Als Bount Reiniger ins Vorzimmer trat, erschrak June March. „Bount!“, rief sie besorgt aus.
„Meeker ist tot“, sagte Bount Reiniger mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. „Sie haben ihn erschossen, während ich mit ihm telefonierte. Er bat mich um Hilfe.“
Bount erzählte seiner Mitarbeiterin, welche Probleme es im Hafen gab und verließ sein Büro. Er fuhr mit dem Lift zur Tiefgarage hinunter und stieg in seinen Mercedes.
Er war so nervös, dass er sich mit einer Pall Mall zu beruhigen versuchte. Dieser Stolz, dieser verflixte Stolz!, dachte er wütend. Wir brauchen keine Hilfe. Wir können alle unsere Probleme selbst lösen. Ein Hafenarbeiter ist kein Schwächling und kein Feigling. Hilfe von der Polizei brauchen wir nicht, und wir kommen auch ohne die Unterstützung eines Privatdetektivs aus. Wir besitzen harte Fäuste, mit denen wir zuzuschlagen wissen, wenn man uns herausfordert.
„Ihr Dummköpfe!“, brummte Bount Reiniger. „Mit bloßen Fäusten stellt ihr euch gegen Schrotflinten! Diese Verbrecher lachen euch aus! Sie knallen euch ab wie die Hasen! Himmel noch mal, wie kann man nur so hirnverbrannt tapfer sein?“
Vor der Hafenkneipe hing eine dicht gedrängte Menschentraube. Zwei Patrol Cars der City Police befanden sich am Tatort. Die Fahrzeuge der Mordkommission würden in Kürze eintreffen.
Bount boxte sich durch die Menge.
„Na, na, na!“, begehrte ein schmuddeliger Schaulustiger auf. „Wir wollen alle was sehen!“
Bount lag eine ärgerliche Bemerkung auf der Zunge, er schluckte sie aber hinunter. Dem Cop, der ihn nicht durchlassen wollte, hielt er seine Lizenzkopie vor die Nase.
„Meeker hat mit mir telefoniert, als die Schüsse auf ihn abgefeuert wurden“, sagte er und durfte passieren.
Er betrat die schummerige Hafenkneipe. Der Gefühlspegel der Anwesenden reichte von Angst über Fassungslosigkeit bis zu Erschütterung und Entsetzen.
Uniformierte Polizisten hörten sich erste Aussagen an. Bount entdeckte die Wasserstoffblondine, die gestern den kleinen Freier abgeschleppt hatte. Sie saß am Tresen und schluckte Whisky. Selbst ein Mädchen wie sie, das wohl nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war, wurde mit dem Erlebten nicht so einfach fertig.
Bevor Bount Reiniger sich zu ihr begab, warf er einen Blick in die Telefonzelle, in der Carl Meeker lag. Beim Anblick der Leiche drohte es ihm den Magen umzudrehen.
Daran würde er sich wohl nie gewöhnen. Er wandte sich rasch um und ging zu dem großen, schwammigen Mädchen.
„Ich bin Bount Reiniger“, sagte er.
„Ich weiß“, erwiderte die Wasserstoffblondine. „Ich hab’ Sie schon mal mit Carl zusammen gesehen ... Das arme Schwein.“
„Wie ist Ihr Name?“, erkundigte sich Bount Reiniger.
„Erna Wade.“
„Noch einen Drink, Erna?“
„Auf jeden Fall.“
Bount bestellte zwei Whiskys. „Haben Sie gesehen, wie es passierte?“
„Zuerst kam Carl zur Tür herein. Verschwitzt, abgehetzt. Er sah aus, als wäre ihm ein Gespenst begegnet. Er blickte weder nach links noch nach rechts, sondern stürmte geradewegs in die Telefonzelle. Wen er anrief, weiß ich nicht ...“
„Mich“, sagte Bount.
„Dann müssen Sie den Rest ja mitgekriegt haben“, sagte Erna. „Zwei Kerle betraten plötzlich das Lokal. Zuerst schenkte ihnen niemand Beachtung. Es ging alles so verdammt schnell. Wir hatten nicht einmal Zeit, Carl zu warnen. Als wir begriffen, dass die Gangster maskiert und bewaffnet waren, als klar wurde, dass sie gekommen waren, um Carl zu killen, war’s schon zu spät. Sie rissen die Tür auf und ballerten drauflos. Carl hatte nicht die geringste Chance.“
„Und nach dem Mord?“, fragte Bount Reiniger.
