IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Ernst Mayr (1904–2005)
FRÜHER
1859 In Die Entstehung der Arten legt Charles Darwin dar, Arten entwickeln sich durch natürliche Selektion.
1930er Die Synthetische Evolutionstheorie verbindet Darwins Theorie der natürlichen Selektion mit Gregor Mendels Theorie zur Vererbung.
1937 George Ledyard Stebbins jr. beschreibt, wie neue Pflanzenarten durch Chromosomenmutation entstehen.
SPÄTER
1951 Der amerikanische Paläontologe George Simpson beschreibt eine Art als evolutionäre Abstammungslinie, die über die Zeit erhalten bleibt.
1976 Das egoistische Gen des Biologen Richard Dawkins macht die genzentrierte Evolution populär – natürliche Selektion auf genetischer Ebene.
Charles Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Selektion, veröffentlicht in Die Entstehung der Arten, liefert eine schlagkräftige Erklärung, wie sich Leben graduell über viele Generationen verändert. Aber sie beleuchtet nur wenig den Prozess der Artbildung – wie sich neue Arten aus alten entwickeln.
Kleine Variationen in den Arten geben einen Hinweis auf den möglichen Vorgang. Der deutsche Zoologe Constantin Gloger bemerkte 1833, dass Vogelarten in den warmen, feuchten Tropen gewöhnlich dunkleres Gefieder hatten als in kühleren, trocken-gemäßigten Regionen – später bekannt als glogersche Regel. Sie eröffnete die Möglichkeit, diese geografischen Varianten als neu entstehende Arten anzusehen. Darwin und der britische Biogeograf Alfred Russel Wallace glaubten, dass geografische Trennung ein Schlüssel zur Entstehung neuer Arten war, sie zweifelten aber, ob das immer der Fall war.
Darwin war überzeugt, dass geografische Isolation der Grund für die Evolution auf Inseln sein konnte, und die moderne DNA-Analyse bestätigte dies. Darwinfinken beispielsweise sind eng verwandt mit Vogelarten auf dem südamerikanischen Festland und in der Karibik. Vor mindestens zwei Mio. Jahren überquerten Vorfahren der Arten das Meer, besiedelten die Galapagosinseln und entwickelten sich nach und nach zu den Darwinfinken. DNA-Analysen zeigten zudem, dass auch durch Gebirgszüge oder andere physische Barrieren getrennte Tierpopulationen sich zu eigenen Arten entwickelten.
Polarwolf und Timberwolf sind zwei Unterarten des grauen Wolfs. Trotz physischer Unterschiede lassen sie sich kreuzen, in der Zukunft könnten sie aber auch getrennte Arten bilden.
Wenn die Population einer Art durch eine physische Barriere getrennt wird, entwickeln sich zwei Populationen auf verschiedenen Wegen – etwa durch Selektion oder Drift – und werden so zu unterschiedlichen Arten.
Geografische Isolation allein erklärt nicht das Aufkommen neuer Arten. Der gebürtige Deutsche und amerikanische Biologe Ernst Mayr entwickelte 1942 ein neues biologisches Artkonzept. Danach pflanzen sich Mitglieder einer Art immer mit ihren Artgenossen fort und kreuzen sich nur äußerst selten mit anderen. Er erklärte auch, dass Artbildung die Evolution neuer Merkmale beinhalten muss, die einige Individuen der Art daran hindern, sich untereinander zu vermehren. Ein Vogel etwa könnte als reproduktiven Isolationsmechanismus ein leicht unterschiedliches Balzverhalten entwickeln, das von einigen Mitgliedern seiner Art nicht erkannt wird.
Mayr glaubte, dies finde sehr wahrscheinlich statt, wenn eine Population entlang geografischer Linien getrennt wird. Die beiden neuen Populationen auf jeder Seite der Barriere entwickeln sich unterschiedlich weiter. Schließlich können die Unterschiede so groß sein, dass bei einer erneuten Begegnung sich Individuen verschiedener Seiten nicht mehr miteinander fortpflanzen können. Aus ihnen sind zwei getrennte Arten geworden.
Obwohl bei vielen gut untersuchten Gruppen anerkanntermaßen den graduellen Effekten der geografischen Trennung die tragende Rolle bei der Artbildung zukommt, ist sie nicht der einzige Grund für Evolution. In den 1930er-Jahren beschrieb der amerikanische Botaniker George Ledyard Stebbins jr., wie neue Pflanzenarten durch plötzliche Mutationen entstehen. Er veröffentlichte diese These 1950 in seinem Buch Variation und Evolution in Pflanzen.
Bei vielen Pflanzen kommt es zu einer spontanen Vervielfältigung der Chromosomenzahl, der Polyploidie. Bei Tieren endet dies häufig tödlich, für einige Pflanzen ist sie vorteilhaft. Innerhalb nur einer Generation wird so verhindert, dass sich die Pflanze mit der elterlichen Art kreuzt. Polyploidie ist bei Pflanzen sehr häufig, vermutlich ist mindestens ein Drittel der Blütenpflanzenarten so entstanden.
Artkonzepte
Über Jahrhunderte hielten Naturforscher Lebensformen für die gleiche Art, wenn sie bestimmte physische Merkmale gemeinsam hatten (Morphologie). Im 17. Jahrhundert erkannten Biologen, dass dieses Konzept viele Einschränkungen besaß: Die Geschlechter können verschieden groß und farbig sein, viele Tiere ändern durch Metamorphose ihre Körperform. Im 19. Jahrhundert machten Gloger, Darwin und andere auf die natürliche Variation in Tierpopulationen, die sich miteinander vermehren, aufmerksam – und wie sie zentral für die Evolution ist. Mayrs biologisches Artkonzept – bei dem verschiedene Arten reproduktiv isoliert sind – ging in diese Richtung. Doch es berücksichtigte nicht alle Umstände, etwa Organismen, die sich asexuell vermehren. Die meisten Biologen nutzen heute das phylogenetische Artkonzept, bei dem eine Gruppe von Organismen mit einem gemeinsamen Vorfahren eine Art bildet.