10

Jerry Mason und Ramon Danahey stiegen gegenüber dem Fort Tryon Park in Manhattan Nord auf dem Broadway aus dem Bus. Viermal waren sie umgestiegen. Jetzt hatten sie ihr Ziel erreicht.

Sie trabten die Straße entlang und bogen wenig später in die Ellwood Street ein. Immer wieder blickten sie sich um. Sie hielten nach Polizisten Ausschau und waren glücklich, keinen zu entdecken. Ruth Stickles, zu der die beiden Gangster unterwegs waren, wohnte in einem neuen modernen Apartmenthaus.

Sie war eine Edelnutte. Ein Callgirl, das gut im Geschäft war. Man holte sie zu wichtigen Vertragsverhandlungen, legte sie als niedliches Präsent in das Bett von Geschäftspartnern, zog sie zu Cocktailpartys heran, die mit ein bisschen Pfeffer gewürzt werden sollten ...

Jedermann, der sie nicht kannte, musste sie für eine Dame halten. Sie wusste sich in den besten Kreisen zu bewegen. Sie konnte überall mitreden, denn sie hatte eine gute Schulbildung genossen. Wenn man ein Mädchen mit Charme, Geist und Witz suchte, das aber auch im Bett eine wahre Künstlerin war, dann rief man die Agentur an und verlangte Ruth Stickles.

Danahey war eine Zeitlang mit ihr zusammen gewesen. Er war ihr geistig unterlegen, aber das hatte sie nicht gestört. Sie hatte seine Muskeln gebraucht, und er hatte sie in dieser Zeit gut beschützt.

Mit ihrem beruflichen Aufstieg wurden auch die Kunden immer besser, und bald brauchte Ruth keinen Beschützer mehr. Also warf sie ihn hinaus. Sie hatte ihm unfein nachgeschrien, er solle sich zum Teufel scheren und sich bei ihr nie mehr blicken lassen. Daran hatte er sich gehalten.

Bis heute.

Nun brauchte er Hilfe, und die musste ihm Ruth Stickles gewähren, sonst konnte sie etwas erleben. Sie erreichten das Apartmenthaus. „Ruth wird eine Freude haben, wenn wir gleich zu zweit angerückt kommen“, sagte Jerry Mason.

„Wenn schon“, brummte Danahey. „Sie schuldet mir noch eine ganze Menge. Ich habe viel für sie getan.“

„Dafür hat sie dich ausgehalten. Sie schuldet dir gar nichts.“

Das ließ Danahey nicht gelten. Er warf sich in die Brust. „Außerdem konnte ich als Mann Eindruck auf sie machen. So etwas vergisst eine Puppe nicht, mein Lieber. Ich hatte ihr einiges zu bieten.“

Mason schüttelte grinsend den Kopf. „Mann, wenn du bloß nicht immer deine dämliche Schnauze so voll nehmen würdest. Was machen wir, wenn sie nicht allein ist, wenn sie einen Kunden bei sich hat?“

„Dann schmeißen wir ihn eben raus.“

„Mensch, du hast sie wohl nicht alle. Damit der gleich zur Polizei rennt und uns anzeigt?“

„Wer zu ’ner Nutte geht, der rennt nicht so schnell zur Polizei. Aber wozu theoretisieren wir hier? Wir können ja nachsehen, ob Ruth allein ist oder nicht.“

Sie betraten das Apartmenthaus. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie zum vierten Stock hoch. Ruth Stickles bewohnte das Apartment G. Danahey betrachtete sich. Er war schmutzig.

„Sobald ich Ruth von meinem Hals her untergekriegt habe, nehme ich ein heißes Bad.“

„Kann nicht schaden“, sagte Mason grinsend. „Du wäschst dich ohnedies viel zu selten.“

„Blödmann, ich stehe jeden Tag unter der Dusche, das kannst du von dir bestimmt nicht behaupten.“

„Vielleicht solltest du dich nicht nur da unterstellen, sondern auch mal das Wasser aufdrehen“, sagte Mason feixend. Er war sichtlich froh darüber, dass der Stress vorbei war, und hatte seinen Humor wiedergefunden.

