234 MacMillan Street, Queens, NYC - das war die Adresse jenes Mannes, der die Identität von Derek Pender angenommen hatte. Wir hatten einen Fotoausdruck dabei, der von den Videoaufzeichnungen im Johnson Plaza stammte. Der Killer, den wir als Brent Smith kannten, war kurz darauf zu sehen gewesen.
"Bin mal gespannt, ob wir gleich einen alten Bekannten an der Tür antreffen", meinte Milo.
Er überprüfte die Ladung seiner SIG.
Wenn Derek Pender wirklich mit Brent Smith identisch war, dann bedeutete das höchste Gefahrenstufe. Smith würde, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, das Feuer auf uns eröffnen.
Wir stellten den Sportwagen auf dem Parkplatz ab, der zu Haus Nummer 234 gehörte, einem zehnstöckigen Klotz mit Apartments und kleinen Wohnungen. Überwiegend kinderlose und unverheiratete Angestellte lebten hier. Leute, die in den Banken des Finacial Districts von Manhattan beschäftigt waren, sich dort aber die Mieten nicht leisten konnten. Oder Leute, die in der Verwaltung von NY beschäftigt waren.
Unsere Kollegen Jay Kronburg und Leslie Morell trafen mit einem blauen Chrysler unserer Fahrbereitschaft ein. Jay lenkte den Chrysler zur anderen Seite des Parkplatzes. Leslie meldete sich über Funk.
"Ich nehme an, wir warten noch, bis die anderen eintreffen!“, meinte er. Ein paar weitere Agenten waren zu dieser Adresse beordert worden. Schließlich mussten wir auf Nummer sicher gehen. Falls Derek Pender wirklich Brent Smith war, dann hatten wir es mit einem gefährlichen Profi-Killer zu tun, der mit allen Wassern gewaschen war.
Und bei dessen Ergreifung mussten zumindest sämtliche Ausgänge von Nr. 234 besetzt sein.
Bevor ich Leslie Morell antworten konnte, meldete sich Milo zu Wort. "Da ist er!"
"Wen meinst du?"
"Der Kerl, der gerade aus der Tür kommt, das ist der Kerl, den wir auf dem Videoband gesehen haben. Brent Smith..."
"Smith alias Pender geht auf den Parkplatz zu", rief ich in das Funkgerät. "Wir können nicht warten, sonst geht er uns durch die Lappen..."
Brent Smith blickte in unsere Richtung, schöpfte offenbar aber keinen Verdacht. Wir stiegen aus.
Auf der linken Seite von Nr. 234 befand sich ein weiterer, kleiner Parkplatz. Smith ging direkt darauf zu. Leslie und Jay waren ebenfalls ausgestiegen und näherten sich dem Parkplatz in einem Bogen.
Keiner von uns hatte seine Waffe gezogen oder trug den Dienstausweis des FBI sichtbar am Jackenrevers. Aber unser Gegenüber hatte offenbar so etwas wie einen sechsten Sinn, um zu ahnen, wann es für ihn brenzlig wurde.
Vielleicht lag es an den schnellen Schritten, mit denen wir uns ihm aus zwei verschiedenen Richtungen näherten. Aber andererseits durften wir nicht riskieren, dass Smith uns durch die Lappen ging.
Smith spurtete jetzt los.
Er rannte auf einen grünen Mitsubishi zu.
Sekunden später riss er dessen Fahrertür auf.
"Stehenbleiben, FBI!", rief Leslie Morell.
Smith vollführte eine halbe Drehung, während er sich gleichzeitig auf den Fahrersitz fallenließ. Er riss eine Pistole unter der Jacke hervor und feuerte zweimal kurz hintereinander. Leslie und Jay duckten sich, feuerten zurück.
Die Heckscheibe des Mitsubishi ging in Stücke. Smith startete. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, mitten durch die schlecht gepflegten Grünanlagen hindurch, die zwischen den Parkplätzen und Haus Nr. 234 lagen. Der Motor heulte auf.
