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EIN WETTLAUF ZWISCHEN BEUTE- UND RÄUBERARTEN

RÄUBER-BEUTE-BEZIEHUNG

IM KONTEXT

SCHLÜSSELFIGUREN

Alfred J. Lotka (1880–1949),

Vito Volterra (1860–1940)

FRÜHER

1910 Alfred J. Lotka schlägt ein mathematisches Modell vor, um Populationsfluktuationen bei Räuber-Beute-Gruppen vorherzusagen.

1920 Der sowjetische Mathematiker Andrei Kolmogorow wendet Lotkas Modell auf Pflanzen-Herbivoren-Wechselbeziehungen an.

SPÄTER

1973 Der amerikanische Biologe Leigh Van Valen erklärt mit der Red-Queen-Hypothese das »Wettrüsten« zwischen Räubern und Beute.

1989 Die Ökologen Roger Arditi und Lev R. Ginzburg führen die Arditi-Ginzburg-Gleichung ein, die die Auswirkung des Verhältnisses zwischen Räuber und Beute umfasst.

Ein Räuber, oder Prädator, ist ein lebender Organismus, der andere lebende Organismen frisst, die Beutetiere. Die Wechselbeziehung zweier Arten in derselben Umwelt entwickelt sich mit der Zeit, weil sich die Arten über Generationen gegenseitig beeinflussen. Dabei bevorzugt die natürliche Selektion physische, physiologische und verhaltensmäßige Anpassungen, die zu erfolgreicheren Räubern oder zu sich besser verteidigenden Beutetieren führt.

Beide Arten befinden sich tatsächlich in einem evolutionären Wettlauf. Das beeinflusst den Erfolg und damit das Überleben jeder Art sowie die Fitness ihrer Populationen. Wenn die Zahl der Beutetiere steigt, haben Räuber mehr Nahrung, und ihre Population steigt ebenfalls an. Eine größere Zahl von Räubern führt zur Abnahme der Beutepopulation, nach kurzer Zeit sinkt die Zahl der Räuber ebenfalls. Diese Fluktuationen der Räuber- und Beutepopulationen erfolgten manchmal in erkennbaren Zyklen, die Monate oder sogar Jahre dauern können.

»Die Beuteart kann daher von der Räuberart nicht ausgerottet werden, unter den Voraussetzungen, auf die Gleichungen sich beziehen.«

Alfred J. Lotka

Elements of Physical Biology, (1925)

Mathematik und Ökologie

Regelmäßige Populationsschwankungen, die Oszillationen, wurden zuerst in den 1920er-Jahren durch den amerikanischen Mathematiker Alfred J. Lotka und den italienischen Mathematiker Vito Volterra formalisiert. Beide entwickelten nahezu gleichzeitig, aber unabhängig voneinander Gleichungen, die Lotka-Volterra-Gleichungen. Mit ihnen wurden Änderungen in den Räuber-Beute-Populationen im Verhältnis zueinander beschrieben. Lotka führte sie zuerst in seinem Buch Elemente der physischen Biologie 1925 ein. Volterra veröffentlichte seine Schlussfolgerungen ein Jahr später. Das Lotka-Volterra-Modell setzte jedoch voraus, dass die Umwelt sich nicht verändert. Auch sollten Beutetiere jederzeit ausreichend Nahrung finden und Raubtiere einen unbegrenzten Hunger haben und nie ihre Jagd einstellen. Die Umwelt hatte dabei auf beide Arten keinen Einfluss.

Prüfung der Theorie

Räuber-Beute-Zyklen beruhen auf einer Nahrungsbeziehung zwischen zwei Arten. Weil Räuber ihre Beute fressen, besteht die Gefahr, dass sie ihre Nahrungsgrundlage vernichten und ihr Überleben riskieren. Wenn sie aber weniger effektiv Beute jagen, kann sich die Beutepopulation erholen, während die Zahl der Räuber sinkt. Selbst wenn die Räuber-Beute-Zyklen durch zufällige Schwankungen unterbrochen werden, kehren sie nach den Lotka-Volterra-Gleichungen immer zu ihrem normalen Rhythmus zurück, und ein neuer Zyklus beginnt. Doch wie lange diese möglicherweise endlosen Zyklen dauern, wurde bislang noch nicht geklärt.

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Gepard und Gazelle sind in einem evolutionären Wettlauf gefangen. Geparden können sehr schnell laufen, um Gazellen zu jagen, die aber plötzlich ihre Laufrichtung ändern können.

Unter Leitung des deutschen Physikers Bernd Blasius prüften Forscher an Universitäten in Kanada und Deutschland, mittels mathematischer Modellierungen, ob Räuber-Beute-Zyklen in realen Gemeinschaften erhalten bleiben. Dazu beobachteten sie die winzigen Süßwasserorganismen Rädertierchen (Räuber), die Algen (Beute) fressen. Vorherige Studien waren auf wenige Zyklusperioden beschränkt, aber in diesem Experiment beobachteten sie über zehn Jahre die Populationsschwankungen über 50 Zyklen und etwa 300 Generationen. Das Team bestätigte 2019 das Konzept der langfristigen, selbst erzeugten Räuber-Beute-Zyklen. Obwohl die Bedingungen konstant waren, wurden regelmäßige Schwankungen durch kurze, irreguläre Perioden ohne erkennbare externe Einflüsse unterbrochen. Die Forschung, wie externe Faktoren berücksichtigt werden können, dauert an. Die Studie bewies, dass Räuber-Beute-Zyklen in ihren Urzustand zurückkehren können. image

Wölfe auf der Isle Royale

Die Isle Royale, eine Insel im Oberen See (USA), ist die Heimat zweier Arten, deren Leben untrennbar verbunden sind: Wölfe (Räuber) und Elche (Beute). Sie werden seit 1958 genau beobachtet, in der längsten, kontinuierlichen Studie eines Räuber-Beute-Systems. Mit dem Lotka-Volterra-Modell wurde versucht, die Populationsschwankungen der beiden Arten zu beschreiben, aber die Dynamik ist zu kompliziert. Sowohl die Jagd der Wölfe als auch andere Aspekte wie harte Winter, wenig Nahrung und ein Zeckenausbruch haben die Elchpopulation beeinflusst. Dies und andere Faktoren führten zu einer Abnahme der Wolfszahl. Eine alternde Wolfspopulation, Hundeparvovirus und eine Fehlbildung der Wirbelsäule durch Inzucht resultierten in einem drastischen Rückgang.

Die Wölfe drohten 2012 auszusterben, bis ein Wolf aus Kanada den Genpool auffrischte. Kurz gefasst, Aufstieg und Fall der Wolfs- und Elchpopulationen auf der Isle Royale sind nicht vorhersagbar.