Nach Goethes eigener Aussage ist der Faust eine »inkommensurable Produktion«, also etwas Unvergleichliches, etwas, das in kein Schema passt. Weder werden die Einheiten von Raum, Zeit und Handlung beachtet noch ist Faust eine psychologisch konsistente oder realistische Figur. Rascher Szenen- und Stimmungswechsel bestimmt das ganze Drama. Während Faust I, abgesehen von Fausts Verjüngung um etwa 30 Jahre, noch der Logik zeitlicher Abläufe folgt, durchmisst Faust II scheinbar willkürlich die Epochen der abendländischen Geschichte. Das ganze Drama wird in den Einleitungs- und Schlussszenen obendrein noch in die Tradition des »Theatrum mundi«, des Welttheaters spanischbarocker Prägung, gestellt. Dort ist die Welt als Bühne gedacht, auf der die Menschen ihre Rolle spielen, bis Gott über sie urteilt. Dort (z.B. in den Dramen Calderons) bleibt Gott der Richter und der Regisseur; Goethe macht auch Gott zu einer Spielfigur.
In seiner Vielfältigkeit und Zerrissenheit knüpft der Faust des Klassik-Repräsentanten Goethe an die Sturm und Drang-Dramen an und entwickelt den Typus des offenen Dramas weiter.
Dementsprechend vielfältig sind die im Drama verwendeten Versmaße: der am häufigsten verwendete Vers ist der Madrigalvers (z.B. V. 300–307). Er ist charakterisiert durch ein jambisch alternierendes Metrum mit freier Hebungszahl und freier Reimstellung. Verse mit fünf oder sechs Hebungen können mit Kurzversen (nur zwei oder drei Hebungen) wechseln; Paar- oder Kreuzreime, umarmender oder schweifender Reim: alles ist möglich. Durch die Kurzverse lassen sich (besonders in den Reden Mephistos) die Pointen scharf herausarbeiten. – Fausts bekannter Eingangsmonolog (V. 354 ff.) beginnt mit Knittelversen. Dieser Vers hat in der Regel vier Betonungen, und zwischen bzw. vor den betonten Silben können unterschiedlich viele unbetonte Silben stehen. Häufig sind die Knittelverse durch den Paarreim strukturiert. Diese Verse wirken holzschnittartig; heftige Gefühlsausbrüche können in ihnen gestaltet (und zugleich auch ironisiert und bloßgestellt) werden. Der Knittelvers hat auch etwas ›markig Urdeutsches‹ (als Vers etwa des spätmittelalterlichen Hans Sachs) und passt deshalb gut ins historische Ambiente der Faust-Handlung. – Wenn sich das Sprechen etwas beruhigt, kann dieser Vers in einen regelmäßig alternierenden Vierheber übergehen (z. B. V. 386–393). Durch das regelmäßige Auf und Ab ergibt sich ein fließender Klangcharakter. – Etwas ernster und erhabener klingen die reimlosen Fünftakter, die als Blankverse bezeichnet werden und für das klassische deutsche Drama (vom Nathan bis zum Wallenstein) kennzeichnend sind. – Wenn die Sprache leidenschaftlich bewegt ist, wechseln die Verse in metrisch ungebundene und reimlose freie Rhythmen (z. B. V. 3191–3194).
Die Übergänge zwischen den Versarten sind manchmal fließend: so kann der Madrigalvers in regelmäßig vier- oder fünftaktige Verse übergehen; oder umgekehrt können regelmäßige Viertakter in Madrigalverse oder freie Rhythmen einmünden.
Deutlich abgegrenzt sind die Chöre und Lieder, die das Drama durchziehen: die volksliedhaften Strophen Gretchens, die anzüglichen Lieder Mephistos, die schwerelosgeheimnisvollen Geistergesänge und Hymnen (Letztere zumeist in zweihebigen Kurzversen).
Die »Zueignung« ist als Stanze (Oktave) geschrieben: Auf drei durch Kreuzreim verknüpfte Zeilenpaare (ababab) folgt als sentenzartiger Abschluss ein Reimpaar (cc). Die fünfhebigen Jamben enden in den Kreuzreimversen wechselnd mit weiblichem und männlichem Ausgang.
