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NATÜRLICHE SELEKTION VERBREITET VORTEILHAFTE MUTATIONEN

SYNTHETISCHE EVOLUTIONSTHEORIE

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

Ronald Fisher (1890–1962), Theodosius Dobzhansky (1900–1975)

FRÜHER

1859 Charles Darwin beschreibt in seinem Buch Die Entstehung der Arten die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion.

1865 Gregor Mendel berichtet in seiner Abhandlung Versuche über Pflanzenhybriden detailliert über seine Erbsenzucht und drei Erbregeln.

1900/03 In Die Mutationstheorie erklärt Hugo de Vries, dass evolutionäre Veränderung in großen Sprüngen vorkommt.

SPÄTER

1942 Ernst Mayr veröffentlicht Systematik und Ursprung der Arten und definiert eine Art als eine Gruppe von Organismen, die reproduktiv isoliert ist: Ihre Mitglieder können sich nur untereinander fortpflanzen.

»Evolution … ist das stärkste und umfassendste Konzept, das jemals auf der Erde entwickelt wurde.«

Julian Huxley

(1887–1975)

Im 19. Jahrhundert entstanden zwei der wichtigsten Theorien der Biologie: die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion von Charles Darwin und Alfred Russel Wallace sowie die Theorie von Gregor Mendel, dass Vererbung über Teilchen erfolgt, die man heute Gene nennt. Zusammen konnten diese Konzepte die Geschichte des Lebens auf der Erde erklären. Anfangs jedoch waren sich die jeweiligen Befürworter nicht einig.

In den Jahrzehnten nach Veröffentlichung von Darwins Die Entstehung der Arten akzeptieren die meisten Biologen, dass sich Arten aus einer gemeinsamen Abstammung entwickelten. Wenige waren hingegen von der natürlichen Selektion überzeugt. Nach Darwin erfolgte Evolution durch Selektion sehr geringer Veränderungen graduell, also in einem allmählichen Prozess. Für ihn waren plötzliche, große Änderungen – etwa Albinos – Abweichungen und nicht signifikant. Andere – sogar sein mächtiger Verbündeter, der bitische Biologe Thomas Huxley – meinten, es sei falsch, über solche Phänomene hinwegzusehen. Als Mendels Theorie der Vererbung im Jahr 1900 wiederentdeckt worden war, wurde sie wichtig für Darwins Kontrahenten. Mendel hatte gezeigt, dass einzelne Merkmale wie die Schotenfarbe seiner Erbsen durch vererbte Einheiten entstanden. Dies überzeugte Darwins Gegner, dass seine Theorie der graduellen Selektion falsch war.

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Mutationen

Der britische Genetiker William Bateson veröffentlichte 1894 eine umfassende Studie zum aktuellen Wissen über genetische Variation. Er pochte darauf, dass typische vererbte Variationen nicht kontinuierlich eintreten. Vielmehr entstünden weiche, kontinuierliche Variationen – die nach Darwin die natürliche Selektion antrieben – durch Einflüsse der Umwelt. Weil Bateson Mendels Arbeit nicht kannte, hielt er diese Unstetigkeit für unvereinbar mit Darwins Theorie. Er glaubte stattdessen, dass Evolution in großen Sprüngen erfolgte – diese Denkschule wird Saltationismus genannt. Als Mendels Arbeit 1900 wieder aufkam, sah Bateson sie als Beweis seiner Sichtweise an.

In Holland schlug der Saltationist Hugo de Vries vor, dass neue Arten durch ein spontanes Auftreten neuer Varianten entstünden, die er Mutationen nannte. Seine Arbeit, die zwischen 1900 und 1903 erschien, war äußerst einflussreich, auch wenn sie zum größten Teil auf nur einer Pflanzenart beruhte, der Nachtkerze. Der Saltationismus spornte Forscher an, die Vererbung durch Zuchtexperimente zu untersuchen. Doch die Feldforscher in Darwins Tradition sahen überall graduelle Variation – und viele betrachteten sie als Widerlegung der Erbgesetze Mendels.

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Die Nachtkerzen (Oenothera) sah Hugo de Vries als Beweis an, dass Evolution sprunghaft abläuft. Die meisten Arten der Nachtkerzen haben gelbe Blüten, nur Oenothera rosea blüht rosa.

