Faust: Doktor Heinrich Faust, wie Goethe ihn zeichnet, ist kein individueller Charakter. Seine Entwicklung entzieht sich dem individualpsychologischen Verstehen. Faust muss vielmehr als kollektive Gestalt, als Inbegriff und Repräsentant der Entwicklungsmöglichkeiten des neuzeitlichen Menschen begriffen werden.
Er verkörpert zunächst den Gelehrtentyp des ausgehenden Mittelalters und ist in allen vier Fakultäten der spätmittelalterlichen Universitätsbildung bewandert. In seiner Hinwendung zur Magie entspricht er dem Faust-Bild, wie es die Tradition der Volksbücher im 16. und 17. Jahrhundert geformt hatte. Zugleich nimmt Goethes Faust Züge des Paracelsus (1493–1541) auf; dieser Denker hat platonische philosophische Spekulation und christlich-mystisches Denken miteinander verbunden und die Lehre der Pansophie (der »Allweisheit«) in Deutschland begründet. In der Bibelübersetzung nimmt Faust die Züge Luthers an, und später in Faust II erscheint er zunächst wie ein neuerschaffener Adam (»Anmutige Gegend«); dann bekommt er Züge des Finanzspekulanten John Law (der durch seine Manipulationen in Frankreich das Ancien Régime vor der Französischen Revolution destabilisierte); wie ein John Drake betreibt er Politik und Ökonomie im Piratenstil, und wie der Graf Saint-Simon entwirft er eine sozialistische Utopie, als deren Kern Goethe prophetisch die Sklavenarbeit eines KZ- oder Archipel-Gulag-Systems herausgearbeitet hat (5. Akt).
Im Faust I repräsentiert Faust einen Wissenschaftler, der sich vom Leben und der Natur isoliert sieht. So wie Jean-Jacques Rousseau (1712–78) der beginnenden Arbeitsteilung und dem Spezialistentum in den Wissenschaften sein »Zurück zur Natur!« entgegenstellte, so sehnt sich Faust nach der Erfahrung der Ganzheit und des Lebendigen. In der ersten Szene (»Nacht«) wechselt seine Stimmung mehrfach schlagartig: extreme Verzweiflung wird von elektrisierter Erwartung neuer Erfahrungen abgelöst, Klagen über das Altern und das Eingetrocknetsein schlagen um in Hoffnungsvisionen, in denen sich Faust verjüngt und neu begeistert sieht. Das dumpf-melancholische Vor-sich-Hinbrüten ist der Nährboden für den kreativen Impuls und die geniale Idee. Dieses Phänomen war von Marsilio Ficino (1433–1499) beobachtet und beschrieben worden. Diesen in der Renaissance als typisch entdeckten Zusammenhang von Genialität und depressiver Melancholie verkörpert Faust auf beispielhafte Weise. Sowohl seine Neigung zum Freitod als auch sein Verständnis vom Tod als Befreiung gehören in diesen Kontext. Seine Unzufriedenheit mit dem Gegebenen und die Unbedingtheit, mit der er »Anderes« will (Leben, Fülle der Natur, Entgrenzung, Übermenschentum), öffnet ihn für das Spiel des Teufels. Faust kann von sich aus dem Erdgeist, d. h. der Fülle der Natur und ihrem ewigen Wechselspiel, nicht standhalten; er, der sich so hoch hinaufschwingen wollte, kann den Geist nicht festhalten und bleibt »zusammenstürzend« (V. 514) zurück. Wenn er nur könnte, so nähme er jede Hilfe an, um seiner verfluchten Situation (V. 1587–1606) zu entkommen: Das ermöglicht Mephisto den Eintritt in Fausts Leben. Das Böse lauert in Faust selbst. In der Seele Fausts ist der Wunsch da, die individuellen und irdischen Beschränktheiten gewaltsam und zur Not auch auf widergöttliche und destruktive Weise zu überschreiten, und dieser Wunsch nimmt in Mephisto Gestalt an. (Wenn einmal eine etwas schwierigere Begrifflichkeit erlaubt ist, kann man das Ausgeführte knapp zusammenfassen:) Der Böse ist die metaphysische Metapher für eine psychische Valenz in Faust.
