Goethes Faust steht in einer langen literarischen Tradition, die mit dem Faustbuch von 1587 begonnen hat und mit Thomas Manns Doktor Faustus von 1947 noch längst nicht beendet ist. All dies geht zurück auf eine historische Gestalt, einen Georgius Faustus, aus der Reformationszeit. Um diesen Mann mit dem Gelehrtennamen »faustus« (»der Glückliche«) rankten sich schon zu seinen Lebzeiten wilde Spekulationen und Gerüchte. Zwischen 1460 und 1470 soll er in Knittlingen bei Maulbronn (oder in Helmstedt bei Heidelberg) geboren worden sein. 1483 hat sich Faustus in Heidelberg immatrikuliert. Der Abt Johannes Trithemius von Sponheim nennt ihn 1507 einen Scharlatan. In den Akten des Bischofs von Bamberg fand sich ein von Faustus erstelltes Horoskop für den Bischof. 1536 wird er das letzte Mal erwähnt. 1539 gilt er als verstorben. Der Legende nach soll ihn der Teufel in Staufen im Breisgau erwürgt haben.
Luther weiß um diesen Mann und bezeichnet ihn in seinen Tischreden als Teufelsbündler. Melanchthon weiß sogar schon etwas von einem schwarzen Hund, der Faust begleitet und in dem der Teufel gesteckt habe. Allmählich löscht die Tradition den urkundlich bezeugten Vornamen Georg und ersetzt ihn durch Johannes. Goethe macht dann einen Heinrich Faust aus ihm.
Umlaufende Anekdoten und Legenden zu diesem Faust wurden im Faustbuch von 1587 erstmals zusammengestellt. Später, in der Romantik, publizierte Joseph Görres diese Schrift erneut unter dem Titel Volksbuch über den D. Faust (1807). Aus protestantischem Geist entsprungen, will dies Faustbuch die Allgewalt des Teuflischen darstellen und vor jedem Kontakt mit dem Teufel warnen. Wer sich mit dem Teufel einlässt, so lautet die Botschaft dieses Volksbuchs, ist unrettbar verloren. Goethe wird sich dieser protestantisch-orthodoxen Sicht der Dinge widersetzen, während Thomas Mann in seinem Faustus-Roman ganz bewusst nicht auf Goethe, sondern auf das Volksbuch zurückgreift und alles, was geschichtlich auf die Zeit des Nationalsozialismus zuläuft, nur unter der Voraussetzung der Teufelsherrschaft verstehen kann.
Wenige Jahre nach dem Volksbuch erschien in England (1604) eine dramatische Bearbeitung des Stoffes: Christopher Marlowes The Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus. Marlowes Faust ist ein skrupelloser und genusssüchtiger Renaissance-Mensch, der weder Hölle noch Teufel fürchtet. Der Autor bewundert diese Figur und zeichnet sie – auch wenn er sie am Ende traditionsgemäß zur Hölle fahren lässt – mit einer gewissen Sympathie. Wanderbühnen brachten diesen Stoff in der Marlowe-Fassung nach Deutschland, doch die Gottschedschen Theaterreformprojekte (am Beginn der Aufklärungszeit im 18. Jahrhundert) entzogen diesen Bühnen die Existenzgrundlagen. Puppenbühnen nahmen in dieser Zeit die Traditionen und dramatischen Ideen der Wanderbühnen auf, und Goethe hat den Fauststoff in »Marlowescher Prägung« wohl als Kind im Puppentheater kennen gelernt.
Zeitgleich mit Goethe arbeitete Lessing an einem Faust-Drama. Die erhaltenen Bruchstücke lassen erkennen, dass für Lessing Forschen und Wissensdrang nichts Verwerfliches mehr sind, so dass Faust zum Sympathieträger wird und am Schluss gerettet werden kann. Gerade durch einen solchen Schluss, in dem Faust gerettet wird, widerspricht auch der Goethesche Faust der gesamten älteren Faust-Tradition.
