Juni, 1998
SoHo
Die dunklen Konturen der Häuserzeile flatterten am Wagenfenster vorbei. Das gespenstische Flackern der Rotlichter strich über die gusseisernen Fassaden. Ich drosselte die Geschwindigkeit unseres Dienstwagens.
Drei, vier Patrol Cars zählte ich. Dazu zwei Rettungswagen, und natürlich der Van eines Fernsehteams. Ich sah Blitzlichter zucken, ich sah das Licht eines Scheinwerfers, der die Szene vor dem Haus in der Wooster Street ausleuchtete, wie die Flutlichtanlage einen Fußballplatz.
Die Mediengeier gehörten schon fast so selbstverständlich zu einem Verbrechensschauplatz, wie die Opfer oder die Ermittler.
Bis zum Trassierband steuerte ich unseren Dienstwagen, einen grauen Mercury. Oder besser bis an die Absätze der vierzig oder fünfzig Schaulustigen, die sich davor drängten. Es war drei Uhr nachts, was das für Leute sein mochten, die um diese Zeit lieber tote Artgenossen angafften, als in Betten zu liegen.
"In SoHo hatten wir schon lange keinen Mord mehr", brummte Milo und gähnte. Genau wie ich war er direkt aus den Federn und ohne Kaffee und dergleichen aus seiner Wohnung gehastet, nachdem die Zentrale uns geweckt hatte.
Wir stiegen aus. "Gut möglich." Auch ich war um diese Zeit noch nicht besonders gesprächig. "Ich führ' kein Tagebuch über sowas."
Wir drängten uns durch die Menge. "FBI! Machen Sie bitte Platz!", rief ich barsch.
"Mensch, Leute - habt ihr nichts vor morgen? Geht doch endlich in die Kiste!" Auch Milo bemühte sich nicht besonders auffällig um Freundlichkeit. "Es gibt Schöneres zu sehen, als sowas hier!"
Vor einem beleuchteten Hauseingang eine Menge Männer - uniformierte und zivile Beamten des New York City Police Departments. Einer sah uns kommen, winkte und schaukelte auf uns zu.
Ein untersetzter Mann mit kurzen O-Beinen. An ihnen erkannte ich ihn - Barry Koch. Wie immer trug er einen Hut und einen dieser total unauffälligen Allerweltsanzüge des New Yorker Detectives vom Typ Pensionsanwärter.
"Hi, Jesse, hi Milo! Schade, dass man sich immer unter so mörderischen Umständen sieht!" Flüchtig aber kräftig drückte er uns die Hand. "Verdammte Schweinerei hier!"
Uns voran schaukelte er zurück zu der Szene vor dem Hauseingang. "Haben Sie dich versetzt oder degradiert?", fragte Milo. "Du tobst dich doch normalerweise an deinem Schreibtisch in der Bronx aus!" Barry war Deputy Inspector der Kriminalabteilung eines großen Reviers oben im Norden der Stadt.
"Alles falsch!", knurrte er. "Ich bin eigentlich im Urlaub. Aber irgendeiner ist hier unten in SoHo ausgefallen. Und wen holen sie aus dem Bett? Den guten alten Barry Koch!"
"Unser Arbeitgeber ist eben anhänglich wie ein Bernhardiner", sagte ich.
"Wenn er was von dir will, schon!" Mit einer Handbewegung scheuchte Barry die Beamten vor dem ausgeleuchteten Hauseingang auseinander. "Genau wie Vater Staat."
Die Cops wichen zurück. Sie schienen mir einen ziemlich betretenen Eindruck zu machen. Vor allem die Uniformierten.
Vor der Treppe auf dem Bürgersteig dann der vertraute Anblick: Ein weißes Leinentuch, unter dem sich die Umrisse eines menschlichen Körpers abzeichneten. Ein Anblick, an den ich mich wahrscheinlich nie gewöhnen werde.
Und zwei Schritte darüber, quer über die Stufen hingestreckt, die zweite Leiche. "Gottverdammte Schweinerei!", knurrte Barry. Einige der Cops fluchten leise vor sich hin.
Zwei Mitarbeiter des Zentrallabors näherten sich mit Leichensäcken. "Wartet noch einen Augenblick", knurrte Barry und ging in die Hocke. Er zog das Leinentuch von der ersten Leiche. "Officer Steve Peterson." Der Tote trug Uniform. Sein Gesicht war weiter nichts als ein zerknautschter, feuchter roter Lappen.