Der Mitsubishi brauste direkt auf Milo und mich zu.
Von Smith war so gut wie nichts zu sehen.
Er kauerte hinter dem Lenkrad und blieb in Deckung.
Ich hob die SIG, zielte.
Milo ebenfalls.
Wir feuerten. Jeder von uns traf einen Vorderreifen. Mit lautem Knall zerplatzten sie, Sekundenbruchteile, bevor Milo und ich uns zur Seite warfen und auf dem feuchten Rasen abrollten, um nicht von dem Mitsubishi auf die Hörner genommen zu werden.
Unsere Verstärkung traf ein.
Mehrere Dienstwagen des FBI schnellten die MacMillan Street entlang. Die Kollegen erfassten sofort die Situation. Sie stellten ihre Wagen quer, sodass Smith keine Möglichkeit hatte, mit dem Mitsubishi über den vorderen Parklatz zur Straße zu gelangen.
Smith riss das Lenkrad herum und ließ den Mitsubishi auf den Felgen zurück zu Nr. 234 fahren.
Milo und ich rappelten uns hoch.
Weit konnte Smith mit seinem Gefährt nicht mehr kommen.
Als er die Rasenfläche verließ und den gepflasterten Weg erreichte, der zur Haustür führte, kratzten die Felgen über den Stein. Funken sprühten.
Smith schleuderte etwas aus dem Fenster heraus. Ein eiförmiger Gegenstand. Er landete auf dem weichen Rasen, rollte einige Meter weiter.
Uns entgegen.
Eine Handgranate!
"In Deckung!", schrie ich heiser.
Ich warf mich zu Boden, schützte das Gesicht mit den Händen. Die Detonation war mörderisch. Eine Welle aus Druck und Hitze brandete über mich hinweg. Was mit Milo war, wusste ich nicht. Für Sekunden hatte ich das Gefühl, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden.
Ich rollte auf dem Boden herum, kam wieder auf die Beine.
Mein Blick glitt zur Seite.
Der Ärmel von Milos Blouson hatte Feuer gefangen. Er rollte sich über den feuchten Rasen und erstickte die Flammen.
Von der Haustür aus feuerte Smith mit seiner Automatik.
Jay Kronburg erwiderte das Feuer mit seinem 457er.
Das Wummern der großkalibrigen Waffe war selbst auf diese Entfernung hin ohrenbetäubend.
Dann war von dem Killer nichts mehr zu sehen. Er war offenbar ins Innere von Nr.234 geflohen.
Oder er lauerte noch an der Tür und wartete nur darauf, dass sich einer von uns näherte...
"Alles okay, Milo?", rief ich.
"Geht schon", murmelte er.
"Dann gib mir Feuerschutz!"
Ich spurtete auf die Haustür zu, ehe mein Freund und Kollege irgendeinen Einwand machen konnte.
Milo kauerte kniend da, die SIG in beidhändigem Anschlag.
Er zielte auf die Tür.
Ich rannte in geduckter Haltung darauf zu.
Die Tür war ins Schloss gefallen.
Sie ließ sich nicht öffnen. Ein gezielter Schuss mit der SIG ließ das Schloss aufspringen. Ich riss mit einer wuchtigen Bewegung die Tür auf.
Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, wie Leslie und Jay sich von links näherten.
Ich stürzte mit der SIG in der Rechten in den Flur, wirbelte mit dem Lauf herum und suchte nach Brent Smith alias Derek Pender.
Möglicherweise war er die Treppe hinaufgehetzt.
Ich wandte mich in Richtung der Aufzüge.
Es waren insgesamt drei.
Ein Lift war defekt.
Jay und Leslie erreichten jetzt die Tür.
Dann folgte Milo.
"Wo ist er?", rief Jay.
"Keine Ahnung..."
"Ich nehme die Treppe", meinte Leslie. Er spurtete bereits los.
Jay folgte ihm. Milo ging auf mich zu. "Alle Eingänge sind im Visier unserer Leute", meinte er. "Smith - oder wie immer sein wahrer Name sein mag - kann auf keinen Fall Nr. 234 verlassen. Es sei denn, er lässt sich von einem Hubschrauber auf dem Dach abholen..."