Entsprechend der »offenen Form« des Faust-Dramas wird das Handlungsganze durch ein Geflecht wiederkehrender Motivelemente verknüpft. Dass die Handlungsstruktur zugunsten einer Symbolstruktur an Bedeutung verliert, verstärkt sich in Faust II, während in Faust I die Studierzimmer-Szenen und die Szenen der Gretchen-Tragödie noch in unmittelbarer und handlungsmäßig nachvollziehbarer Ordnung aufeinander folgen. Aber auch im Faust I hat jede Ortsangabe ihre symbolische Bedeutung, jede Szene eröffnet einen charakteristischen Raum: Wenn Faust im engen gotischen Zimmer gezeigt wird, dann herrscht in seinem Inneren Dunkelheit, dann fühlt er sich auch beengt und eingezwängt. Vor dem Tor meint dementsprechend nicht den Zufallsort eines sonntäglichen Spaziergangs, sondern tatsächlich einen Gang ins Freie, ins Offene, in einen Raum jenseits der bürgerlich-zivilisatorischen Einschränkungen (freilich noch im Schutzbereich der Mauern der Stadt). Wenn Faust Gretchen auf der Straße trifft, sagt das zugleich aus, dass Margarete sich durchaus allein in den öffentlichen Raum traut, dass sie sich nicht in Gruppen oder hinter den häuslichen Mauern verbirgt. Ihr kleines reinliches Zimmer wird von Faust zwar »Kerker« genannt (V. 2694), aber im Gegensatz zum Studierzimmer schnürt diese Enge nicht ein, das Zimmer ist nicht chaotisch-überfüllt; für Gretchen ist dieser Raum ein Rückzugsort, wo sie vorbehaltlos und ohne jede Angst sie selbst sein kann. Die Garten-Szenen zeigen den Ort der Annäherung der Liebenden (und zugleich der Ausweichmanöver Mephistos vor den Zudringlichkeiten der Marthe Schwerdtlein), und damit wird symbolisch gesagt, dass die Liebenden sich zwar außerhalb des geregelten häuslichen und kleinstädtischen Lebens befinden, dass sie im Freien sind, aber dass sie sich nicht in einem ›Wald der Gefühle‹ verirrt haben. Zugleich ist der (Paradies-)Garten aber auch der Ort der Verführung und des Sündenfalls.
Wald und Höhle: Faust ist geborgen, er hat sich wie ein Kind zusammengekauert und sich zurückgezogen. Aber sein Versteck liegt in der Wildnis, im Dickicht der verworrenen Gefühle. Mit Gewalt wird er versuchen sich seinen Weg heraus zu bahnen. – Gretchen fleht in ihrer Not zur Muttergottes im Zwinger; in diesem Kontext heißt das beides: sie findet einen Schutzraum bei der Madonna und sie ist zwischen zwei Mauern eingeschlossen; gerade das religiöskirchliche Milieu wird sie erdrosseln. – Im Zwielicht des trüben Tags versucht Faust, nach der Entfesselung der Sexualität während der Walpurgisnacht mit seinem Gewissen ins Reine zu kommen; aus dem (Paradies-)Garten der Liebe ist er vertrieben, vom Berg der Orgie herabgestiegen, und nun steht er auf offenem Feld und versucht (ohne Erfolg) die Schuld auf Mephisto zu schieben.
Das ganze Drama ist von Bildsymbolen durchzogen. Licht und Schwerelosigkeit kennzeichnen die göttliche Sphäre, zu Mephisto gehört die Materie und das Dunkel; der Mensch ist dem Trüben zugeordnet, dem Zwischenreich. Er ist materiell, kann aber Licht in sich aufnehmen und es in Farbe verwandeln. Fausts Streben nach dem Unbedingten äußert sich als Sehnsucht nach dem Licht. Dass er der Flammenbildung weichen muss (V. 499), dass er der Abendsonneglut nicht nacheilen kann (V. 1070 ff.), dass er »vom Augenschmerz durchdrungen« (Faust II, V. 4703) sich von der Sonne abwenden muss, all dies Negative weist darauf hin, dass es dem Menschen zukommt, das Leben nur am farbigen Abglanz zu haben. Das im Regenbogen gebrochene oder das vom Mond reflektierte Licht entspricht dem menschlichen Maß. Das Mondlicht erlaubt eine ruhige Betrachtung (V. 390 ff.; 3235 ff.), im Dämmerschein entfaltet sich die Wirklichkeit (V. 2687). Der Regenbogen wird in der ersten Szene des Faust II zu dem Symbol der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten.
Eng verwandt mit der Lichtsymbolik ist das immer wieder auftauchende Motiv des Fliegens: zum Selbstmord bereit glaubt sich Faust auf einen heranschwebenden Feuerwagen gehoben (V. 702). Am Ostertag sehnt er sich »hinauf und vorwärts« (V. 1093) und wünscht sich einen »Zaubermantel«, der ihn in fremde Länder tragen könnte (V. 1122). Mephisto ermöglicht ihm während der Walpurgisnacht und zurück auf dem Weg zu Gretchens Kerker Zauberritte durch die Luft.