Ramon Danahey läutete. Schritte näherten sich der Tür, sie wurde geöffnet. Danahey bleckte die Zähne zu einem männlichen Grinsen.

Wie Humphrey Bogart, dachte Jerry Mason.

„Hallo, Baby“, sagte Danahey wichtig, als wüsste er, dass er der Schwarm aller Mädchen wäre. Ruth Stickles wollte ihm die Tür auf die Nase schlagen, aber er machte einen schnellen Schritt vorwärts, stoppte die Tür mit dem Fuß und stieß sie mit der Schulter zur Seite.

„Ich wusste, dass du dich freust, mich wiederzusehen“, sagte er und betrat das Apartment. Ruth wich nicht aus. Er rempelte sie aus dem Weg.

Sie war eine Schönheit, hatte ebenmäßige Züge und eine kleine Nase. Die Fülle ihres elfenbeinfarbenen Haares war korrekt frisiert. Es hatte fast den Anschein, sie würde eine Perücke tragen. Der Hausanzug modellierte ihre atemberaubende Figur. Schon rein äußerlich passten sie und Ramon Danahey nicht zusammen.

Ihre dunklen, fast schwarzen Augen funkelten zornig. „Was wollt ihr hier?“, zischte sie.

Jerry Mason stand noch auf dem Fußabstreifer.

„Warum kommst du nicht rein?“, fragte ihn Danahey. „Komm doch rein! Ich bin hier zu Hause. Tritt ein und schließ die Tür! Stör dich nicht an der Kratzbürstigkeit meiner Mieze. Sie hat heute bloß schlechte Laune, aber das gibt sich bald.“

Mason trat zögernd ein. Er blickte Ruth Stickles unsicher an, während er die Tür schloss. Hier waren sie alles andere als willkommen. Ruth würde sich diesen Überfall nicht bieten lassen. Vielleicht würde sie der Polizei heimlich einen Tipp geben, wenn sie erfuhr, was sie verbrochen hatten. Nein, das hier war kein gutes Versteck.

Aber Ramon Danahey wollte das nicht wahrhaben. Er grinste, nickte wohlgefällig und sagte: „Du siehst großartig aus, Baby. Du hast noch mehr Klasse als früher. Ehrlich.“

„Was wollt ihr hier?“, wiederholte sie wütend.

Danahey ging auf sie zu. „Du darfst mir einen Willkommenskuss geben, Süße.“

„Pass auf, dass ich dir nicht ins Gesicht spucke, du Großmaul!“, fauchte das Callgirl. „Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will. Schon vergessen?“

„Du warst damals nicht bester Stimmung. So wie heute. Aber ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast.“

„Und wie ich’s gemeint habe. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Ist das nicht deutlich genug? Hast du Watte in den Ohren? Oder begreifst du schwer?“

„Weder noch.“

„Dann müsste zwischen uns eigentlich alles klar sein, nicht wahr?“

„Ist es doch, Baby. Ich weiß, dass du immer noch verrückt nach mir bist.“

„Nach dir, du Gartenzwerg? Du willst mich wohl zum Lachen bringen, was? Mach, dass du rauskommst, Ramon! Das leichte Leben, das du bei mir geführt hast, ist vorbei.“ Sie blickte Mason an. „Mach die Tür auf, und verzieht euch!“

Jerry Mason legte die Hand auf die Klinke.

„Die Tür bleibt zu, Jerry!“, knurrte

Danahey. „Jetzt wollen wir doch mal sehen, wer hier der Herr im Haus ist.“ Seine Miene verfinsterte sich. Er hakte die Daumen in seinen Gürtel und blickte das Callgirl grimmig an.