„Wir waren alle wie gelähmt.“
„Das ist verständlich“, sagte Bount. „Niemand wagte sich zu rühren. Wenn es doch einer getan hätte, würde der auch nicht mehr leben. Die Maskierten hielten die abgesägten Schrotflinten in ihren Händen und den Finger am Abzug.“
„Kam Ihnen wenigstens einer der beiden bekannt vor?“
Erna Wade schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich sah die Killer heute zum ersten Mal.“
„Fiel Ihnen an ihnen irgendetwas auf?“
„Ehe ich richtig zum Denken kam, waren die beiden schon wieder verschwunden.“
„Machten sie sich zu Fuß aus dem Staub, oder benützten sie einen Wagen?“
„Keine Ahnung, Mister Reiniger.“
Bount legte das Geld für die Drinks auf den Tresen. „Danke, Erna“, sagte er.
„Sie sind der erste Schnüff... äh, der erste Privatdetektiv, der mich als Mensch behandelt, Bount. Ich habe zu danken.“
„Keine Ursache“, sagte Bount Reiniger.
Am Lokaleingang rumorte es, und gleich darauf betrat Captain Toby Rogers, Bounts langjähriger Freund, die Kneipe. Er brachte seine Crew mit - Fotograf, Doktor, die Leute von der Spurensicherung ...
Als er Bount Reiniger erblickte, stutzte er einen Moment, dann ging er auf ihn zu. Ohne ein Wort des Grußes brummte er: „Was machst du denn hier?“
„Ich wollte dich mal wiedersehen.“
„Fang bloß nicht wieder damit an, über Leichen zu stolpern. Das wird nämlich allmählich langweilig.“
„Wann hab ich das denn schon mal getan?“, fragte Bount.
„Das passiert dir doch laufend, und eben erst wieder, oder irre ich mich?“
„Für mich war Carl Meeker so etwas wie ein sehr guter Bekannter.“
„Und jetzt ist er tot.“
„Aber nicht deswegen“, sagte Bount Reiniger.
„Das habe ich auch nicht behauptet.“
„So hörte es sich aber an.“ Bount berichtete dem Captain, wie es dazu kam, dass er sich jetzt in dieser Hafenkneipe befand. Er verlor auch ein paar Worte über seine gestrige Unterhaltung mit Carl Meeker und erwähnte, dass er dem Mann das Angebot gemacht hatte, den Hafenarbeitern im Kampf gegen die Gangster beizustehen.
„Und er lehnte ab“, sagte Toby Rogers kopfschüttelnd. „Das war der größte Fehler, den er im Leben gemacht hat.“
„Und die Killer sorgten dafür, dass er ihn nicht mehr bereuen kann“, bemerkte Bount. „Die Verbrecher nahmen sich die Männer vor, die am unerschrockensten und energischsten gegen sie aufzutreten entschlossen waren: Carl und Herbert Meeker.“
„Drei Tote in nicht einmal vierundzwanzig Stunden“, sagte Toby Rogers.
„Ich wusste immer schon, dass du im Rechnen schwach bist“, meinte Bount, „aber dass du nicht einmal eins und eins zusammenzählen kannst ...“
„Wenn du nicht weißt, was sonst noch alles im Hafen gelaufen ist, halt lieber die Luft an“, entgegnete der Captain. Er erzählte Bount von dem Überfall auf Ralph Willoby. Nach den Mädchen suchte die Polizei immer noch. Toby Rogers hatte auch wenig Hoffnung, dass sie die Augenzeuginnen finden würden.
„Eine besondere Tragik ist“, fuhr der Captain fort, „dass sich Herbert Meeker mit dem Gedanken trug zu heiraten. Er suchte deswegen gestern Abend den Priester auf, und als er nach Hause kam, warteten die Killer in seiner Wohnung auf ihn.“
„Irgendeine brauchbare Spur?“, fragte Bount.
„Nein. Hast du nichts für mich?“
„Tut mir leid Häuptling.“
„Hast du schon Pläne?“, erkundigte sich Toby. „Lässt du die Finger von dieser Geschichte?“
„Sehe ich so aus?“
„Hätte mich auch ehrlich gewundert“, erwiderte Toby. „Niemand hat dich engagiert. Wenn du dich in diesen Fall mit hineinhängst, kriegst du dafür, dass du vielleicht Kopf und Kragen riskierst, keinen löchrigen Cent.“
„Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber Geld ist im Leben nicht alles, Toby. Ich sehe im Anruf des Ermordeten einen Auftrag, den ich zu übernehmen und nach bestem Wissen und Gewissen auszuführen gedenke“, sagte Bount Reiniger. „Ist das verständlich genug formuliert?“ Toby nickte. „Du machst also mit.“ Ihm schien das nicht unangenehm zu sein. Während die Beamten nach eventuellen Spuren suchten, der Fotograf seine Aufnahmen von der Leiche machte und diese anschließend dem Doktor überließ, blickte sich der Captain in der Kneipe um.