Es gelingt Faust (mit Mephistos Hilfe) sich »dreißig Jahre […] vom Leibe« (V. 2342) zu schaffen. Der Aufbruch in ein Leben außerhalb der Studierstube und jenseits der Bücher verjüngt und belebt den vertrockneten Gelehrten. Sexuelle Begierde und erotische Phantasien beflügeln den Mann (V. 2558), der zwischen 50 und 60 Jahre alt war und nun wie ein junger Herr auftreten kann. Mit galanter Liebenswürdigkeit tritt er auf Gretchen zu und gewinnt ihr Herz. Aufmerksam kann er ihr zuhören und behutsam lässt er sich auf die von ihr erwiderte Liebe ein. Zugleich ist Gretchen für ihn, wie es Mephisto unverhohlen sagt (V. 2603 f.), die Erstbeste und reines Objekt seiner geilen Begierde (V. 2619, 2627). Als der erste Kuss getauscht ist und Gretchen ihre Liebe offen bekannt hat, sieht Faust die Gefahr, die aus dieser ungleichen Beziehung für das Mädchen entsteht, und will sich zurückziehen (»Wald und Höhle«). Voller Dankbarkeit reflektiert er auf das Erlebte und sieht in ihm ein Geschenk des Erdgeists, der Lebensenergie selbst (V. 3217). Doch dem verjüngten Mann, dem erotisch entflammten kecken Herrn, dem vor Begierde Schmachtenden (V. 3250) gelingt der Rückzug nicht. In obszöner Metaphorik (also in bildhafter Sprache, die von Fausts seelischem Zustand, von seiner Verschmelzung mit dem Weltganzen zu sprechen scheint und in Wirklichkeit die männliche Aktivität bei einem Geschlechtsakt wiedergibt) beschreibt Mephisto zutreffend Fausts körperliche Verfassung (V. 3285, 3289, 3291) und hält ihm Gretchens Sehnsucht vor, mit dem Ergebnis, dass Faust seinen Geborgenheitsraum, der zugleich sein Versteck war, verlässt. Wie eine Sturzgeburt vom Fruchtwasser umgeben aus dem Leib der Mutter schießt, so sprengt Faust die mütterlich-bergende Höhle seiner Regression (seiner seelischen Zurückgezogenheit) und sieht sich selbst als alleszerstörenden »Wassersturz«. Ohne Rücksicht auf Verluste will und muss er vorwärtsstürmen (V. 3350 ff.). Er zerstört Margaretes Familie, schwängert seine Geliebte und verlässt sie dann. Fausts entfesselte Sinnlichkeit findet ihren Ausdruck in der Walpurgisnacht-Orgie, doch plötzlich erschrickt und ernüchtert ihn die Erinnerung an sein Tun. Er sucht Gretchen im Gefängnis auf und will sie zur Flucht überreden. Dass er glaubt, es könne einen Weg »ins Freie« geben (V. 4537) und ein Leben jenseits von Schuldspruch und Gewissensqual sei möglich, zeigt, dass Faust das von ihm Verursachte verdrängt. Zugleich deutet Goethe an, dass ein in dieser Weise schuldig Gewordener nur weiterleben kann, wenn ihm Vergessen geschenkt und Verdrängen ermöglicht wird: ein »Heilschlaf« steht am Anfang des Faust II.
