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Auch Bount verließ das Hospital. Er fuhr zu Rocky Costello. Der schwarzhaarige Junge wohnte im ersten Stock eines zweistöckigen Hauses. Die Gegend war mies. Immer mehr Leute zogen von hier fort, wenn sie es sich nur halbwegs leisten konnten. Was hierher kam, waren Ratten wie Rocky Costello. Kerle, denen man nachts besser nicht begegnete. Und auch Süchtige, die Geld für ihren nächsten Schuss brauchten und bereit waren, dafür jedes Verbrechen zu begehen ...

Der Abschaum unterwanderte ganze Straßenzüge, und es wurde von Jahr zu Jahr gefährlicher, sich in ihnen aufzuhalten.

Bount betrat das zweistöckige Gebäude. Es roch nach kalten Küchendünsten, nach Zigarettenrauch und Unrat, den niemand entfernte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, lief Bount Reiniger die Treppe hoch.

Bevor er läutete, zog er die Automatic. Bei einem Burschen wie Rocky Costello war es angeraten, vorsichtig zu sein.

Drinnen schlug eine Glocke an. Bount lauschte. Er vernahm das leise Knarren des Parkettbodens. Rocky Costello war auf dem Weg zur Tür.

Der Gangster schlich sich heran, um einen Blick durch den Spion zu werfen. Bount hörte, wie Stoff über die Innenseite der Tür wischte. Jetzt musste ihn Costello sehen.

Wie würde der Verbrecher darauf reagieren? Bount nahm an, dass Costello in rasender Wut sofort zur Waffe greifen würde. Es war deshalb nicht angeraten, vor der Tür stehenzubleiben, denn wenn der Gangster los ballerte ...

Da passierte es schon.

Drinnen krachten mehrere Schüsse. Die Kugeln durchschlugen die Tür. Sie fetzten lange Splitter aus dem Holz. Bount Reiniger wäre ein toter Mann gewesen, wenn er noch vor der Tür gestanden hätte.

In der Wohnung machte Rocky Costello in diesem Augenblick auf den Hacken kehrt.

Er hörte den Burschen durch die Diele rennen.

Bount warf sich gegen die klapprige Tür. Sie hielt seinem wilden Ansturm nicht stand und schwang blitzartig zur Seite. Bount federte gehockt in die Diele. Er sah den Schatten Costellos.

„Halt!“, schrie er.

Rocky Costellos Antwort war eine Kugel. Sie bohrte sich knapp neben Bount Reiniger in die Wand. Bount feuerte zurück. Er konnte aber nicht verhindern, dass Costello aus dem Fenster kletterte.

Der Bursche tänzelte über den schmalen Sims. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Er keuchte. Sein Rücken wischte über die Hausfassade. Er erreichte den Blitzableiter und kletterte an diesem wieselflink hinunter.

Aus einer Höhe von zwei Metern ließ er sich fallen. Er kam schlecht auf, stieß einen gepressten Schrei aus, und setzte seine Flucht humpelnd fort.

Bount folgte dem Gangster auf demselben Weg. Er war schneller als Rocky Costello. Nachdem er den Sprung abgefedert hatte, hetzte er hinter dem Burschen her, der inzwischen in einer schmalen Seitenstraße verschwunden war.

Als Bount die Ecke erreichte, zog sich Rocky Costello gerade in ein aufgelassenes Theater zurück, das in den nächsten Monaten zu einem Supermarkt umgebaut werden sollte.

Bount erreichte es, verharrte einen Augenblick neben der zerschlagenen Glastür. Er versuchte den schwarzhaarigen Burschen mit seinem Gehör zu orten.

Nichts. Stille herrschte im Theater. Bount betrat es. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Er musste höllisch auf der Hut sein. Rocky Costello war ein verflixt gefährlicher Gangster, der alles daransetzen würde, um seine Freiheit nicht zu verlieren.

Bount huschte durch das düstere Foyer

Er gelangte zu einer Flügeltür, durch die man in den Theatersaal kam. Vorsichtig drückte er sie auf.

Nichts passierte. Costello wartete irgendwo in der Dunkelheit auf seine Chance. Der Gangster befand sich gewiss nicht zum ersten Mal in diesem Theater. Er war vermutlich mit den Örtlichkeiten bestens vertraut.

Das war ein großer Vorteil, den der Junge gegenüber Bount Reiniger hatte und den er zu seinem Nutzen ausspielen wollte.

Die Sesselreihen waren noch vorhanden. Einige waren umgeworfen worden, andere hatte man mutwillig kaputtgeschlagen. Bounts Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit.

Er blickte zu den Logen hinüber. War da nicht eben eine Bewegung gewesen? Ein Schatten, der an der Logentrennwand entlang huschte?

„Costello!“, rief Bount in den Theatersaal. Seine Stimme hallte laut. „He, Costello, gib auf! Wirf dein Schießeisen weg und komm mit erhobenen Händen hierher.“

Der Gangster verhielt sich still. „Das Versteckspiel hat keinen Zweck, Costello!“, rief Bount. „Früher oder später kriege ich dich doch!“ Der Verbrecher schien anderer Meinung zu sein.

„Wenn du mich zwingst, dich zu holen“, rief Bount, „riskierst du, dass ich dich verletze.“

Darauf schien es Rocky Costello ankommen lassen zu wollen.