„Der Herr im Haus bin ich!“, stellte Ruth trotzig fest. Sie hatte keine Angst vor Danahey. „Oder bezahlst du hier die Miete, he?“

„Was hat denn das damit zu tun?“

„Sehr viel!“

„Halt die Klappe, Ruth! Ich bin hier, um dich um einen Gefallen zu bitten.“

„Schon abgelehnt. Versuch dein Glück woanders!“

Danaheys Augen verengten sich. „Mädchen, du solltest mich nicht reizen! Ich habe eine Eselsgeduld, aber irgendwann platzt auch mir der Kragen.“

„Ihr habt was ausgefressen, richtig?“

„Richtig“, bestätigte Danahey. Warum hätte er das Ruth nicht eingestehen sollen? Er hatte keine Geheimnisse vor ihr.

„Und nun sind die Bullen hinter euch her.“

„Stimmt ebenfalls.“

„Und ich soll euch verstecken.“

„Du hast es erfasst!“, sagte Danahey.

„Kommt nicht in Frage!“, sagte Ruth hart.

Danahey grinste. „Wir könnten dich zwingen, aber das wollen wir nicht. Immerhin war mal was zwischen uns beiden ...“

„Das ist so lange her, dass ich mich schon nicht mehr daran erinnern kann“, behauptete Ruth.

Danahey lachte. „Hör mal, einen Mann wie mich vergisst man doch nicht so leicht.“

„Sag mal, für wen hältst du dich eigentlich? Für Robert Redford?“

„Wetten, ich bin besser als der?“

„Das kann ich leider nicht nachprüfen. Und jetzt Schluss mit dem Quatsch! Vielleicht sollte ich lügen und sagen, es hat mich gefreut, dass du mal wieder vorbeigeschaut hast, aber ich bring’s nicht über die Lippen. Macht endlich die Tür von draußen zu, damit ich vergessen kann, dass ihr hier gewesen seid.“

Danahey schüttelte den Kopf. „Wir gehen nicht, Baby.“

„Ich verstecke euch nicht. Erstens, aus Prinzip nicht, weil ich wegen euch Strolchen keinen Ärger kriegen will. Und zweitens, weil ihr mein Geschäft stören würdet. Das kann und will ich mir nicht leisten.“

„Du wirst es dir leisten müssen!“, sagte Danahey rau.

„Und wieso?“

„Weil ich es so will!“, schrie Danahey.

„Lass sie doch“, sagte Jerry Mason.

„Du hältst dich da raus, klar?“, herrschte Ramon Danahey ihn an. „Jetzt geht’s nämlich auch mir ums Prinzip. Wo kämen wir denn hin, wenn ’ne Nutte ’nen eigenen Willen hätte. So was ist nicht drin, Baby. Das Recht ist immer auf der Seite des Stärkeren, und es besteht doch wohl kein Zweifel daran, dass ich das bin.“

Ruth Stickles starrte ihm furchtlos in die Augen. Sie hob die Hand und wies auf die Tür. „Raus!“, sagte sie.

Da schlug Danahey zu. Sie schrie und kreischte, schlug zurück, kratzte ihn. Aber er war stärker. Wütend wirbelte sie herum. Sie rannte in den Livingroom. Er folgte ihr.

Jerry Mason blieb in der Diele stehen. Er hörte es klatschen, und Ruth schrie immer wieder auf.

„Schlampe!“, schrie Danahey. „Luder! Kanaille!“

Und dann hörte Mason nichts mehr. Er erschrak. Mein Gott, dachte er, er wird doch nicht das Mädchen ...

Er hörte Ramon Danahey schwer keuchen, lief zur Wohnzimmertür. „Ramon!“, rief er.

Sein Freund stand mitten im Raum. Die Schultern hingen nach vorn. Sein Mund war offen. Der Brustkorb hob und senkte sich schnell. Ruth war nicht zu sehen. Sie lag auf dem Boden. Ein Sofa verdeckte sie.