Mephisto: Seine Rolle ist es (gemäß dem »Prolog im Himmel«), Faust anzutreiben, ihn nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Gerade indem Mephisto ihm immer wieder neue Genussmöglichkeiten eröffnet, bleibt Faust unbefriedigt und drängt weiter. Faust und Mephisto scheinen häufig Gegenspieler zu sein, doch im Tiefsten sind sie Doppelgänger. Mephisto verkörpert den zerstörerischen, auch den selbstzerstörerischen Aspekt von Fausts Impulsivität. Er erweitert Fausts Handlungsmöglichkeiten und setzt Gewünschtes in Realität um. Einerseits hofft Mephisto Faust auf seine Bahn lenken zu können und ihn Staub fressen zu lassen, ihn also in den Dreck zu ziehen und ihn zu demütigen, andererseits weiß er, dass er als Teufel »nur frei erscheinen« darf (V. 336). Er weiß sich in Gottes Plan eingebunden, ist nicht wirklich frei, er muss letztendlich zum Guten wirken: als »Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft« (V. 1335 f.). Wenn Gottes »Gärtner-Plan« so aufgeht, hat der Teufel als negative Kraft keine Chance: er ist von Anfang an ein »armer Teufel«, der am Ende (von Faust II) den Kampf verloren haben wird, egal wie gut seine Verführungskünste gewesen sind. Gemäß dem Motto: »Du hast keine Chance, also nutze sie!« bietet die Mephisto-Figur dem Schauspieler die Möglichkeit alle Register seiner Kunst zu ziehen: er soll verführen und zerstören, er darf obszön und gewalttätig sein, er decouvriert und ironisiert jede »höhere Regung« Fausts. Wie eng er an Faust klebt und welche Freude er an den »luft’gen zarten Jungen« (V. 1506) und später an den »allerliebsten [Engel-] Jungen« hat (Faust II, Szene »Grablegung«): darin offenbart sich ein homoerotischer Aspekt dieses speziellen Schalks, der im Auftrag Gottes reizt und wirkt und schafft (V. 343).
Margarete allerdings spürt die von Mephisto ausgehende destruktive Kraft. Als Faust ihr das erste Mal begegnet, ist sie eine junge Frau, gerade eben im heiratsfähigen Alter (V. 2627: ab 14 Jahren, also ab dem Konfirmationsalter, galten Mädchen als heiratsfähige Frauen). Anstelle der kränkelnden Mutter hat sie versucht, ihre neugeborene Schwester großzuziehen. Doch war sie mit dieser Aufgabe überfordert, das Kind ist gestorben. Die häuslichen Verhältnisse sind – trotz eines gewissen Wohlstands (V. 3117) – eng. Margarete wird von ihrer Mutter genau kontrolliert und muss die ganze Hausarbeit verrichten. In wichtigen Lebensbereichen (Versorgen der kleinen Schwester, Erfahrung der Liebe) ist sie völlig allein gelassen. Da ihr Vater gestorben und ihr Bruder von der Familie weg zu den Soldaten gegangen ist, hat Margarete kein männliches Gegenüber in ihrem familiären Kontext. Über Altersgenossinnen, die etwas mit Männern »hatten«, glaubte sie sich weit erhaben (V. 3577 ff.). Doch schlummert in ihr die Sehnsucht nach einem freieren, einem unbeschwert-reicheren Leben, was zum Ausdruck kommt, als sie neugierig das Schmuckkästchen öffnet, sich schön macht und sich im Spiegel betrachtet. Im Gang zur Kirche findet Margarete etwas Zeit für sich selbst: da entkommt sie der häuslichen Enge, da hält sie sich vom Dorfgeschwätz abseits und ist allein, da findet ihre Sehnsucht in der Liebe zu Gott und in der Vereinigung mit dem Heiland (Faust ist ja später auf den »Leib des Herrn«, also auf den Abendmahlsvorgang, eifersüchtig: V. 3334 f.) einen religiösen Ausdruck. Aus der Kirche kommend sieht sie Faust zum ersten Mal. Seine Komplimente, wenn er sie als Adlige (»Fräulein«) und als schön anspricht, wirken nach. Sie lässt die körperliche Berührung durch den Fremden für einen Augenblick zu, ehe sie sich losmacht (Regieanweisung V. 2608) und weggeht. Im wie selbstvergessen gesungenen Lied vom »König in Thule« drückt sie aus, dass sie um die Kraft einer großen Liebe weiß, die nicht an Eheschließung und offiziellen Status gebunden ist. Sich Frau Marthe anvertrauend entschlüpft sie der Kontrolle der Mutter, und im Zusammensein mit Faust legt sie diesem das Liebesgeständnis in den Mund (V. 3184). Wenn sie die Sternblume (ihre Namensblume also: die Margerite) zerrupft, versinnbildlicht sie zugleich, dass sie für ihre Liebe auch ihre Existenz aufs Spiel zu setzen bereit sein wird. Sie erklärt offen ihre Liebe und wird zum aktiven Partner (V. 3206). Sie weiß um die für sie entstehende Gefahr und sagt doch »Ja« zu dieser Liebe (V. 3410 ff.). Fausts Begleiter gegenüber ist sie misstrauisch; wenn Mephisto hinzutritt (und Mephisto ist ja die Verkörperung der destruktiven Impulse in Faust: der rein sexuellen Begierde, der verantwortungslosen Verführungskunst, der zynischen Obszönität), fühlt Margarete sogar ihre Liebe zu Faust erkalten (V. 3496).