Im Regenbogen-Symbol verschmelzen die Licht- und Wasser-Symbolik auf enge Weise. Steht das Licht für die Erkenntnis und die göttliche Sphäre, so ist Wasser das Symbol der Verlebendigung und des Lebens überhaupt. Faust sieht und bewundert im Nostradamus-Buch das Zeichen des Makrokosmos; in der daraus entspringenden intuitiven und belebenden Erkenntnis »badet« die »ird’sche Brust im Morgenrot« (V. 445 f.). Der Erdgeist (als »Daemogorgon« in der antiken Mythologie Inbegriff der Natur selbst) ist in »Lebensfluten« tätig. Was Faust dagegen zur Verzweiflung treibt, ist die Sphäre des Trockenen, des Erstarrten. Sein Famulus Wagner ist Repräsentant dieser Sphäre (»der trockne Schleicher«, V. 521). Doch auch er selbst, Faust, sehnt sich vergebens nach den »Quellen alles Lebens«, nach den Brüsten der Natur (V. 456). Beim Osterspaziergang realisiert Faust, dass sich das Starre verflüssigt, dass das Eis schmilzt und das Leben neu fließt. Wenn jemand weinen kann, ist dies sinnfälliger Ausdruck dafür, dass die Lebenssäfte wieder fließen. Im melancholisch-depressiven Zustand stocken die Säfte, und die Tränen sind Indiz für das sich erneuernde Leben. Schon in der »Zueignung« (V. 29) stehen Tränen für die Verlebendigung des Verlorenen in der Kunst. Und als Faust im letzten Moment vom Selbstmord abgehalten wird, zeigen seine Tränen, dass er fürs Leben wiedergewonnen wurde (V. 784). Natürlich ist das Wasser ein ambivalentes Symbol und kann auch Gegenteiliges, also Todbringendes, bedeuten: es kann zum Symbol der Vernichtung werden (V. 3350), es kann auf ein Sich-Verlieren hinweisen (V. 1065 und 1511).
Goethe bestand darauf, seinen Faust eine Tragödie zu nennen. Das überrascht, wenn man weiß, dass am Ende von Faust II Mephisto die Wette (vielleicht zu Unrecht) verliert und Faust gerettet wird. Schon der »Prolog im Himmel« hatte festgeschrieben, dass Mephisto Gott als »Herrn« anerkennt und dass dieser Herr den Teufel als Instrument einsetzt, um Faust anzustacheln und in seiner Ruhe aufzustören und ihn so auf dem rechten Weg in die Klarheit führen zu können. Wenn der Handlungsrahmen so abgesteckt ist, ist der Stoff eigentlich nicht ›tragödienfähig‹. Anders verhält es sich mit den Abschnitten der Gretchen-Handlung. Margarete macht einen Veränderungs- und Reifungsprozess durch. Sie folgt ihrer Liebe auf unbedingte Weise und scheitert deshalb notwendigerweise an ihrer Umwelt und den herrschenden gesellschaftlichen und kirchlichen Normen. Ohne Böses zu wollen, wird sie schuldig am Tod ihrer Mutter und ihres Bruders. In den Wahnsinn getrieben tötet sie ihr Kind. Margarete stellt sich dem über sie verhängten Gericht und wächst über sich hinaus, indem sie jede Kompromissmöglichkeit (Flucht aus dem Gefängnis) ausschlägt und sich zu opfern bereit ist. Das ist ohne Zweifel tragisch.
Aber die Faust-Handlung verläuft anders: Am Ende flieht Faust, verdrängt das Geschehene und wird sogar noch gerettet. Wie bedenkenlos dieser Repräsentant menschlichen Strebens immer wieder (dann auch in Faust II) andere Menschen zugrunde richtet und wieviel Neuanfänge und wieviel Vergessen ihm ermöglicht werden müssen, wirft für den Zuschauer bange Fragen auf und wirft ein tragisches Licht auf die Geschichte des neuzeitlichen Menschen. Wenn man sich als Leser dann noch vergegenwärtigt, dass der gute Ausgang zwar von Anfang an durch »den Herrn« garantiert ist, dass aber »der Herr« eine Theaterfigur ist und dass alle Götter nur durch »des Menschen Kraft, im Dichter offenbart«, leben (V. 156), dann zeigen sich gefährliche Risse in der Konstruktion des Ganzen. Dies Welttheater kann sehr wohl zur Tragödie werden, es kann alles zur Hölle fahren. Und deshalb muss mit allem Ernst gegen diese Negativmöglichkeiten angespielt werden.