Sie waren im Baltimore Hotel abgestiegen. Mit Blick auf die Olive Street. Der Flug von New York nach Los Angeles war ohne Zwischenfall verlaufen, und nun befanden sich Bount Reiniger und Wilkie Lenning in L.A.
Sie hielten die Augen ständig offen, rechneten damit, dass für die Gegenseite ihre Ankunft kein Geheimnis darstellte, denn wenn der Reporter Cameron Roeg von ihrem Auftrag erfahren hatte, dann wussten darüber garantiert auch Caledonias Freunde Bescheid.
Bount und Wilkie hatten die Nacht im Baltimore Hotel verbracht, und nichts war geschehen. Die Gegenseite verhielt sich still. Es war wohl die Ruhe vor dem Sturm, denn eines war sicher: Die Gangster würden versuchen, Bount und Wilkie gar nicht bis zu Terence Day kommen zu lassen.
Bount Reiniger hatte noch nicht versucht, mit Day Kontakt aufzunehmen. Er wollte zunächst einmal das Terrain sondieren und testen, wie viel Bewegungsfreiheit ihm die Freunde von Charles Caledonia ließen. Es würde vermutlich nicht viel sein, aber solange sich Day in seinem Versteck befand, war alles in Butter.
In der Standard Metropolitan Area Los Angeles-Long Beach lebten 7,2 Millionen Menschen. Ein ganz schöner Haufen, und aus diesem Terence Day herauszupicken war keine Kleinigkeit. Deshalb hatten sie ihn ja noch immer nicht. Bount hoffte, dass sich daran noch eine ganze Weile nichts ändern würde.
Er klopfte an Wilkie Lennings Zimmertür.
„Wer immer draußen sein möge, er möge hereinkommen!“, rief Bounts Mitarbeiter.
Bount trat grinsend ein. „Was hättest du getan, wenn ich einer von Caledonias Freunden gewesen wäre?“
„Dann hätte ich dumm aus der Wäsche geguckt“, antwortete Wilkie aufrichtig. Er war gut gelaunt, obwohl er noch kein Frühstück im Magen hatte. Bount war in der Lage, diese gute Laune mit einer unangenehmen Neuigkeit zu torpedieren. „Komm ans Fenster, ich möchte dir etwas zeigen“, sagte er.
„Die Aussicht habe ich schon genossen.“
„Ist dir auch der schwarze Camaro aufgefallen, der schräg gegenüber steht?“
„Ich interessiere mich nicht besonders für Autos.“
„Für dieses solltest du dich aber interessieren, denn es ist mit drei Galgenvögeln besetzt.“
Wilkie trat neben Bount ans Fenster. Er sah die drei Männer und knurrte: „Verdammt, denen kann man meilenweit ansehen, welchen Job sie ausüben.“
„Das sind Profis.“
„Wie lange steht der Camaro schon da?“
„Etwa eine halbe Stunde“, sagte Bount. „Die Jungs warten darauf, dass wir das Hotel verlassen.“
„Und dann?“
„Gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, sie fangen uns ab, oder sie folgen uns bis zu Terence Day und machen uns da gleich alle drei fertig.“
„Lieber Himmel, das droht ja ein heißer Tag zu werden.“
„Worauf du dich verlassen kannst. Dafür werden außer diesen dreien dort unten noch einige Ganoven mehr sorgen.“
„Was tun wir?“, fragte Wilkie Lenning.
„Erst einmal in Ruhe frühstücken. Ohne das bin ich den ganzen Tag unansprechbar.“
„Und das wollen wir doch nicht“, sagte Wilkie.
„Genau“, pflichtete ihm Bount bei.