Margarete wird schwanger; in der Szene »Am Brunnen« wird ihr verdeutlicht, wie es ihr als unehelich Schwangerer gehen wird. Sie flieht zur Mutter Gottes, die über ihren toten Sohn trauert, und fleht sie in der Enge der Gebetsstätte um Hilfe an. Der Soldaten-Bruder taucht auf und wird, als er sich Faust entgegenstellt, tödlich verwundet. Er zeichnet seiner Schwester den künftigen Lebensweg als Prostituierte vor (V. 3736 ff.) und verflucht sie in aller Öffentlichkeit. In der »Dom«-Szene wird Gretchen dem unbarmherzigen Urteil der Kirchenmoral ausgesetzt. Sie bricht zusammen.
Aus dem, was in der Kerker-Szene handlungsmäßig vorausgesetzt wird, kann man erschließen, dass Margarete ihr neugeborenes Kind in panischer Angst ertränkt hat und dass sie wegen dieser Kindstötung zum Tode verurteilt worden ist. Geistesverwirrt und voller Angst erwartet sie die Stunde ihrer Hinrichtung. In ihrer Verwirrung sieht sie im zurückkehrenden Faust zunächst ihren Henker und entzieht sich ihm. Von ihrer Tat weiß sie nichts, sie war und ist offenbar nicht zurechnungsfähig. Als sie Faust an seiner Stimme trotz des ihn umgebenden Höllengetöses erkennt, gewinnt sie ihre Identität und ihren eigenen Schwerpunkt zurück. Sie kann wieder – sogar im Angesicht des Teufels – beten. Sie akzeptiert alles Geschehene, die Erfahrung der Liebe, der schönen Tage, und die damit zusammenhängende Schuld. Das trennt sie von aller Naivität, erst recht vom Kleinbürgerlichen und damit von ihrem sozialen Herkunftsmilieu. Sie akzeptiert das real Geschehene und stellt sich ihm im Erinnerungsvorgang. Sie zerbricht daran, sie wird sehend wahnsinnig. Im Wahnsinn kommt sie zu sich selbst. Sie hält Gerichtstag über sich selbst und wird so gerettet. Ihre Entscheidung für den Kerker ist ein Gang ins Freie. Es ist nur paradox zu formulieren und wird doch ganz greifbare Wirklichkeit: Im Zusammenbrechen findet Margarete zur Ruhe, im Wahnsinn wird sie hellsichtig, im Gericht wird sie gerettet, im Sich-an-Gott-Ausliefern gewinnt sie ihre Identität. Da Faust dem Mephisto verhaftet bleibt und in teuflischem Wahn glaubt, es könne eine Flucht ins Freie geben, muss sich Margarete ihm entziehen, als er sich unfähig zur Liebe (V. 4484) und blind für die gemeinsame Verantwortung (V. 4520 ff.) erweist. Am Ende von Faust II wird es ihre liebende Zuneigung zu diesem (immer auch teuflischen) Mann sein, die ihm Rettung und Begnadigung schenkt.