Populationsgenetik

Die besten Voraussetzungen zur Lösung dieses Problems hatten etwa Genetiker mit naturgeschichtlichem Wissen. In Schweden zeigte der Pflanzentaxonom Herman Nilsson-Ehle, dass einzelne nach Mendel vererbte Gene in komplexer Weise interagierten. Dadurch kamen die von ihnen gesteuerten Merkmale nicht immer getrennt zum Vorschein. Um zu verstehen, wie Evolution tatsächlich abläuft, mussten Biologen also die Gene in ganzen Populationen und nicht nur in Experimenten untersuchen.

Viele Genetiker nutzten den mathematischen Ansatz von Mendel und untersuchten Gene in Populationen auf mathematische Weise. Sobald sie ein Gen für ein Merkmal identifiziert hatten, konnten sie feststellen, wie verbreitet es in einer Population war – und wie sich dies von einer Generation zur nächsten veränderte. Zu den Pionieren zählten die britischen Mathematiker Godfrey Hardy und der deutsche Physiker Wilhelm Weinberg. Sie bewiesen 1908 unabhängig voneinander mathematisch, dass – in einer großen Population – nicht die Vererbung allein die Genfrequenzen veränderte. Evolution finde nur dann statt, wenn etwas das genetische Gleichgewicht störte. Die Vorstellung, dass genetische Variation ohne beeinflussende Faktoren konstant bleibt, wurde als Hardy-Weinberg-Gleichgewicht bekannt.

Dieses Prinzip ermöglichte es, Änderungen von Genfrequenzen von einer Generation zur nächsten zu berechnen. Ein Gen, das etwa die Fellfarbe bestimmt, kann verschiedene Formen (Allele) für braunes oder weißes Fell annehmen. In einer Population könnten anfangs beide Formen gleichmäßig verteilt sein: jeweils 50 Prozent für braunes und weißes Fell. Nach mehreren Generationen könnten die Allelfrequenzen bei 30 Prozent braun und 70 Prozent weiß liegen. Die Population hat sich entwickelt und die natürliche Selektion wohl weißes Fell bevorzugt.

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Der Eisbär ist ein gutes Beispiel für die Anpassung einer Art an ihre Umwelt. Sein dickes weißes Fell wärmt und tarnt ihn und bietet ihm einen Vorteil, wenn er Beute jagt.

Kombinierte Effekte

Der britische Mathematiker Harry Norton fand 1915 heraus, dass sogar ein Gen mit nur winzigen Vorteilen zu einer großen Veränderung in einer Population führen kann. Der britische Genetiker und Statistiker Ronald Fisher ging 1918 einen Schritt weiter. Er wusste, dass Gene auf komplexe Weise interagieren, und zeigte, wie der kombinierte Effekt vieler Gene zu einer weichen, kontinuierlichen Variation führte – etwa bei der Körpergröße oder Pigmentfarbe – und kleine Unterschiede entstanden, sodass Darwins natürliche Selektion wirken konnte. Fishers Arbeit hatte einen großen Anteil daran, dass die Ansicht, die Theorien von Mendel und Darwin seien unvereinbar, revidiert wurde.

Allelfrequenzen können sich durch Evolution ohne Anpassung ändern

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»Natürliche Selektion hängt von einer Reihe günstiger Zufälle ab.«

Ronald Fisher

(1890–1962)

Eine weitere Schlüsselfigur bei der Annäherung beider Denkschulen war der russische Biologe Sergei Tschetwerikow. Er stellte die Bedeutung der Genmutation heraus – neue Gene entstanden beispielsweise durch fehlerhafte DNA-Replikation – bevorzugte aber den Begriff »Genovariation«. Auch wenn dadurch nicht automatisch neue Arten entstünden, wie de Vries es sich vorstellte, könnten Mutationen einen subtileren Einfluss ausüben. Einige waren in größerem oder geringerem Maße nützlich oder schädlich. Viele waren rezessiv – ein Begriff, den Mendel für Allele prägte, die gegenüber dominanten Allelen nicht zur Ausprägung eines Merkmals führen. Treten sie aber paarweise auf, bestimmen sie das Merkmal. Alles in allem war die genetische Variation in Populationen viel größer als jemals gedacht, nicht einmal von Darwin. Dies erhöhte das Potenzial für Evolution.