Sie verließen Wilkies Zimmer und begaben sich in den Frühstücksraum. Während sie Kaffee tranken, Toast, Ei, Marmelade und Käse verzehrten, sagte Bount Reiniger: „Hör zu, wir werden die Kerle da draußen verwirren.“
„Gern, und wie?“
„Indem wir uns zwei Leihwagen besorgen. Du kennst Terence Days Adresse. Wir werden ihn getrennt aufsuchen, aber erst, wenn wir sicher sein können, dass uns niemand folgt. Es wird sich herausstellen, für wen von uns beiden sich die Ganoven entscheiden werden. Sie können sich nur an einen hängen, und der muss dann alles daransetzen, um sie abzuschütteln. Inzwischen kann sich der andere um Day kümmern.“
„Das klingt zwar einfach, könnte aber hinhauen“, sagte Wilkie.
Bount kniff ein Auge zu. „Wir werden den Brüdern ein Schnippchen schlagen, an das sie noch lange mit einer Mordswut im Bauch zurückdenken werden.“
Nach dem Frühstück bestellte Bount Reiniger bei Hertz telefonisch zwei Firebirds. Er verlangte, dass man die Fahrzeuge vor dem Hotel abstellen solle. Fünfzehn Minuten später wurden ihnen die Fahrzeugpapiere und die Schlüssel ausgehändigt. Bount lächelte seinen Assistenten an. „Jetzt kann es losgehen.“
„Darf ich den Anfang machen?“, fragte Wilkie.
„Meinetwegen“, sagte Bount.
Sie gingen ein Stück gemeinsam durch die Hotelhalle. Bount blieb stehen und wünschte dem hageren Jungen viel Glück.
„Dasselbe wünsche ich dir“, gab Wilkie zurück.
„Wir werden es den Nieten schon zeigen“, sagte Bount Reiniger überzeugt.
Wilkie wollte das Hotel verlassen, da eilte plötzlich ein Mann durch die Halle, den Bount Reiniger kannte.
„Verdammt“, sagte Bount Reiniger. „Wie kommt der denn hierher?“
Der Mann kam auf sie zu. Furcht glänzte in seinen Augen. „Mister Reiniger! Mister Reiniger!“
Bounts Brauen zogen sich zusammen. Er machte ein ärgerliches Gesicht. Der Mann, der keuchend heranhastete, war Cameron Roeg, der Reporter, dessen Bitte Bount kategorisch genug abgelehnt zu haben glaubte. Er hatte sich geweigert, Roeg nach Los Angeles mitzunehmen. Und nun war er doch da!
Roeg war ganz außer Atem. Sein Gesicht war gerötet, seine Hände zitterten.
„Sagen Sie mal, was hat denn das zu bedeuten?“, fragte Bount schneidend. „Was tun Sie in Los Angeles?“
„Ich kann mir denken, dass Sie jetzt sauer auf mich sind“, sagte Roeg kleinlaut, „aber ich wollte auf die Story nicht verzichten.“
„Deshalb sind Sie mir heimlich von New York hierher gefolgt?“
Cameron Roeg nickte. „Ich habe mir sogar einen falschen Bart angeklebt, damit Sie mich nicht erkennen. Ich war im selben Flugzeug wie Sie, und ich wohne nun ebenfalls hier.“
„Ich habe geahnt, dass Sie mit irgendeinem Trick versuchen würden, doch noch an Ihre Story zu^gelangen, aber ich lasse Sie wieder abblitzen. Da draußen steht ein Wagen mit drei Gangstern. Die Sache ist für Sie zu gefährlich, deshalb lasse ich Sie nicht einsteigen, Roeg. Da können Sie sich ausdenken, was Sie wollen.“
„Im Moment geht es mir nur noch am Rande um die Story“, gestand der Reporter.
„Gibt es etwas, das Sie mehr beschäftigt?“, fragte Bount.
„Allerdings, Mister Reiniger.“
„Was?“
„Als ich vorhin das Hotel verließ, folgte mir jemand. Zwei Männer waren es. Sie versuchten mich zu kidnappen.“
„Haben Sie reiche Eltern?“
„Ich habe überhaupt keine Eltern mehr. Verdammt, diese Kerle wollten mich auch nicht kidnappen, um von jemandem Lösegeld erpressen zu können ...“
„Sondern?“
„Um Sie unter Druck zu setzen.“
Bount staunte. „Mich?“
Cameron Roeg biss sich verlegen auf die Unterlippe. „Herrgott noch mal, ich könnte mich ohrfeigen.“
„Legen Sie sich bloß keinen Zwang an“, sagte Bount gallig.