„Glaubst du, einer der Gäste kann mir helfen, Bount?“
„Sie werden dir alle dasselbe erzählen: Sie sahen zwei Maskierte mit abgesägten Schrotflinten, sogenannten Luparas, die zur Telefonzelle stürzten. Dann krachte es ... und fertig.“
„Ist nicht erfreulich viel, aber ich sehe eine Parallele: Die Kerle, die Ralph Willoby auf seiner Yacht überfielen, waren ebenfalls maskiert. Es könnte sich um dieselben Täter handeln.“
„An der Überlegung ist was dran“, stellte Bount Reiniger fest. „Erzähl mir, wer hinter diesen Hafenratten steht. Wer ist die Oberratte? Nenn ein paar Namen, wenn du kannst.“
„Hat Carl Meeker dir denn keine Namen genannt?“
„Nein, er wollte gestern meine Hilfe ja nicht in Anspruch nehmen.“
„Wie hat er nur so verrückt sein können, anzunehmen, dass er und seine Freunde mit hartgesottenen Gangstern fertigwerden könnten? Denen bedeutet ein Menschenleben nicht so viel.“ Toby schnippte mit dem Finger. „Na schön, dir verrate ich’s, weil du mein Freund bist. Der Boss der Hafenratten ist ein Bürschchen, das noch nicht einmal richtig trocken hinter den Ohren ist. Sechsundzwanzig ist der Knabe, clever und eiskalt. Wenn ich mal eine Nacht lang nicht schlafen will, brauche ich mir nur vorzustellen, was dieser Kerl schon alles ausgefressen haben könnte.“
„Wie heißt er?“, fragte Bount.
„Cameron Drake. Er besitzt beim Holland Tunnel eine Bar.“
„Habt ihr noch nicht versucht, ihm was ans Zeug zu flicken?“
„Versucht schon, aber gelungen ist es uns bisher noch nicht. Er versteht es immer wieder geschickt, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Es ist beschämend und ärgerlich, aber ich gebe es trotzdem zu: Cameron Drake tanzt uns allen auf der Nase herum. Er ist der King im Hafen, und er wird von Tag zu Tag größer.“
„Dagegen muss man etwas unternehmen.“
„Das sagt sich leider leichter, als es getan ist.“
„Man muss diesen Mistkerl doch irgendwie erwischen können“, sagte Bount Reiniger.
„Kennst du George Snyder von der Narcotic Squad?“
„Natürlich.“
„Seit vier Jahren steht Cameron Drake ganz oben auf seiner Wunschliste. Er hat ihn nicht nur nicht gekriegt, er hätte letzten Sommer sogar beinahe sein Leben verloren, als Cameron Drake zurückschlug. Selbstverständlich war dem gerissenen Gangster auch das nicht nachzuweisen. Viele Spitzel und Zuträger arbeiten für Drake. Er erfährt alles, was im Hafen läuft, und versteht es großartig, augenblicklich zu reagieren. Ich bin nicht immer froh darüber, wenn du dich an einem meiner Fälle beteiligst, doch diesmal begrüße ich es. Viele Hunde sind des Hasen Tod, heißt es. Und wenn es gegen Cameron Drake geht, können wir gar nicht genug Hunde sein.“
„Wenn man dir so zuhört, könnte man fast meinen, Drake wäre so etwas wie ein Superman der Unterwelt.“
„Er ist ein Tier, Bount. Das sollte eigentlich alles sagen. Treibe ihn in die Enge, und du wirst erleben, wie gefährlich er ist.“
„Wie heißt Drakes Bar?“
,„Friendly Chicken‘. Der Geschäftsführer ist ein gewisser Jack Renclock. Er ist gleichzeitig auch Drakes rechte Hand. Und das Mädchen, das in der Bar als Sängerin auftritt, Nelly Paloma, ist Drakes Freundin.“
„Mit einem Wort, ein richtiger Familienbetrieb.“
„Mir wäre wohler, wenn ich mich mit dieser Familie nicht zu befassen brauchte“, sagte Toby Rogers. „Ich habe auch so schon genug am Hals. Dass ich immer noch obenauf und noch nicht untergegangen bin, obwohl man mir riesige Lasten aufbürdet, grenzt an ein Wunder.“
Bount klopfte mit dem Handrücken auf Rogers Bauch. „Du trägst zum Glück ja deinen Rettungsreifen stets bei dir.“
Rogers quittierte diese Bemerkung mit einem unwilligen Knurren. Er liebte Anspielungen auf sein Übergewicht nicht. Um Bount Reiniger zu strafen, verlangte er von ihm eine Pall Mall.
Bount gab ihm noch Feuer, dann überließ er der Polizei das Feld.