4. Werkaufbau – Strukturskizze

In Faust I kann man drei Hauptabschnitte voneinander unterscheiden: Der Zugang zum Drama wird durch drei Prologe geschaffen (und diese drei Vorspiele beziehen sich auf beide Teile der Tragödie, auf Faust I und Faust II):

a. Zueignung,

b. Vorspiel auf dem Theater,

c. Prolog im Himmel.

Es folgt dann die Gelehrten–Tragödie, beginnend mit Fausts Verzweiflung (»Nacht«), weitergeführt mit Mephistos Auftreten und Pakt bzw. Wette (»Vor dem Tor«, »Studierzimmer« I und »Studierzimmer« II). Erste Reisestationen folgen: »Auerbachs Keller«, »Hexenküche«. Dem schließt sich die Gretchen–Tragödie an:

• Erste Begegnung und Liebesgefühle (»Straße« I, »Abend«, »Spaziergang«, »Der Nachbarin Haus«, »Straße« II, »Garten«, »Ein Gartenhäuschen« als ganz kurze Liebesszene, »Wald und Höhle«);

• Vereinigung der Liebenden und Schuld (»Gretchens Stube«, »Marthens Garten«, »Am Brunnen«, »Zwinger«, »Nacht. Straße«, »Dom«, »Walpurgisnacht«);

• Scheitern und Tod bzw. Flucht (»Walpurgisnachtstraum«, »Trüber Tag, Feld«, »Nacht, offen Feld«, »Kerker«).

Von den drei Prologen aus ergeben sich Bezüge zu Faust II, und auch die Wette zwischen Faust und Mephisto führt die Handlung in den zweiten Teil der Tragödie weiter. Deshalb ist es für das Verständnis des Faust I nützlich, die Gesamtstruktur des Dramas im Blick zu haben.

In der Zueignung macht sich der Dichter sein gesamtes Werk (1. und 2. Teil) neu zu eigen; es drängt ihn zur Weiterarbeit. Im Vorspiel auf dem Theater wird auf die Dichtung und ihr Verhältnis zur Theaterpraxis reflektiert. Es wird klargestellt: alles Folgende ist Fiktion, auch die Erlösung ist gespielt. Die Sphärenharmonie, die den Prolog im Himmel durchtönt und alles Gefahrvoll-Nächtliche in sich integriert, wird im Geistergesang in der ersten Szene von Faust II wieder aufgenommen und schließlich durchklingt die Sphärenharmonie auch die »Bergschluchten« in den Schlussszenen des Gesamtdramas.

Aus den verzweifelten Selbstreflexionen Fausts ist seine Offenheit für den Teufel erwachsen. Es kommt zu Pakt und Wette und daraus ergibt sich die gemeinsame Reise zunächst in die »kleine«, dann in die »große Welt«. »Kleine Welt« (in Faust I): Saufen, Liebe, orgiastische Sexualität; »große Welt« (Faust II): Eintritt in das höfische Leben, Erschließung der Sphäre des Ästhetisch-Schönen, Vereinigung von Antike und Abendland, Ausüben von politischer, kolonialer und ökonomischer Herrschaft.

Der verzweifelten Selbstreflexion Fausts in den Szenen der »Gelehrten–Tragödie« entspricht das ruhige Selbstgespräch in der »Wald und Höhle«-Szene in der Mitte der »Gretchen–Tragödie«. Bis zu dieser Szene kann man in der »Gretchen–Tragödie« eine aufsteigende Handlungslinie erkennen (Entfaltung der Liebesbeziehung); jetzt schlägt die Handlung um, in der »Wald und Höhle«-Szene findet die Peripetie statt (griech. Peri-petie = Herum-kippen): Faust kann und will sich nicht mehr zurückhalten, und in einer konsequent abfallenden Handlungslinie steuert das Geschehen auf die Katastrophe, die Trennung der Liebenden und die Hinrichtung Gretchens, zu.