„Ich war nach unserer Ankunft noch in der Hotelbar. Manchmal kann ich schlecht einschlafen. Ein paar Whiskys helfen mir meistens. Während ich einen Schlummertrunk nach dem anderen schluckte, fiel Ihr Name. Ich weiß nicht mehr, wer ihn genannt hat und auch nicht, in welchem Zusammenhang. Ich weiß nur, dass ich mich damit brüstete, Sie, den Top-Privatdetektiv von New York, zu kennen. Das muss den falschen Leuten zu Ohren gekommen sein.“
Bount spürte, wie ihm eine Zorneswelle in den Kopf schoss: „Sie Idiot!“
„Es tut mir ja leid, Mister Reiniger, aber daran lässt sich nun nichts mehr ändern. Ich bitte Sie, helfen Sie mir. Ich brauche Ihren Schutz. Vielleicht versuchen diese Kerle nochmal, mich zu erwischen. Wollen Sie schuld daran sein, wenn es ihnen gelingt?“
„Ich würde Ihnen am liebsten eine herunterhauen, Roeg!“, sagte Bount ärgerlich.
„Ich hätt’s verdient“, gab der Reporter zu.
„Jetzt schlottern Ihnen die Knie, Mister Superschlau. Aber zu Hause in New York wollten Sie nicht auf mich hören.“
„Mein Gott, verstehen Sie doch, als Journalist muss man ständig auf der Suche nach einer brandheißen Story sein. Wer keine Sensationen bringt, geht unter. Es gibt genug andere in der Branche, die dafür Kopf und Kragen riskieren. Sie müssen mich beschützen, Mister Reiniger. Sie dürfen mich jetzt nicht meinem Schicksal überlassen.“
„Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?“
„Die unternimmt doch erst etwas, wenn schon was passiert ist, und dann ist es für mich zu spät. Ich versichere Ihnen, ich werde Ihnen nicht zur Last fallen. Lassen Sie mich nur in Ihrer Nähe bleiben.“
„In meiner Nähe kann es verdammt bleihaltig werden“, sagte Bount.
„Ich würde mich trotzdem sicherer fühlen, als wenn ich auf mich allein gestellt wäre. Bitte, Mister Reiniger, Sie dürfen mir Ihren Schutz nicht verweigern.“
Bount presste die Kiefer zusammen. Der Teufel sollte Cameron Roeg holen. Er war wütend, denn nun hatte er diesen Klotz doch am Bein.
„Okay, Roeg“, knurrte Bount. „Aber von diesem Moment an tun Sie nichts mehr ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Ist das klar? Sie husten nicht einmal, wenn ich es Ihnen nicht gestatte.“
Der Reporter nickte hastig. „Ich akzeptiere jede Bedingung, bin mit allem einverstanden, wenn Sie mich nur nicht wegschicken.“
„Kennen Sie meinen Mitarbeiter Wilkie Lenning?“
„Ich habe schon von ihm gehört. Er soll Ihnen eine große Hilfe sein.“
„Das ist er. Du kannst jetzt gehen, Wilkie. Wir ändern unser Programm nicht. Es läuft alles so ab, wie wir es besprochen haben.“
Der Junge verließ das Hotel. Bount drückte ihm im Geist die Daumen. Roeg hätte sich an Wilkie ein Beispiel nehmen können. In New York war der Reporter noch unerschrocken aufgetreten, doch nun, wo er zum ersten Mal am eigenen Leib gespürt hatte, wie gefährlich es in dieser Stadt zur Zeit wirklich war, hatte ihn all sein Mut verlassen.
So etwas würde Wilkie Lenning nie passieren.