"Vom sechsten Revier. Alle beide. Ein Fall für euch - deswegen habe ich gleich euren Chef angerufen. Der förmliche Antrag liegt morgen Mittag auf seinem Schreibtisch."
Polizistenmorde gehören in den Zuständigkeit der Bundespolizei. Vorausgesetzt der Leiter der betreffenden Dienststelle beantragt unsere Einsatz schriftlich.
Barry rappelte sich ächzend hoch und machte zwei Schritte die Treppe hinauf, um auch das Leinentuch von der zweiten Leiche zu ziehen. "Officer Alexander Marresh." Der Mann lag rücklings auf den Stufen, die Arme weit von sich gestreckt, und mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er gerade dem Leibhaftigen begegnet. Er konnte nicht viel älter als Ende zwanzig sein.
"Hinterlässt drei kleine Kinder", krächzte Barry. Wieder fluchten die Cops hinter mir. Das Uniformhemd des Toten war blutdurchtränkt.
"Todeszeitpunkt?", wollte ich wissen.
"Höchstens eine halbe Stunde her." Die Polizeiärztin war die einzige Frau unter den Beamten.
Milo ging in die Hocke und betrachtete die Schusswunden genauer. "Sieht nach einem automatischen Gewehr aus."
"Oder nach einer Maschinenpistole." Barry fummelte eine Schachtel Philip & Morris aus seiner moosgrünen Jacketttasche und steckte sie sich zwischen die Lippen. "Warten wir den ballistischen Befund ab."
Ich sah mich um und entdeckte einen vierten Patrolcar innerhalb des Trassierbandes. Sein Rotlicht flackerte nicht. "Ihr Streifenwagen?" Barry nickte grimmig.
Ich ging um das Fahrzeug herum. Ein Dodge Ram Charger. Keine Schussspuren auf der Karosserie. Jedenfalls keine, die ich mit bloßem Auge erkennen konnte. "Schätze, sie sind aus dem Haus gekommen, und jemand hat sie erwartet."
"Korrekt, Jesse." Der Deputy-Inspector blies den Rauch in die Nachtluft. Es roch verführerisch. "Eine Männerstimme hat sich beim sechsten gemeldet - wann war das?" Er wandte sich an die umstehenden Cops.
"Kurz nach zwei, Sir", antwortete einer.
"...kurz nach zwei also. Jedenfalls hat der Anrufer diese Adresse angegeben und behauptet im fünften Stock oben würden die Fetzen fliegen, Mord und Totschlag, Schüsse und so weiter..."
Ich sah die Hausfassade hinauf. Kaum ein Fenster, das nicht erleuchtet war. Oben im fünften Stock hingen die Leute aus den Fenstern und starrten auf uns herab.
"Wir haben die Leute da oben verhört. Sie hätten ein Geburtstagsfest. Alles ganz friedlich, und keiner will die Polizei angerufen haben..."
Von der anderen Straßenseite flogen Musikfetzen herüber. Ich wandte mich um. Über den Köpfen der Gaffer glühte die Neonreklame eines Nachtclubs - Black Night Fever.
"Haben die Nachbarn, oder die Leute aus dem Club was gesehen oder gehört?"
"Die meisten Leute aus dem Haus sind von den Schüssen aufgewacht", sagte Barry. "Danach quietschende Reifen, aufheulender Motor - tja..." Er zuckte mit den Schultern. "...und das war's dann."
Er drehte sich um und nickte den Männern vom Zentrallabor zu. Sie entfalteten die Leichensäcke. "Der Rest ist dann euer Bier, Jesse."
"Diese verdammten Schweine...", flüsterte einer der Uniformierten.
"Ihr müsst sie schnappen, G-men!", bellte ein anderer. "Marresh war der beste Kumpel im ganzen Revier! Zur Hölle mit den...!"
"Und Peterson?", unterbrach Milo in seiner unnachahmlich trockenen Art.
Die Cops sahen sich betreten an. "Über Tote spricht man nicht", knurrte einer von ihnen. Die anderen wandten sich ab.
Die Reißverschlüsse der Leichensäcke surrten, die Toten wurden in den Leichenwagen geschafft. Eine gleichmäßige Bewegung ging durch die Gaffermenge - ihre Köpfe folgten den Kollegen vom Zentrallabor. Selbst als die Heckklappen des Leichenwagens zufielen, blieben die unzähligen Augenpaare daran kleben.
Ähnlich faszinierte Blicke findet man sonst nur im Pornokino oder auf dem Footballplatz. Der Tod scheint für die meisten Leute einen kaum zu überbietenden Unterhaltungswert zu besitzen. Besonders der gewaltsame Tod.