„Ramon!“, sagte Mason. „Was hast du getan? Hast du sie ...?“

Da hörte er das Mädchen schluchzen, und er atmete auf. Seltsam, es hätte ihm nichts ausgemacht, dabei zuzusehen, wie Attorney Brown von Kugeln durchsiebt wurde. Er hätte Brown sogar selbst erschießen können. Aber ein Mädchen, das so schön wie Ruth Stickles war, hätte er niemals umbringen können. Da gab es in ihm eine Sperre, die er nicht überwinden konnte.

Ruth stand auf. Sie stützte sich mit beiden Händen auf das Sofa, bewegte sich wie eine alte Frau. Ihr Gesicht wies zahlreiche Schwellungen auf. Sie hatte ein blaues Auge, aus ihrer Nase floss Blut. Sie wankte zur Hausbar und nahm sich einen Drink.

„Nun ist zwischen uns hoffentlich alles klar!“, schnarrte Danahey.

Sie sprach kein Wort, wünschte ihn zur Hölle, behielt es aber für sich, weil sie nicht noch mehr Prügel beziehen wollte. Er hätte ihr mit seinen Fäusten das Gesicht kaputtgemacht, dieser brutale Kerl. Sie wünschte ihm die Pest an den Hals. Als sie den Whisky trank, brannten die Lippen, die sie sich aufgebissen hatte, wie Feuer. Sie würde ein paar Tage lang nicht arbeiten können, und deswegen hasste sie Ramon. Vielleicht bot sich schon bald eine Gelegenheit zur Revanche, dann würde sie es diesem Saukerl heimzahlen.

Mistbock!, dachte sie, während sie den nächsten Schluck trank.

Jerry Mason begriff, dass diese Spannung nicht gut für sie war. Ramon Danahey hatte Ruths Widerstand nicht gebrochen. Die schlug bestimmt wieder zurück. Folglich war dies hier nur eine kurze Übergangslösung. Sie mussten sich ein anderes Versteck suchen.

Mason ging zum Telefon. Als er den Hörer abhob, fragte Danahey: „Wen willst du anrufen?“

„Rod.“

„Wozu?“

„Er soll uns eine andere Bleibe verschaffen.“

„Ist doch nicht nötig, wo wir doch mit Ruths Gastfreundschaft rechnen können.“

Das Mädchen reagierte auch auf diesen beißenden Spott nicht. Sie war noch nicht geschlagen, das würde Ramon noch früh genug merken. Vorläufig verhielt sie sich still.

Mason tippte Rod Fabares‘ Nummer in den Apparat. Der Besitzer des Wettbüros meldete sich sofort.

„Hallo, Rod, ich bin es: Jerry“, sagte Mason.

„Jerry!“, rief Fabares am anderen Ende des Drahtes überrascht aus. „Junge, so steckst du? Ich habe mir schon Sorgen um euch gemacht. Ist alles okay?“

„Soweit schon.“

„Brown hat sich eure Gesichter gemerkt. Die Bullen der ganzen Stadt fahnden nach euch. Ich habe im Radio gehört, dass ihr in eine Schießerei verwickelt wart.“

„Wir hatten Glück und konnten abhauen.“

„Mann, bei euch kriegt man graue Haare. Ist einer von euch verletzt?“

„Nein, Rod. Wir sind in Ordnung.“

„Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen“, sagte Fabares, und Mason hörte ihn aufatmen. „Ich habe schon Gott weiß was befürchtet. Ihr müsst für eine Weile von der Bildfläche verschwinden, Jerry. Bis ein bisschen Gras über die Sache gewachsen ist.“

„Der Ansicht bin ich auch. Deshalb rufe ich dich an. Bist du noch sauer auf uns?“

„Ach wo. Wir machen alle mal einen Fehler, das ist nicht so schlimm. Hauptsache, die Bullen kriegen euch nicht.“

„Hättest du ’nen Schlupfwinkel für uns?“

Fabares lachte. „Aber klar. Ihr könnt sicher sein, dass euch die Bullen da nie finden. Wo seid ihr?“

„Bei Ruth Stickles. In ihrem Apartment.“

„Geht nicht weg, hörst du? Bleibt, wo ihr seid, Jerry. Ich schicke euch jemand. Der wird euch abholen und zu eurem Versteck bringen.“

„Danke, Rod.“

„Ist doch Ehrensache, dass ich euch helfe“, sagte Fabares und legte auf.

