IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Hugo de Vries (1848–1935)
FRÜHER
1859 Charles Darwins Die Entstehung der Arten erklärt die Evolution als einen Prozess kleiner Änderung durch natürliche Selektion.
1900 Biologen wie Hugo de Vries entdecken Gregor Mendels Arbeit (1866) wieder, nach der Merkmale durch kleine Teilchen vererbt werden, die man später Gene nennt.
SPÄTER
1942 Der britische Biologe Julian Huxley führt die natürliche Selektion (Darwins), die Erbgesetze (Mendel) und die Mutation (de Vries) zu einem Konzept zusammen, der Synthetischen Evolutionstheorie.
1953 Francis Crick und James Watsons Entdeckung der Doppelhelix bildet die Grundlage für den chemischen Aufbau des Erbmaterials.
Damit biologische Evolution stattfinden kann, muss es Variation geben. Aber wie entsteht diese Variation?
Seit Jahrhunderten wussten Naturforscher wie Charles Darwin, dass Varietäten plötzlich, offenbar spontan erscheinen und vererbbar sind. Das war insbesonders bei der Zucht von Pflanzen und Tieren gut bekannt, bei der eine künstliche Selektion zu besseren Beständen oder Varietäten führte – es konnten etwa Tauben mit einem fliederfarbenen Gefieder anstelle eines grauen heranwachsen, braune Mäuse gelegentlich weiße erzeugen oder eine Rose dichtere Blüten hervorbringen. Der holländische Botaniker Hugo de Vries war von den Varietäten unter seinen Nachtkerzen so beeindruckt, dass er darüber 1900 bis 1903 eine Theorie der Evolution veröffentlichte.
De Vries nannte diese Varietäten Mutationen – dieser Begriff blieb seitdem erhalten. Nach seiner Theorie fanden ständig zufällige Mutationen statt, die nicht nur zur Vielfalt des Lebens führten, sondern auch die treibende Kraft der Evolution waren. Weil diese Mutationen unerwartet auftraten, vermutete de Vries, dass Evolution das Produkt großer Sprünge war – diesen Prozess nennt man Saltationismus. Diese Ansicht stand im scharfen Kontrast mit der graduellen Veränderung in Darwins Theorie der natürlichen Selektion.
De Vries sah seine Ansicht durch die Erbgesetze, die der österreichische Mönch Gregor Mendel mehr als 30 Jahre zuvor aufgestellt hatte, bestätigt. Mendel experimentierte mit Erbsen und vermutete, dass vererbte Merkmale durch kleine Teilchen verursacht wurden, die man später Gene nannte. Wenn Mutationen in einzelnen Genen vorkamen, dann erfolgte nach de Vries evolutionäre Veränderung ebenfalls in diskreten Sprüngen.
Das ursprüngliche DNA-Molekül besitzt eine bestimmte Basensequenz. Genmutationen erfolgen, wenn dieses DNA-Molekül nicht korrekt kopiert wird.
De Vries hatte zum Teil recht und zum Teil nicht, aber erst nach einem halben Jahrhundert verstanden Biologen, warum. Nachdem sie mehr Einzelheiten der Vererbung kannten, entdeckten Genetiker, dass teilchenartige Gene und ihre mutierten Formen viele Merkmale hervorbrachten. Dadurch wurden viele Variationen geglättet, sodass sie kontinuierlich statt diskret erfolgten – und entsprachen damit Darwins graduellen Veränderungen. Zur selben Zeit erforschten Biologen selben und legten die Natur der Mutationen auf der chemischen Ebene ihrer DNA offen.
Spontane Mutationen entstehen durch fehlerhafte Kopien der DNA (das genetische Material). Mutationen sind selten, sie kommen vermutlich pro Gen nur einmal alle Million Zellteilungen vor. Sie sind aber die ultimative Quelle der genetischen Vielfalt. Trotz dieser niedrigen Rate stammen nach Milliarden Jahren viele Variationen von einem gemeinsamen Vorfahren ab.
»Natürliche Selektion kann das Überleben der Angepasstesten erklären, sie erklärt aber nicht das Erscheinen der Angepasstesten.«
Hugo de Vries
Verschiedene Varianten von Genen, die durch Mutation entstanden, nennt man Allele. Sie erzeugen bekannte vererbte Variationen wie blaue und braune Augen bei Menschen oder grüne und gelbe Schoten bei Mendels Erbsen. Weil sie zufällige Veränderungen an einem Lebewesen sind, verlaufen viele Mutationen schädlich. Andere haben scheinbar keinen Einfluss auf das allgemeine Überleben, während eine kleine, aber signifikante Anzahl vorteilhaft sein kann. Gefährliche Mutationen werden durch natürliche Selektion unterdrückt, während vorteilhafte durch sie zunehmen – abhängig davon, ob die Umwelt sie ablehnt oder bevorzugt. De Vries hatte recht, dass Mutationen Vielfalt erzeugen, aber die natürliche Selektion erledigt den Rest. Dies allein erklärt, wie Organismen an ihre Umgebung angepasst anstatt zufällig erzeugt werden.
Arten der Mutation
Alle Mutationen sind Zufälle, wenn das genetische Material – DNA – bei der Zellteilung kopiert wird. Das kann ein Fehler bei der Selbstkopie der DNA sein, sodass ein Gen mit einer anderen Sequenz der DNA-Basen entsteht – eine Genmutation. Alternativ können ganze DNA-Stränge falsch ausgerichtet sein oder brechen und so nicht gleichmäßig getrennt werden – eine Chromosomenmutation.
Obwohl alle natürlichen Zellen Korrektursysteme besitzen, entstehen Fehler. Einige gefährliche Einflüsse wie Röntgenstrahlen erhöhen diese Rate. Mutationen in Geschlechtsorganen kommen in Spermien oder Eizellen vor und werden in alle Zellen des Nachwuchses kopiert. Diese Keimbahnmutationen werden an zukünftige Generationen vererbt. Andere Mutationen in Körperzellen werden nicht vererbt. Diese somatischen Mutationen beeinflussen das lokale Gewebe und führen manchmal zu Krebs, aber sie werden nicht weitergegeben.