Margarete – das Mädchen aus kleinbürgerlich-engen Verhältnissen, die bewusst liebende junge Frau, die Verstoßene: in all dem ist sie eine ganz konkrete Person und eine tragische Figur. Doch zugleich steht sie stellvertretend für alle Liebenden und alle Geliebten, in ihr verkörpert sich die Braut des biblischen Hohen Lieds der Liebe. Gretchen ist Sulamith, die Sulamitin des Hohen Lieds (7,1). Versteckt spielt Mephisto (bibelkundig wie die meisten Teufel!) auf Sulamith an, wenn er Gretchens Brüste mit den Gazellenzwillingen vergleicht (V. 3337 = Hohes Lied Salomonis 4,5). Margarete charakterisiert sich selbst und ihre Sehnsucht, aber auch den geliebten Faust in den Worten des Hohen Lieds (V. 3390–3394 = H.L. 3,1 f.; 3394–3398 = H.L. 5,15; 3410–3414 = H.L. 8,1). Der Freudenschrei Gretchens im Kerker: »Das war des Freundes Stimme!« entspricht dem Jubelruf der Braut im Hohen Lied (5,2). Legt man Goethes eigene Übersetzung von Teilen dieser biblischen Schrift zugrunde (1775 entstanden), ergeben sich nicht nur sinngemäße, sondern wortwörtliche Übereinstimmungen. Gretchen ist also ein ›ganz normales‹ Bürgermädchen und zugleich ein ›Typus‹, eine stellvertretende Figur für die Absolutheit und Ungebrochenheit der Empfindungen, für die Bedingungslosigkeit der Hingabe, für die Hellsichtigkeit des Gefühls, für eine Liebe, die es mit dem Tod aufnimmt und die die Hölle überwindet (vgl. Hohes Lied 8,6).
Anhand der drei Lieder, die in die Gretchen-Tragödie eingebettet sind, lässt sich die Entwicklung Gretchens von der unschuldigen und etwas naiven Bürgerstochter zur Geliebten Fausts nachzeichnen, die weiß, dass sie in dieser Liebe ihr Leben aufs Spiel setzen und Schuld auf sich laden wird. Beginnend mit dem selbstvergessen gesungenen Lied vom »König in Thule« über die bedrängende Selbstreflexion im Spinnradlied (»Meine Ruh ist hin«) führt die Entwicklung zum flehentlichen Gebet an die Mutter Gottes: »Ach neige, Du Schmerzenreiche«.
Die Ballade vom König in Thule (V. 2759–2782) ist von Goethe wie ein altes Volkslied geschrieben worden: sechs Strophen zu je vier Versen, die abwechselnd weiblich und männlich enden (Kreuzreime abab), erzählen die Geschichte des sagenhaften Königs der Shetland-Inseln. Er war seiner Geliebten bis an sein Lebensende treu und hat sie auch nach ihrem Tod niemals vergessen. Seine Trauer und sein Schmerz über ihren Verlust sind so groß, dass sie ihn jedesmal, wenn er aus dem ihm von ihr überlassenen Becher trinkt, wieder übermannen und er zu weinen beginnt. In der dritten Strophe inszeniert der alte König sein Sterben. Er überlässt sein Herrschaftsgebiet und seinen Besitz bereitwillig seinem Erben, wobei er den Becher, das Symbol seiner Liebe, als sein einziges und wertvollstes Gut bei sich behält. In der vorletzten Strophe steht der Alte wie ein König Saufaus auf der Schlosszinne; noch einmal trinkt er aus dem Becher der Liebe (Goethe veschmilzt die verschiedenen Sphären der Wahrnehmung in einer großartigen Synästhesie: im Wein trinkt der König die Farben der Abendsonne und diese durstlöschende Farbigkeit steht für die Erfüllung des Lebens selbst, V. 2776). Dann wirft er in einer großen Geste den Becher, der nun die Einzigartigkeit, ja die Heiligkeit der Liebe (V. 2777) bezeichnet, ins Meer hinab. Die personale Liebe verbindet sich im Tod des Königs mit dem weiblichen Urelement alles Lebendigen; sein Abschied gestaltet sich im Bild der Vereinigung mit dem Urwasser, mit der Weite, Tiefe und Unendlichkeit des Schöpfungselements. So wie die Ballade in ihren letzten Versen unmerklich langsamer, stockender, verklingender geworden ist, verlöscht das Leben des großen Liebenden. Es sind die daktylischen (hier aber nicht tänzelnd, sondern stolpernd-verzögernd wirkenden) Elemente in den beiden Schlusszeilen, die diese Verlangsamung in den Versen bewirken; das dreifache Tröpfeln des t-Lauts in diesen Zeilen kommt hinzu; und dann fällt die Klanglinie in der letzten Zeile vom betonten und langen »i« über zwei unbetonte Silben zum hervorgehobenen »o« steil ab.