Jerry Mason teilte dem Freund mit, was er mit Fabares abgemacht hatte. Ramon Danahey rümpfte die Nase. Jerry winkte ab. „Du kannst hierbleiben oder mitkommen, das ist mir schnuppe. Ich bleibe jedenfalls nicht hier, und wenn du auch nur ein bisschen Grips im Schädel hast, bestehst auch du nicht darauf, dass Ruth dich hier wohnen lässt.“

Danahey ging mit düsterer Miene zum Fenster. An der Rückfront des Apartmenthauses lief eine Feuerleiter von den obersten Stockwerken im Zickzack bis zur ersten Etage hinunter. Ramon Danahey öffnete das Fenster, zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz hinaus. Er wusste, dass er trotz des Sieges eine Niederlage erlitten hatte. Es war ihm nicht wirklich gelungen, Ruth in die Knie zu zwingen.

Es war tatsächlich vernünftiger, nicht hierzubleiben, sondern zu Fabares’ Versteck zu übersiedeln. „Hat Rod immer noch diese Stinkwut auf uns?“, fragte Danahey, ohne sich umzudrehen.

„Nein, die ist inzwischen verraucht.“

„Dann brauchen wir uns also um keinen neuen Job umzusehen.“

„Ich glaube nicht.“

„Auch ein Vorteil“, sagte Danahey und nahm wieder einen Zug von seiner Zigarette. Nachdem er das Stäbchen fertig geraucht hatte, schnippte er die Kippe aus dem Fenster. Sie flog in hohem Bogen, sich immer wieder überschlagend, vier Stockwerke in die Tiefe.

Ruth redete immer noch nichts. Sie schluchzte auch nicht mehr. Nach dem zweiten Whisky begab sie sich ins Bad, um ihr Gesicht wieder einigermaßen herzurichten. Als sie zurückkehrte, sah sie etwas besser aus, war aber von ihrer anziehenden Schönheit noch meilenweit entfernt. Im Augenblick erweckte ihr Gesicht nichts weiter als Mitleid.

Danahey verfolgte ihren Weg durchs Zimmer mit den Augen. Sie tat ihm nicht leid. Er hatte sie gewarnt. Wer nicht hören will, der muss eben fühlen, das ist ein alter Hut.

Es läutete. Ruth blieb stehen. Danahey blickte sie ungeduldig an. „Was ist? Willst du nicht aufmachen gehen?“

Sie setzte sich in Bewegung. Mechanisch. Sie schien alles mit großem Widerwillen zu tun. Jeder Schritt war ein stummer Protest. Aber sie verließ den Livingroom, um die Apartmenttür zu öffnen. Draußen stand Liang Shan. Ruth kannte ihn, und sein Anblick allein jagte ihr schon einen eisigen Schauer über den Rücken. Der hagere Chinese war ihr unheimlich.

Er lächelte, aber dieses Lächeln erreichte nicht seine Augen. „Sind Jerry und Ramon da?“

„Ja. Kommen Sie rein!“

Liang Shan wies auf Ruths Gesicht. „Hat Ramon das getan?“

„Was geht Sie das an?“

„Sie haben recht, das ist Ihre Sache“, sagte der Chinese und betrat das Apartment. Er ging mit dem Callgirl ins Wohnzimmer. Als Ramon Danahey und Jerry Mason ihn sahen, grinsten sie, denn sie dachten, sie würden von dem Chinesen abgeholt.

