„Es ist ein Jammer“, sagte Bount Reiniger zu June March. Er stand im Vorzimmer seiner Detektei, sprach gegen das Fensterglas, blickte hinunter in die Schlucht der 7th Avenue und war deprimiert. „Der Tod von Herbert und Carl Meeker lässt die starken Hafenarbeiter weich wie Schaumgummi werden. Cameron Drake hat den Mut dieser Leute brutal zerschlagen.“
Bount nahm einen Zug von seiner Pall Mall. Er blies den Rauch gegen das Glas, die kleinen blauen Wölkchen verteilten sich nach allen Seiten.
„Wenn niemand dir helfen will, ist dein Kampf gegen die Hafenratten wohl mehr als aussichtslos“, sagte das blonde Mädchen.
„Aussichtslos?“ Bount drehte sich mit einem Ruck um und sah seine Assistentin beinahe ärgerlich an. „Dieses Wort gibt es in meinem Vokabular nicht. Wenn diese Leute zu feige sind, mich weder mit Tipps noch mit Taten zu unterstützen, muss ich eben allein versuchen, Cameron Drake zu stellen.“
June sah ihren Chef besorgt an. „Mutest du dir da nicht ein bisschen zu viel zu, Bount? Darf ich dir helfen? Ich weiß, du siehst mich lieber hier hinter meinem Schreibtisch, aber ... Wie wär’s, wenn ich mich im ,Friendly Chicken‘ um einen Job bewerben würde?“
Bount schüttelte entschieden den Kopf. „Kommt nicht in Frage.“
„Ich könnte Drake und seine Leute bespitzeln.“
„Und was tust du, wenn einer von denen weiß, wer du bist?“
„Ich kann mich wehren, das hast du mir beigebracht.“
„Wehren, wehren“, brummte Bount Reiniger. „Gegen vier, fünf Verbrecher bist du machtlos. Das ,Friendly Chicken‘ ist ein gefährliches Rattennest. Du wirst ihm fernbleiben, haben wir uns verstanden? Ist das klar?“ Bounts Stimme wurde merklich schärfer.
„Schon gut, schon gut“, entgegnete June. „War ja nur ein Vorschlag. Du brauchst mir deswegen nicht gleich auf die Füße zu treten.“
Bount entspannte sich. „Entschuldige, June. Aber allein der Gedanke, du könntest diesem gewissenlosen Schurken in die Hände fallen, macht mich rasend.“
June March trat zu ihm und küsste ihn auf die Wange. „Du bist lieb, Bount.“ Er grinste. „Wie bitte? Wie war das? Würdest du das wiederholen?“
„Ich sagte, du bist lieb.“
„Vorhin sagtest du es anders.“
„So? Wie denn?“
„Mit ’nem Kuss.“
„Ich will es nicht übertreiben. Es könnte jemand zur Tür hereinkommen. Wie sähe das denn aus, wenn der Chef mit seiner Sekretärin ... Wir beide haben schließlich einen Ruf zu verlieren.“
„Haben wir? Das wusste ich nicht“, sagte Bount lächelnd.
„Wie geht’s nun weiter?“, wollte June wissen.
„Erna Wade nannte mir auch noch den Namen Fred Copperfield. Er war ein guter Freund der Meeker-Brüder. Vielleicht habe ich bei ihm mehr Glück als bei den andern. Wenn es mir gelingt, einen Hafenarbeiter auf meine Seite zu ziehen, folgen die andern vielleicht nach. Ich wollte mit Copperfield bereits reden, aber er war nicht zu Hause. Ich werde es in einer Stunde noch mal versuchen.“ Bount hatte Bob Jones in ein Krankenhaus gebracht und sich von dort aus mit Captain Rogers in Verbindung gesetzt, damit sein Freund auf dem Laufenden war.
Sobald die Ärzte den Killer für vernehmungsfähig erklärten, würden Rogers Männer versuchen, ihn weichzukriegen. Wenn er umfiel, wenn er Cameron Drake mit seiner Aussage belastete, war das Spiel gewonnen.