Die Ballade handelt von Treue in einer Beziehung ohne Trauschein und von der Kraft der Liebe im Angesicht des Todes. Gesungen wird vom König und seiner Geliebten, nicht von seiner rechtmäßigen Ehefrau. In der Liebe sind die Standesunterschiede beiseite gesetzt, und diese Liebe bedeutet dem König mehr als alles Standesgemäße, als aller Besitz und alle Macht.
Gretchen singt dieses Lied, um sich selbst zu beruhigen, bekennt sie doch in den vorhergehenden Versen noch ihre Angst (V. 2757 f.). Indem sie ihre eigene Stimme vernimmt, fühlt sie sich sicherer und nicht mehr ganz so allein. Das Ablegen der Kleider (»indem sie sich auszieht«) ist im übertragenen Sinne auch das Ablegen der ›äußeren Hülle‹, sie ›macht sich frei‹: von ihren Kleidern und gleichzeitig von Scham- und Schuldgefühlen, Zwängen und Normen. Gretchen singt nicht bewusst, eher singt ›es‹ in ihr von einer vorbehaltlosen und zu allem bereiten Liebe.
Nach der Liebesszene im »Gartenhäuschen« entzieht sich Faust und Margarete bleibt allein. Am Spinnrad sitzend reflektiert sie ihre Situation in einem gedrängt und gehetzt wirkenden Lied. Dreifach kehrt die Strophe »Meine Ruh ist hin« wie ein Volksliedrefrain wieder. Die zehn vierzeiligen Strophen sind aus Kurzversen (mit je zwei Betonungen, bei freier Senkungsfüllung) gebildet. Die Spinnrad-Bewegung mit ihrem Auf und Ab und dem Im-Kreis-Treiben wird im Rhythmus des Textes und den Beschleunigungen und Verlangsamungen in den Kurzzeilen wiedergegeben. Nach der letzten Wiederholung der Refrainstrophe wird das Gedicht in den beiden Schlussstrophen unaufhaltsam schneller: im raschen Wechsel von unbetonter und betonter Silbe laufen die Kurzverse ab, und ein Zeilensprung (Enjambement) verbindet sogar die Strophen miteinander und erzeugt einen Sog auf das Ende zu.
Das Lied legt im Gegensatz zu der Ballade vom König in Thule Gretchens persönliche Gedanken dar. Es ist zwar vom Spinnrad und seinem Arbeitsrhythmus »getrieben«, aber doch ihr »eigenes« Lied. Die Kreisbewegung des Spinnrads verweist auf die kreisenden Gedanken Gretchens über ein und dasselbe Thema. Sie kommt von ihren Vorstellungen nicht los, wozu auch die mechanische Arbeit am Spinnrad, die keine gedankliche Konzentration erfordert, beiträgt. Gretchen ist von Unruhe erfasst. Weder Anfang noch Ende noch eine logische Richtung existieren. Es geht immer nur im Kreis herum, alles dreht sich und ist ohne Ausweg.
Die beiden letzten Strophen deuten an, dass Gretchen um mögliche und wahrscheinliche Folgen ihres Handelns weiß und dass sie diese Konsequenzen akzeptiert. Sie wird an dieser Stelle der Tragödie (wie schon zuvor in der Gartenszene) zur aktiven, handelnden Person, die bereit ist, mit ihrem Tun Schuld auf sich zu nehmen. Der offensichtliche Wunsch nach Vereinigung mit Faust macht die Veränderung in ihrem Wesen und Verhalten deutlich: Sie hat ihre Rolle als scheues und unerfahrenes Mädchen abgelegt und ist nun eine selbstbewusste, geistig und körperlich gereifte junge Frau, die weiß, was sie will, und die die Erfüllung ihrer Liebe nicht länger in einer vorbildlich geführten und gesellschaftlich akzeptierten Beziehung sucht. Obgleich Gretchen verwirrt und unruhig erscheint, hat sie ihre Wünsche, was das Liebesverhältnis zu Faust anbelangt, klar vor Augen. Sie lebt im Jetzt und lässt sich durch Gedanken an die – möglicherweise wenig rosige – Zukunft nicht lähmen. Gretchen ist sich ihres Gefühls sicher, sie möchte weitergehende Erfahrungen machen und für ihre Liebe ist sie bereit, alles aufs Spiel zu setzen.