„Du weißt ein hübsches Versteck für uns, Liang Shan?“, fragte Jerry Mason.

„Aber natürlich“, gab der Chinese zurück.

„Und wo?“, wollte Mason wissen.

„Auf dem Friedhof“, sagte Liang Shan.

Und dann ging alles sehr schnell. Der Chinese zog seine Pistole. Sie war mit einem klobigen Schalldämpfer versehen. Jerry Masons Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sein Gesicht verzerrte sich, als Liang Shan die Waffe auf ihn richtete. Er streckte dem Chinesen abwehrend die Hände entgegen, während er schrie: „Liang Shan, bist du wahnsinnig? Das kannst du doch nicht tun!“

Der Chinese krümmte den Finger. Seine Pistole ploppte. Die Kugel traf das Opfer mitten in die Stirn. Jerry Mason wurde von dem Treffer zurückgerissen. Er machte drei eckige Schritte, prallte gegen die Wand und sackte zusammen.

Liang Shans Waffe richtete sich auf Ramon Danahey.

Ruth Stickles stand wie erschlagen da. Sie glaubte, in einen Alptraum geraten zu sein. Nicht, dass es ihr leid um Jerry Mason oder Ramon getan hätte. Es war einfach die Tatsache, dass in ihrem Apartment zwei Männer gekillt wurden, die sie schockte. Das brachte ihr eine Menge Ärger mit der Polizei ein, und auf den hätte sie gern verzichtet.

Ramon Danahey hatte eine Weile gebraucht, um die Schrecksekunde zu verdauen. Sobald er darüber hinweg war, handelte er. Seine Hand stieß ins Jackett. Er zog seinen Revolver, und als Liang Shan seine Pistole auf ihn richtete, drückte Danahey zweimal ab. Aber der Chinese war schnell wie ein Pfeil. Er federte zur Seite, und Danaheys Kugeln pfiffen an ihm vorbei.

Dann schoss er. Aber zu überhastet. Auch sein Schuss ging daneben. Danahey feuerte wieder und trieb den Chinesen hinter das Sofa in Deckung.

Kaum hatte sich Liang Shan dahinter verschanzt, kreiselte Danahey herum und versuchte über die Feuerleiter zu türmen. Er sprang auf die Fensterbank. Hinter ihm tauchte Liang Shan auf. Der Chinese wollte ihn aus dem Fensterrahmen schießen, aber Danahey sprang um einen Sekundenbruchteil früher. Vor dem Schalldämpfer platzte die Feuerblume auf, doch Danahey war bereits auf der Leiter. Hart hämmerten seine Schritte auf dem Metall.

Liang Shan schnellte hoch. Mit langen Sätzen rannte er zum Fenster. Um Ruth Stickles kümmerte er sich nicht. Sie schien für ihn im Augenblick nicht zu existieren. Er verfolgte sein wichtigstes Ziel. Es war noch nie passiert, dass er versagt hatte, und Rod Fabares sollte sich auch heute hundertprozentig auf ihn verlassen können. Ramon Danahey musste sterben!

Der chinesische Killer erreichte das Fenster. Danahey jagte die eisernen Stufen hinunter. Sein Gesicht war von der Anstrengung verzerrt. Er warf einen Blick nach oben, sah, wie sich der Chinese aus dem Fenster beugte und neuerlich auf ihn anlegte, und schoss gleich aus der Hüfte wie ein Western-Held. Sein Geschoss schrammte am Fenster vorbei über die Hausfassade, und dann stach eine Feuerlanze aus der Pistole des Killers. Danahey spürte einen harten Schlag gegen die Brust. Er riss verstört die Augen auf, denn er wusste, dass er tödlich getroffen war. Seine Glieder wurden schwer wie Blei. Er wollte den Revolver heben und zurückschießen, doch er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Seine Hand öffnete sich. Die Waffe rutschte ihm aus den Fingern. Er wunderte sich, dass er starb, ohne einen Schmerz zu fühlen. Schwarze Flocken tanzten vor seinen Augen. Er wankte, versuchte sich am eisernen Geländer festzuhalten, griff daneben und kippte nach vorn. Hart schlug er auf den Stufen der Feuerleiter auf und kugelte über sie hinunter. Schließlich verhedderten sich seine Arme und Beine im Gestänge, aber davon merkte er nichts mehr, denn zu diesem Zeitpunkt war er bereits tot.

