Ein deutscher Literaturkanon ohne Goethes Faust ist nicht vorstellbar. Zum Lektüreprogramm der gymnasialen Oberstufen gehört selbstverständlich Faust. Auf der Expo 2000 in Hannover inszenierte Peter Stein den gesamten Faust, die beiden Teile der Tragödie. Faust-Zitate sind Bestandteil der Alltagskultur, die Theater nehmen regelmäßig den Faust in ihre Spielpläne auf. Zugleich fragen die Schüler interessiert danach, ob denn nicht der Faust behandelt werden könne: die Zentralstellung dieses Werks in unserem kulturellliterarischen Kosmos ist unbestritten.
Dabei ist Goethes Drama nicht leicht zu verstehen, seine Organisation ist kompliziert, und die Spuren der verschiedenen Entstehungsstufen sind noch zu erkennen. Die ersten Szenen des Faust I hängen ohne den Faust II gleichsam in der Luft, und der Tragödie erster Teil endet für den Leser bzw. den Zuschauer unbefriedigend. Faust, der alte und an der Wissenschaft verzweifelnde Gelehrte, hat sich mit dem Teufel verbündet. Das hat den Stubenhocker seelisch und körperlich verlebendigt. Faust hat sich verliebt und seine Geliebte zugrunde gerichtet. Während sie im Gefängnis auf den Henker wartet, flieht Faust mit Mephisto. So lassen sich die beiden Hauptteile des Faust I, die »Gelehrten-Tragödie« und die »Gretchen-Tragödie«, kurz zusammenfassen. Wie die am Beginn ihrer Zusammenarbeit zwischen Faust und Mephisto geschlossene Wette ausgeht, bleibt in Faust I ebenso ungeklärt wie die Frage, ob Gott oder der Teufel im Spiel um Faust die Oberhand behalten. So gilt für den Faust I von vornherein: der Vorhang zu und viele Fragen offen!
Der zweite Teil des Faust sprengt alle gewohnten Dimensionen: in fünf Akten ohne erkennbaren Handlungsfortschritt führt Faust zunächst am Kaiserhof des ausgehenden Mittelalters die moderne Geldwirtschaft ein, dann steigt er zu den »Müttern« hinab und beschwört das Idealbild der antiken Helena. In der Klassischen Walpurgisnacht vergegenwärtigt sich die griechische Antike, Faust begegnet Helena und ist vom klassisch Schönen fasziniert. Dann tritt er als Feldherr auf, der die Waffentechnik revolutioniert. Und schließlich ist er ein imperialistisch handelnder Kaufmann, der mit teuflischer Kraft die ganze Welt ausplündert und die Natur, wo sie noch widrig zu sein scheint, niederzwingen will. Wieder geht sein Weg über Leichen, aber der erblindete Faust begeistert sich an der Vision, dass er durch Technik und Naturbeherrschung einem freien Volk offenen Raum für eine lebenswerte Zukunft schaffen könnte. So begeistert-verblendet stirbt er, Mephisto scheint damit sein Ziel, Faust für sich zu gewinnen, erreicht zu haben. Doch dann entreißen die himmlischen Heerscharen dem Teufel Fausts Seele, die im Läuterungsprozess himmelwärts getragen wird.
In diesem Gesamtzusammenhang stehen die Szenen von Faust I.
Von dem bekannten Goethe-Biographen Richard Friedenthal stammt die Sentenz: »Der Faust hat den Sinn, den der Betrachter ihm verleiht.«
Das vorliegende Heft möchte als »Lektüreschlüssel« zu Goethes Faust I Anregungen dazu geben, den Text so gut zu verstehen, um dem Faust einen eigenen Sinn verleihen zu können.