„Du hast keine Chance!“, rief Bount. „Du entkommst mir nicht! Ich erwische dich genauso, wie ich Simon Little erwischt habe!“

„Du hast Simon nicht geschnappt, Schnüffler!“, brüllte Rocky Costello plötzlich wütend. Die Stimme kam von dort, wo Bount ihn vermutete. „Du bluffst, Reiniger. Diese Lüge nehme ich dir nicht ab!“

„Ich hab’ deinen Freund angeschossen. Die Ärzte haben ihm meine Kugel aus der Schulter geholt. Jetzt sitzt er bei Captain Rogers im Police Headquarters und wird mit einer Menge von Fragen bombardiert.“

„Ich glaub’ dir kein Wort, Spürhund!“

„Warum nicht? Traust du mir nicht zu, dass ich mit Simon Little fertig wurde?“

„Wenn du mich kriegen willst, verdammter Scheißer, musst du dich gewaltig anstrengen, das schwör’ ich dir!“

Rocky Costello tauchte hinter der Brüstung auf. Er gab mehrere Schüsse ab und ging sofort wieder in Deckung. Bount sprang in den finsteren Theatersaal. Er glitt geduckt an den

zahlreichen Sitzreihen vorbei. Teppichfragmente dämpften seine Schritte. Er bewegte sich fast lautlos vorwärts.

Costello, der Bount immer noch an der Tür vermutete, schnellte zum zweiten Mal hoch und feuerte dorthin.

Bounts Waffe schwang hoch. „Costello!“, rief er.

Der Gangster wandte sich ihm zu.

Sie feuerten gleichzeitig. Die Kugel des Verbrechers verfehlte Bount. Bount Reiniger hingegen traf. Sein Geschoss stieß den Burschen zurück. Costello brüllte auf. Bount hörte ihn fallen.

Aber Rocky Costello blieb nicht liegen. In aller Eile sprang er wieder auf die Beine. Bount hastete quer durch den Theatersaal. Mit schussbereiter Automatic lief er auf die Loge zu, in der sich Rocky Costello befand.

Der Verbrecher stieß die Logentür auf und rannte davon. Bount sprang auf die Lehne eines Stuhls und flankte einen Augenblick später über die Logenbrüstung. Der Geruch von verbranntem Kordit reizte seine Schleimhäute.

Er jagte hinter dem Burschen her. Am Ende des breiten Ganges blitzte Mündungsfeuer auf. Bount warf sich zur Seite. Er hielt dorthin, wo die Feuerblume aufgeplatzt war, und zog den Stecher seiner Waffe durch.

Bount konnte nur undeutlich sehen, was mit dem Verbrecher passierte. Der Junge wurde beinahe aus den Schuhen gerissen. Er wurde hochgehoben, herumgeworfen und zu Boden geschleudert.

Bount näherte sich Costello vorsichtig.

„Weg mit der Kanone!“, rief Bount Reiniger. „Junge, zwing mich nicht, noch mal auf dich zu schießen!“

Costello konnte seinen rechten Arm nicht mehr gebrauchen. Auch seine Hüfte war angekratzt. Aber er gab immer noch nicht auf. Er hasste den Detektiv. Er hasste Bount so sehr, dass er ihn um jeden Preis killen wollte.

Selbst um den Preis des eigenen Lebens.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengepressten Zähnen rutschte Rocky Costello über den Boden.

Der Revolver war ihm aus der Hand gefallen. Er lag zwei Yards von ihm entfernt. Trotzig schleppte sich der junge Gangster darauf zu. Bount erkannte die Absicht Costellos.

Der Junge erreichte die Waffe. Aber da war Bount mit einem Blitzstart bei ihm und trat auf die Hand, die den Revolver umklammerte. Rocky Costello stieß einen neuerlichen Schmerzensschrei aus.

Bount bückte sich und hob die Waffe auf.

„Du dreckiger Bastard!“, schrie Costello. Seine Stimme überschlug sich. Er war nahe daran, vor Wut zu heulen. „Ich möchte dich krepieren sehen!“

Bount Reiniger zerrte den Burschen hoch. „Warum machst du’s dir nur selbst so schwer?“, fragte er ihn. „Ich hab’ dir gesagt, dass du keine Chance hast. Du hättest mir glauben sollen.“

„Herrgott noch mal, was gäbe ich darum, dich killen zu können!“, schleuderte Rocky Costello dem Detektiv seinen ganzen Hass ins Gesicht.

Bount ging nicht darauf ein. „Wer hat euch bezahlt, damit ihr gegen mich antretet?“, fragte er scharf.

„Find’s raus, Saukerl!“, plärrte Costello. „Von mir erfährst du’s nicht, das gebe ich dir schriftlich!“

„Ich kriege euren Auftraggeber auch ohne deine Hilfe“, knurrte Bount. „Es wird nur etwas länger dauern.“

„Bis dahin hat er garantiert noch ein paar Morde mehr verübt“, sagte Rocky Costello und lachte wie ein Teufel.

Bount war von soviel Grausamkeit und Herzenskälte tief erschüttert. Er schleppte Rocky Costello angewidert aus dem Theater. Er verfrachtete ihn in seinen Wagen und lieferte ihn bei Toby Rogers ab. Um Costellos Verletzungen - den Schulterdurchschuss und den Streifschuss an der Hüfte - kümmerte sich der Polizeiarzt.