Der dritte persönlich-emotionale und monologisch gesprochene Text ist das Gebet im Zwinger, als Gretchen Blumen zum Bild der Muttergottes bringt. In kurzem Aufstöhnen (einige der Zeilen sind einhebig) wendet sich Margarete an die Mater dolorosa, die schmerzensreiche Mutter Maria, die ihren Sohn verloren hat, und fleht um Hilfe.
Der Ort des Gebets, der sogenannte Zwinger zwischen der äußeren und der inneren Stadtmauer, verdeutlicht den inneren Zustand der Betenden: Gretchen flüchtet sich an einen geschützten Ort, der aber zugleich bedrohlich eng und wie ein Gefängnis wirkt. Sie »steckt frische Blumen in die Krüge«. Stand die Blume am Anfang der Gartenszene noch für Keuschheit und kindlich-kokettes Spiel und dann auch für die Zerstörung der Unschuld und die ›zerpflückte‹ Jungfräulichkeit, so sind die Blumen nun Ausdruck der Demut und der Opferbereitschaft.
Das Gebet folgt unmittelbar auf die Szene »Am Brunnen« (V. 3544–3586), in der dem schwangeren Gretchen klar geworden ist, was auf sie zukommen wird. Sie nimmt ihre Zuflucht zum Gebet, und damit wird deutlich, dass sie sich der Muttergottes und dem barmherzig-väterlichen Gott anvertraut. In ihrem Stammeln (V. 3606) und ihrem Aufschrei (V. 3616) steht sie zu ihrem Tun. Sie ist bereit, tapfer ihr Schicksal auf sich zu nehmen, ohne die Schuld auf einen anderen abzuwälzen und sich selbst nur als Opfer zu sehen. V. 3607 erinnert tatsächlich an den rabbinischen Weisheitssatz, der da sagt, dass es nichts Ganzeres gebe als ein zerbrochenes Herz.
Margarete wird durch die Entwicklung der Liebesbeziehung zu Faust zerstört. Ihr Herz zerbricht, ihr Verstand wird verwirrt, und schon im Gebet zur Muttergottes gerät ihre Sprache in die Nähe des Lallens. Aber zugleich wird Margarete zum ernst zu nehmenden Gegner Mephistos. Sie steht zu ihrer Liebe und zu ihrer Schuld. Und aufgrund dieser Ehrlichkeit und dieses unerschütterlichen Glaubens an die verzeihende göttliche Kraft wird sie ein unüberwindbares Hindernis für Mephisto. Auch wenn sie am Ende durch Hinrichtung stirbt, ist sie, wie die Stimme von oben urteilt, gerettet.
Valentin: Der ältere Bruder hat Mutter und Schwester allein gelassen und sich den Soldaten angeschlossen. Er widmet sich einem Leben, in dem man »Mädchen und Burgen« erstürmt und dann weiterzieht (V. 895 ff.). Anstatt seiner »trauten Gretel« (V. 3632) brüderlich zur Seite zu stehen, hockt er am Männerstammtisch, hört sich das Schwadronieren seiner Soldaten-Kollegen an und renommiert mit der Tugend seiner Schwester. Als aber diese Schwester wegen ihrer Verbindung zu Faust ins Gerede kommt und Valentin davon hört, eilt er nach Hause, um die Sache zu ergründen, denn er fühlt sich durch die Gerüchte um seine Schwester beschmutzt. Er zettelt eine Auseinandersetzung mit Faust/Mephisto an und wird dabei tödlich verwundet. Sterbend hält er eine theatralische Rede an seine kleine Schwester, nennt sie öffentlich eine Hure, prognostiziert ihr den Weg in die Prostitution und den Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft und der kirchlichen Gemeinschaft. Er selbst verflucht sie. Ihre Tränen weist er zurück und beschuldigt sie, ihn getötet zu haben. Valentin ist der Inbegriff kleinbürgerlich-moralischer Selbstgerechtigkeit; er hat die Familie im Stich und die Schwester allein gelassen; er hat in einem Milieu gelebt, in dem das »Mädchen-Erstürmen« ganz üblich war; er ist blind für den Schmerz seiner Schwester. Dieser Soldat ist ein in seiner Bravheit teuflischer Mensch.