Ich öffnete einen der Aufzüge. Die Liftkabine befand sich im Erdgeschoss. Die zweite Kabine war auf dem Weg nach oben, hatte aber noch nirgends angehalten.
Auf der anderen Seite des Flurs hing der Sicherungskasten.
Ich hob die SIG und feuerte mehrfach.
Die Projektile gingen durch die dünne Stahlverkleidung glatt durch. Ich feuerte, bis die Leuchtanzeige des Lifts erlosch.
"Jetzt sitzt er fest!", stellte ich fest.
"Vorausgesetzt, er befand sich tatsächlich im Lift."
Ich zuckte die Achseln.
"In der Falle sitzt er so oder so..."
Ich steckte die SIG zurück ins Holster. Mein Blick fiel auf Milos Hände. "Du hast dich ganz schön verbrannt..."
"Ich kann's aushalten!"
"Das muss schleunigst behandelt werden, wenn du mich fragst!"
Milo grinste etwas gequält.
"Ich wusste gar nicht, dass bei unserer Ausbildung in Quantico auch ein Medizinstudium dabei war! Da muss ich wohl irgendwie etwas versäumt haben..."
Nr. 234 wurde hermetisch abgeriegelt. Kollegen der City Police halfen uns dabei. Sie gingen im Umkreis des Hauses in Stellung und beteiligten sich auch an der Durchsuchung des Blocks.
Mit Hilfe des Hausmeisters wurde die Stromversorgung wieder in Gang gesetzt. Langsam setzte sich die Liftkabine in Bewegung. Abwärts.
Milo und ich warteten mit zwei weiteren Kollegen und einigen Männern der City Police beim nächstgelegenen Ausstieg im dritten Stock.
Wir alle hielten unsere Waffen im Anschlag, genau auf die Schiebetür gerichtet, die sich in wenigen Augenblicken öffnen würde...
"Jetzt bin ich gespannt, ob du recht hattest", murmelte Milo.
Die Tür öffnete sich.
"Hände hoch, FBI!", brüllte ich.
Die Lift-Kabine war leer.
"Das gibt's doch nicht", murmelte ich.
"Jesse, er könnte sich überall verkrochen haben. In jeder Wohnung... Wenigstens gibt es hier keine Tiefgarage!"
Ich ließ die SIG sinken.
Was Milo gesagt hatte, hatte einiges für sich. Ein Großteil der Wohnungen standen über Tag leer, weil ihre Inhaber in der City arbeiteten und erst abends zurückkehrten. Da konnte Smith sich eine ganze Weile verkriechen. Aber auch dort musste er damit rechnen, letztendlich von unseren Leuten geschnappt zu werden. G-men und NYPD-Cops würden von Wohnung zu Wohnung gehen...
Es wollte mir einfach nicht einleuchten, dass ein Profi der Extra-Klasse wie Brent Smith das nicht in seine Rechnung miteinbezogen haben sollte...
Ich atmete tief durch.
Leslie und Jay meldeten sich über Funk. Milo sprach mit ihnen.
Sie standen vor der Wohnung, die unter dem Namen Derek Pender angemietet worden war.
"Der Kerl hat das Schloss eigenmächtig ausgetauscht", meinte Jay. "Der Passpartout der Hausverwaltung passt jedenfalls nicht..."
"Am besten, ihr wartet, bis Verstärkung bei euch ist", sagte Milo.
"Ach, was! Smith wird nicht mehr hier sein..."
Wir hörten einen wuchtigen Stoß. Wahrscheinlich hatte Jay Kronburg gerade mit einem gewaltigen Tritt die Tür der Pender-Wohnung zur Seite fliegen lassen.
Das ohrenbetäubendes Knattern, das sich wie der Feuerstoß einer Maschinenpistole anhörte, drang krächzend durch das Funkgerät.
Wir hörten es aber aber auch so.
Die Verbindung brach ab.