Liang Shan wandte sich um. Er trat rasch vom Fenster zurück. Sein stechender Blick richtete sich auf Ruth Stickles. Das Callgirl erschrak. Sollte sie nun sterben? Die Augenzeugin!

Sie schüttelte entsetzt den Kopf. „Nein! Ich bitte Sie, tun Sie’s nicht!“, presste sie hervor. „Ich werde nichts sagen! Ich werde Sie nicht verraten!“

Liang Shan richtete emotionslos seine Pistole auf sie. Er zielte genau. Dem Mädchen brach der kalte Schweiß aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhr Ruth Stickles, was Todesangst war.

„Bitte!“, flüsterte sie. „Nicht! Lassen Sie mich doch leben!“

Der Chinese ließ die Pistole langsam sinken. „Sie haben keine Ahnung, wer Mason und Danahey erschossen hat!“

„Natürlich nicht!“, beeilte sich Ruth zu sagen.

„Es war ein Fremder.“

„Ja, ein Fremder.“

„Die Polizei wird Ihnen eine Menge Fragen stellen.“

„Ich werde niemals die Wahrheit sagen.“

„Sollten Sie umfallen, sehen wir uns wieder. Das hätte für Sie sehr schlimme Folgen.“

„Dessen bin ich mir bewusst“, sagte Ruth Stickles. Ihr Herz trommelte wie verrückt gegen die Rippen. Mein Gott, dachte sie, wenn er nur schon endlich gehen würde.

Der Chinese steckte seine Pistole ein, achtete auf den korrekten Sitz seines maßgeschneiderten Anzugs und verließ dann grußlos das Apartment des Callgirls.

Ruths Knie zitterten. Sie lehnte sich ächzend an die Wand, hatte das Gefühl, gleich zu Boden zu gehen, und konnte es nicht fassen, dass sie noch am Leben war.

Dort lag Jerry Mason. Blut war auf dem Teppich. Ramon Danahey lag irgendwo auf der Feuertreppe, und in Kürze würde es hier vor Bullen nur so wimmeln. Ach Gott! Die Schüsse waren von den Nachbarn gehört worden. Jemand sah den Toten auf der Feuerleiter und schrie seinen Schrecken grell heraus. Dann wurden Rufe nach der Polizei laut. Ruth Stickles erlebte das alles wie in Trance mit. Alles erschien ihr so unwirklich.

Liang Shan verließ das Gebäude unbemerkt. Er rannte nicht, sondern ging - fast gemächlich, als hätte er das reinste Gewissen. An der nächsten Ecke stand eine Telefonbox. Die betrat er. Er fütterte den Fernsprechautomaten mit einem Dime und wählte anschließend Rod Fabares’ Nummer.

„Alles erledigt?“, wollte Fabares wissen.

„Ja. Alle beide.“

„Und Ruth?“

„Die wird schweigen.“

„Bist du sicher?“

„Sie hat viel zu viel Angst, um zu reden.“

„Okay. Dann wäre dieses Kapitel ja jetzt abgeschlossen.“

„Könnte man sagen.“

„Gut, dann begibst du dich jetzt nach Los Angeles und kümmerst dich um Bount Reiniger. Weitere Instruktionen wird dir Christopher Kellerman geben. Ich wünsche dir einen guten Flug. Komm gesund wieder. Ich kann auf dich nicht verzichten.“

„Das wirst du nicht müssen“, sagte der Chinese und hängte ein.