Evolution ohne Anpassung

Natürliche Selektion ist nicht der einzige Mechanismus für genetische Veränderung. Es wirken auch andere Faktoren wie Mutationen und Migration (der Gentransfer von einer Population zu einer anderen). Ein weiterer Faktor ist die genetische Drift, die der amerikanische Genetiker Sewall Wright 1931 beschrieb. Da jede Generation Gene ihrer Eltern erbt und Überleben und Fortpflanzung des Individuums vom Zufall abhängen, können diese Faktoren zu geringen Änderungen der Allelfrequenz führen. In sehr kleinen Populationen kann die Änderung in wenigen Generationen wesentlich sein. Winzige Populationen, etwa auf Inseln, können rein zufällig eine schnelle Evolution erleben.

Migration, Mutation und Drift sind zufällige Prozesse. Dagegen hängt die Selektion von den Merkmalen eines Organismus und seiner Umwelt ab. Sie ist der einzige evolutionäre Mechanismus, der zufriedenstellend Anpassung erklärt – etwas, das überall in der Natur sichtbar ist. Sie ist ein starker Beweis für Darwins natürliche Selektion.

Eine neue Synthese

Die neuen Sichtweisen zum Wirken von Evolution führten 1937 zur Veröffentlichung von Genetik und der Ursprung der Arten von Theodosius Dobzhansky, einem russisch-amerikanischen Biologen, mit folgenden Kernkonzepten: Evolution geschieht allmählich mit geringen genetischen Änderungen, größtenteils durch natürliche Selektion. Neue Arten entstehen, wenn Populationen reproduktiv isoliert sind – also genetisch so verschieden, dass sie sich nur innerhalb der Gruppe paaren. In den 1940er-Jahren wurde der Saltationismus zugunsten dieser umfassenderen Synthetischen Evolutionstheorie – wie sie der britische Biologe Julian Huxley 1942 bezeichnete – aufgegeben. image

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Die Galapagos-Riesenschildkröte ist ein Beispiel schneller Evolution, die auf kleinen Inseln vorkommen und zu extremen Merkmalen führen kann.

Genpools

Evolution findet in Populationen statt, wenn sich ihre genetische Zusammensetzung im Lauf von Generationen ändert. Sie kommt nicht bei Individuen vor, weil das individuelle Genom zum größten Teil unverändert bleibt. Obwohl sich die Mitglieder einer Art dieselbe Sorte von Genen teilen, existieren verschiedene Varietäten, die Allele, von jedem Gen für bestimmte Merkmale (wie gelbe oder grüne Erbsenschoten). Neue Allele entstehen, wenn Gene mutieren. Populationen mit einem großen Anteil genetischer Vielfalt – oder verschiedenen Allelen – haben einen großen Genpool. Während sich eine Art entwickelt, ändert sich die relative Häufigkeit oder Frequenz verschiedner Allele.

Forscher vergleichen manchmal den Genpool einer Population mit einem Sack farbiger Bohnen, in dem die Farben verschiedene Allele darstellen und eine zufällige Probe repräsentiert die nächste Generation. Diese »Bohnensackgenetik« ist ein nützlicher Weg, um evolutionäre Veränderung darzustellen.

Die Einheit der Evolution

Die Arbeit von Ronald Fisher und anderen Genetikern konzentrierte sich darauf, dass bestimmte Gene durch natürliche Selektion bevorzugt oder dezimiert werden. Sie bezeichneten daher Gene als die bedeutende Einheit der Evolution. Dies half zu verstehen, wie sich die genetische Ausstattung einer Populationen auf komplexe Weise von einer Generation zur nächsten änderte. Auf die Spitze trieb dies 1976 der britische Biologe Richard Dawkins mit der Theorie des »Egoistischen Gens«. Danach wird das Verhalten eines Organismus von seinen Genen bestimmt. Andere Biologen wie der deutschstämmige Amerikaner Ernst Mayr behaupteten hingegen, diese Sicht sei nicht die triftigste. Für sie ist der individuelle Organismus die wichtigste Einheit der Evolution. Gene funktionierten nicht isoliert. Nur das Individuum antworte auf Einflüsse seiner Umwelt und trage zur nächsten Generation bei.