Toby hatte versprochen, dass Bount der Erste sein würde, der von dieser Sensation erfuhr. Im Moment schwieg das Telefon noch. Vor Jim Dentons Wohnung hatte der Captain zwei Mann postiert.
Wenn dieser Gangster den Beamten in die Hände fiel, würde Bount Reiniger auch von Captain Rogers umgehend Bescheid kriegen. Aber Denton bewies, dass er vorausdenken konnte.
Er ließ sich daheim nicht blicken.
Bount drückte die Pall Mall in den Aschenbecher, der auf June Marchs gläsernem Schreibtisch stand. Das Telefon schlug an. Bount Reiniger griff nach dem Hörer und meldete sich, in der Hoffnung, Toby Rogers würde ihm eine erfreuliche Neuigkeit berichten.
Doch am ändern Ende des Drahtes war nicht Toby, sondern Jim Denton.
Der Killer nannte zwar nicht seinen Namen, aber Bount Reiniger wusste dennoch nach wenigen Worten Bescheid.
„Reiniger, du verdammter Dreckskerl!“, spuckte ihm der Gangster seinen Hass ins Ohr. „Du denkst wohl, es wieder mal geschafft zu haben, wie? Aber freu’ dich nicht zu früh! Du hast nur einen von uns erwischt! Mit mir musst du noch rechnen!“
„Spuck keine großen Töne, Denton. Stell dich lieber der Polizei“, entgegnete Bount Reiniger hart.
Der Killer schwieg einen Moment. Jetzt wusste er, dass sein Komplize gesungen hatte. Reiniger kannte seinen Namen. „Du willst mit deinem Vorschlag wohl einen Heiterkeitserfolg erzielen!“, schrie Denton. „Mann, ich lach’ mich wirklich gleich krank.“
Bount schaltete auf Lautsprecher, damit June March das Gespräch mithören konnte.
„Warum sollte ich mich denn der Polizei stellen?“, fragte Jim Denton höhnisch.
„Dafür kann ich dir auf Anhieb vier triftige Gründe nennen“, erwiderte Bount Reiniger. „Der Raubmord an Ralph Willoby, der Mord an Herbert und Carl Meeker und der Mordanschlag auf mich!“
Denton lachte. „Ich verstehe immer nur Bahnhof und Koffer klauen, Reiniger. Du hattest Glück. Verdammtes Glück, Schnüffler. So was kommt nur alle Jubeljahre vor. Wir verließen uns zu sehr auf den Überraschungsmoment, das war ein Fehler. Aber du darfst noch lange nicht aufatmen. Ich kann diesen Fehler jederzeit wiedergutmachen. Du hast heute versucht, mich umzulegen, Reiniger ...“
„Das ist nicht wahr!“
„Ich sehe es aber so. Du hast auf mich geschossen.“
„Ich habe mich verteidigt.“
„Deine Kugel hätte mich tödlich treffen können, also war das in meinen Augen ein Mordversuch, Bount Reiniger! Dafür bin ich dir jetzt etwas schuldig, und ich habe meine Schulden noch immer beglichen. Es kann für dich kein schönes Gefühl sein, ständig damit rechnen zu müssen, dass ich plötzlich hinter dir auftauche.“
„Tu das lieber nicht, sonst liegst du hinterher möglicherweise neben deinem Komplizen.“
Denton lachte kalt. „Ich habe keine Angst, Reiniger. Du wirst liegen! Aber nicht in irgendeinem Hospital, sondern im Leichenhaus!“
Es knackte in der Leitung. Der Anrufer hatte aufgelegt.
June sah ihren Chef ernst an. „Sei vorsichtig, Bount, dieser Mann hasst dich wie die Pest. Er scheint zu allem entschlossen zu sein.“
„Je mehr er riskiert, desto früher treffe ich auf ihn“, sagte Bount Reiniger. „Und dann sorge ich dafür, dass er nicht noch einmal davonlaufen kann!“