Hier setzte später die nationalistische und dann auch die sozialistische Vereinnahmung von Goethes Faust an. Wenn Fausts schuldbeladener Weg letztlich gutgeheißen wird, dann – so interpretierte man – scheint Goethe ja »das Faustische« als etwas Positives zu bewerten. Keine moralischen Bedenken zu haben, gewalttätig-»männlich« zu handeln und sich Übermenschliches zuzutrauen, wurde als »faustischer« Wesenskern deutscher Existenz propagiert. Wenn am Ende von Faust II Faust als Kolonialherr auftritt und wenn er beim Verfolgen seiner Ziele über Leichen geht, so schien das akzeptabel zu sein, weil kleinliche moralische Rücksichten große Pläne eben nicht stören sollen. Die deutsch-nationalistische Lesart interpretierte Fausts Schlussworte vom »freien Volk« auf »freiem Boden« (V. 11580) als positiven Höhepunkt seines gottgewollten Strebens und glaubte, diese Worte gingen in der deutschen Kolonialgeschichte oder in der kriegerischen Eroberung von neuem »Lebensraum im Osten« in Erfüllung.
In formal völlig paralleler Argumentation glaubte Walter Ulbricht 1962 Goethes Faust für den DDR-Sozialismus ausnützen zu können: »Goethe ließ den alten Faust erkennen, daß allein die schöpferische, gemeinschaftliche Arbeit des befreiten Volkes höchstes Glück birgt« (Rede im März 1962).
Goethes Faust, der im »Vorgefühl von solchem hohen Glück« jetzt seinen »höchsten Augenblick« zu erleben glaubt, ist dagegen ein alter Mann, der in seiner Blindheit nicht sieht, was in Wirklichkeit um ihn herum geschieht: es wird sein Grab geschaufelt. Er träumt vom »freien Volk«, während er das Volk knechtet und Menschen tötet. Er phantasiert von »freiem Grund«, während er die Natur vergewaltigt. Da wo der verblendete Faust in Selbsttäuschung zugrunde geht (und allein aus Gnade errettet wird), meinten die Ideologen der totalitären Rechten wie der Linken ihn beim Wort nehmen zu dürfen. Goethe zeigt auf ironische Weise prophetisch auf, dass sowohl die nationale wie die soziale Utopie illusionär sind, Konzepte des blinden und verblendeten Faust. Die deutschnationale und die DDR-offizielle Lesart leugnen die Ironie und verherrlichen kritiklos Fausts Vision. Die Horrorvorstellung wird zum Wunschbild umgepolt, und der aufmerksame Leser kann hieraus ersehen, welcher Horror und wie viel Unterdrückung und wie viel Gewalttätigkeit gegen Andersdenkende (auch gegen Goethe!) in den jeweiligen Konzepten steckt.
Während des Zweiten Weltkriegs schrieb Thomas Mann im amerikanischen Exil seinen großen Roman Doktor Faustus. Ganz bewusst bezieht sich Mann dabei auf das Volksbuch, wenn er, in der Perspektive seines Erzählers Serenus Zeitblom, das Leben und die geistige Umnachtung des Musikers Adrian Leverkühn zur Sprache bringt. Wenn sich der deutsche Intellektuelle dem Teufel, und das meint hier: dem Irrational-Gefährlichen, anheim gibt, dann ist, aus der Sicht der Weltkriegsjahre heraus, keine Rettung mehr möglich. Was einzig bleibt, ist das Gebetsstammeln des einsamen Erzählers: »Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte dazumal auf der Höhe wüster Triumphe, im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu halten gesonnen war, und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte. Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tagen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.« So lauten die Schlusssätze des Romans. Für Thomas Mann, der in seinem Faustus-Roman die Erfahrungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert reflektiert, bleibt »das Faustische« zwar ein faszinierendes Phänomen, aber der Pakt mit dem Teufel führt (wie im Volksbuch) in die Katastrophe und kann nicht (wie bei Goethe) als Moment im Prozess einer göttlichen Vorsehung und eines Wachstumsprozesses interpretiert werden.