IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUR
Willi Hennig (1913–1976)
FRÜHER
1753, 1758 Carl von Linnés Pflanzenarten und System der Natur bilden den Beginn der hierarchischen Klassifizierung und Benennung der Arten.
1859 Charles Darwins Die Entstehung der Arten liefert Belege für die evolutionäre Verwandtschaft von Arten.
1939 Alfred Sturtevants Klassifikation einer Fruchtfliegenart gemäß mehrfach korrelierter Merkmale ist ein Wegbereiter der numerischen Taxonomie, die in den 1950er- und 1960er-Jahren verbreitet war.
SPÄTER
1968 Der Japaner Motoo Kimura begründet die neutrale Theorie der molekularen Evolution: Ein Großteil genetischer Variation entsteht durch Mutationen mit konstanter Rate.
In seinem Buch Die Entstehung der Arten schlägt Charles Darwin vor, Arten nach ihrer evolutionären Verwandtschaft zu klassifizieren. Um diese Verwandtschaft aufzudecken, sollten sichtbare Merkmale verschiedener Arten verglichen werden. Er räumte aber ein, dass einige Merkmale wichtiger als andere sind – und dass einige sogar irreführend sind. Eine knöcherne Wirbelsäule identifiziert Wirbeltiere als Nachkommen gemeinsamer Vorfahren. Flügel jedoch haben sich unabhängig voneinander in verschiedenen Tiergruppen, etwa Vögeln, Fledermäusen und Insekten, entwickelt.
Biologen wussten, dass die Wahl der Merkmale in der Taxonomie (Artenklassifikation) wie auch ihre Gewichtung subjektiv waren. Der amerikanische Genetiker Alfred Sturtevant nutzte 1939 ein streng numerisches System, um Arten der Fruchtfliege zu klassifizieren. Er analysierte 27 Merkmale bei 42 Arten, um herauszufinden, welche Merkmale korrelierten, was auf eine genetische Verwandtschaft hinwies. Die 42 Arten teilten sich klar in drei große Gruppen.
Gestützt durch spätere Studien, gewann dieser quantitative Versuch der Klassifikation nach umfassenden Ähnlichkeiten – die Phänetik – an Einfluss. Nach der Erfindung der Computer konnten Biologen in den 1950er-Jahren enorme Datenmengen aus größeren taxonomischen Gruppen verarbeiten. Die Technik gipfelte 1963 in der Veröffentlichung von Prinzipien der numerischen Taxonomie der Biologen Robert Sokal und Peter Sneath.
Die Flügel von genetisch nicht verwandten Arten sehen gleich aus, entwickelten sich aber separat. Flügel von Fledermäusen und Vögeln entstanden aus knöchernen Händen, Insektenflügel dagegen sind keine Extremitäten.
In diesem Kladogramm lebender Landwirbeltiere sind Vögel als Untergruppe der Reptilien klassifiziert, weil Vögel von reptilischen Dinosauriern abstammen und ihre engsten, lebenden Verwandten Krokodile sind. Doch die traditionelle Klasse moderner Reptilien umfasst keine Vögel.
Während sich statistische Techniken der numerischen Taxonomie als nützlich erwiesen, betrachtete die phänetische Methode nicht explizit Nachweise einer evolutionären Abstammung. Dies erreichte eine rivalisierende Schule der Klassifikation. Der deutsche Zoologe Willi Hennig veröffentlichte 1950 seine Arbeit über die phylogenetische Systematik. Er nahm an, dass Evolution durch Verzweigung erfolgte, bei der sich eine Art in zwei aufspaltet. Die Verzweigungspunkte, die einen hypothetischen gemeinsamen Vorfahren präsentieren, folgten aus Beobachtungen vererbbarer Merkmale. Nach Hennig sollten alle Arten mit einem gemeinsamen Vorfahren – einschließlich des Vorfahren – eine Gruppe oder Klade bilden. Die evolutionäre Geschichte wird in einem phylogenetischen Baum oder Kladogramm abgebildet. Hennigs Methode, die Kladistik, ist heute das maßgebliche System und geprägt durch komplexe Methoden der Datenanalyse. Mehrfache DNA-Sequenzen etwa gelten als verlässlicherer Indikator für die Abstammung als die Morphologie (Form und Aufbau von Organismen) allein.
Trotz ihrer angeblichen Objektivität weist die kladistische Methode auch Probleme auf. Arten teilen sich nicht immer zweigliedrig und einige Abstammungslinien entwickeln sich schneller als andere. Der Verzweigungspunkt des Ursprungs aller Vögel etwa liegt im Stammbaum der Reptilien, sodass aus kladistischen Gründen Vögel eine Untergruppe der Reptilien sind. Aber auffällige Merkmale, die Vögel innerhalb eines vergleichbar kurzen Zeitraums entwickelten – wie Gefieder und zahnloser Schnabel –, rechtfertigen es, sie als eigenständige Gruppe getrennt von Reptilien zu klassifizieren. Obwohl in jüngster Zeit ein Trend zu kladistischen Gruppen existiert, bleiben andere, traditionellere Klassifikationsgruppen weiterhin beliebt.
»Die Kladistik wurde begründet durch die [Notwendigkeit], Subjektivität und Willkür aus der Klassifizierung zu entfernen.«
Ernst Mayr
Amerikanischer Biologe (1904–2005)
Kladistische Terminologie
Als Willi Hennig sein System zur Klassifizierung von Organismen beschrieb, erfand er eine neue Terminologie. Nachdem die Kladistik breitere Akzeptanz erfuhr, übernahmen Biologen einige Begriffe, sie gehören heute zum Lexikon der Systematiker. Zwei Schlüsselbegriffe sind »Apomorphie« und »Plesiomorphie«. Ersteres ist eine evolutionäre Innovation – ein Merkmal, das man bei den Vorfahren nicht findet – nützlich, um Gruppen zu definieren. Letzteres ist ein Merkmal der Vorfahren, das wenig über die Verwandtschaft innerhalb der Gruppe verrät. Systematiker bestimmen Merkmale über Außengruppen – entfernter verwandte Arten. Bei Primaten etwa sind Fingernägel eine Apomorphie, einzigartig für diese Ordnung. Behaarte Haut ist eine Plesiomorphie, weil sie auch in Außengruppen von Säugetieren wie Nagetiere oder Hunde vorkommt.