Wissenschaftler das Verständnis der natürlichen Selektion angesichts Entdeckungen zu Chromosomen, Genen und Vererbung.

Biologen sahen bei Populationen rundherum Beweise für die natürliche Selektion und konnten diese sogar in Echtzeit untersuchen. In den USA ergänzte der Biologe Theodosius Dobzhansky die Arbeit von Thomas Hunt Morgan über die Genetik von Fruchtfliegen. Dazu hielt er eine große Anzahl der Fliegen in sogenannten Populationskäfigen unter verschiedenen Bedingungen und beobachtete, dass bestimmte Gene durch natürliche Selektion wuchsen oder abnahmen.

In den 1950er-Jahren erklärte der britische Genetiker Bernard Kettlewell mit der natürlichen Selektion, wie eine schwarzen Varietät des Birkenspanners (Biston betularia) in den verrußten Städten der industriellen Revolution zunahm. Dunklere Falter wurden von Raubvögeln schlechter erkannt. Als die Luftverschmutzung in britischen Städten (1956) abgenommen hatte, vermehrten sich wieder hellere Falter.

Diese Forschung bewies, dass Selektion gerichtet sein und Merkmale ins Extreme verschieben kann. Nach anderen Studien kann Selektion stabilisierend sein – extreme Variationen eines Merkmals werden eliminiert (siehe Kasten links). Die britischen Zoologen Arthur Cain und Philip Sheppard wiesen das aufspaltende Potenzial der natürlichen Selektion nach, wobei gleichzeitig mehr als eine Varietät favorisiert (selektiert) wird. Ihre Studie der Bänderschnecke Cepaea nemoralis bewies, dass die Wahrscheinlichkeit, gefressen zu werden, von der Gehäusefarbe abhängt. Daher haben sich in verschiedenen Umgebungen verschiedene Farben entwickelt.

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Schwarzmündige Bänderschnecken (Cepaea nemoralis) haben unterschiedliche Gehäusefarben und -muster: ein Beispiel für aufspaltende Evolution.

Heute ist die natürliche Selektion ein Eckpfeiler der Biologie. Sie ist die einzige Möglichkeit, dass Evolution Anpassungen in einer veränderlichen Welt hervorbringt. image

Charles Darwin

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Charles Darwin (geb. 1809) war nach seinen Worten »der geborene Naturforscher«. Erschüttert vom Trauma der Chirurgie im 19. Jh., gab er sein Medizinstudium in Edinburgh auf und studierte Theologie in Cambridge.

Darwin wurde 1831 vom Kapitän zu einer Reise mit der HMS Beagle eingeladen. Durch seine Beobachtungen auf der Südhalbkugel lehnte er die verbreitete Ansicht ab, dass Arten unveränderlich erschaffen wurden. Nach seiner Rückkehr suchte er nach Beweisen seiner Theorie der natürlichen Selektion und veröffentlichte 20 Jahre später sein Werk Die Entstehung der Arten. Diese und spätere Publikationen sicherten ihm den Ruf als einer der bekanntesten Naturforscher aller Zeiten. Nach seinem Tod 1882 wurde er ehrenhalber in der Westminster Abbey in London begraben.

Hauptwerke

1839 Die Reise auf der Beagle

1859 Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl

1871 Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl

Sexuelle Selektion

Nach Darwin kann neben dem Kampf ums Überleben auch die Partnersuche eine treibende Kraft der Evolution sein. Er unterschied diese sexuelle Selektion von der natürlichen. Doch hinsichtlich der evolutionären Fitness sind beide gleich: Erfolgreiche Individuen bei der Partnersuche zeugen mehr Nachwuchs.

Sexuelle Selektion spielt vermutlich eine wichtige Rolle in der Evolution der Geschlechtsunterschiede. Attraktive Merkmale, die Individuen Vorteile bei der Partnersuche bringen, werden häufiger vererbt. Ein prächtiges Gefieder erhöht zwar nicht die Überlebenschance eines männlichen Pfaus, kann aber seine Fortpflanzungschance erhöhen. Prächtige Männchen, die ihrem Jäger entkommen, könnten auch körperlich stärker sein.

Insgesamt sind Weibchen wählerischer, weil vermutlich ihre Investition in die nächste Generation – in Bezug auf den körperlichen Aufwand der Eiproduktion oder den Risiken der Schwangerschaft – häufig größer sind.