"Sonst noch was, das wir wissen müssten, Barry?"
"Im Augenblick fällt mir nichts mehr ein." Der Deputy ließ die Kippe auf den Bürgersteig fallen und trat sie aus. "Vielleicht das noch - in den letzten Monaten haben sie unseren Cops so manchen üblen Streich gespielt."
"Wer?" Ich horchte auf.
"Vielleicht werdet ihr's rausfinden", grinste der kleine Kleiderschrank. "In Harlem werden laufend Streifenwagen demoliert. Im Zwölften hat jemand vor zwei Wochen auf die Fensterscheiben des Reviers geschossen. Und bei uns oben in der Bronx müssen sie neulich eine ganze Basketballmannschaft engagiert haben, um sie den Eingangsbereich unseres Reviers vollscheißen zu lassen..."
"Und vor drei Tagen hat irgend jemand ein Einsatzfahrzeug in der Lower East Side abgefackelt", rief einer der Cops.
"Morgen habt ihr alles auf euren Schreibtischen!" Barry winkte seinen Assistenten und schaukelte auf seinen Dienstwagen zu. "Viel Glück!" Die Wagentüren fielen zu, und weg war er.
Milo und ich sahen den Leuten von der Ballistik noch ein bisschen bei der Arbeit zu. Sie suchten nach Geschosshülsen und Projektilen - auf dem Bürgersteig, im Treppenaufgang, unter den parkenden Autos. Einer der Spezialisten entdeckte einen Einschuss in der Hauswand und meißelte das Geschoss aus dem Stein.
Milo ließ sich die Patrone geben und betrachtete sie. "12 mm", brummte er. "Da wollte jemand Tabula rasa machen."
"Ja", bestätigte ich, "ziemlich derbe Handschrift." Mein Blick fiel auf die Hauswand. Rote Farbe glänzte im Scheinwerferstrahl. Sie schien noch feucht zu sein. Ein Graffiti. Ich trat einen Schritt von der Hauswand weg. Eine Fünf.
"Was ist hier abgegangen, Sir?" Ein Kamerateam war über das Trassierband geklettert.
Wir streckten ihnen beide Hände entgegen. "Keine Kameras bitte!"
"Mord. Zwei Polizisten", brummte Milo.
"Wann ist es passiert?... Weiß man genaueres über den Tathergang? ... Gibt es Hinweise auf Täter? .... Haben Sie Augenzeugen...?"
Sie schossen die Fragen auf uns ab wie Dartpfeile. Was soll man von den Medienleuten sonst erwarten. "Keine weiteren Kommentare." Ich winkte ab.
"Aus ermittlungstaktischen Gründen", knurrte Milo. Das Fernsehteam zog ab.
"Hast du die Zahl gesehen?" Milo schüttelte den Kopf. Missmutig betrachtete er das Graffiti. "Glänzt, als wäre es noch keinen Tag alt. Ich ruf mal das Labor zurück."
Er ging zu unserem Dienstwagen. "Einer von uns sollte noch mal die Leute im Haus befragen", rief ich ihm nach. "Und einer müsste sich drüben im Club umhören. Vielleicht finden wir doch noch jemanden, der was gesehen oder gehört hat."
Milo nickte und machte mit einer Geste deutlich, dass er sich um die Hausbewohner kümmern wollte. Also überquerte ich die Straße und stapfte auf den Eingang des Clubs zu. Die immer noch zahlreichen Gaffer bildeten eine Gasse, um mich durchzulassen.
Unter dem Neongefunkel des Clubnamens führte eine schmale Treppe in einen Keller hinunter. Mit jeder Stufe, die ich hinunterstieg, schwoll die Musik an. Ich öffnete die Metalltür, und ein Stakkato aus hämmernden Bässen und kreischenden Gitarren fiel über mich her. Rhythmisches Gebell heiserer Stimmen gaben dem Sound eine besonders stressige Note.
Eine Musik, die ein durchschnittliches Hirn nach spätestens einer Stunde in einen zusammengefallenen Käsekuchen verwandeln musste, schätzte ich.
Dichte Rauchschwaden waberten in dem Kellerloch, unzählige Köpfe steckten über schwarzen Plastiktischen zusammen, redeten, lachten, schrien, tranken. Eine kaum zu unterscheidende bunte Menschenmasse schüttelte sich auf der Tanzfläche, warf Glieder hoch, verrenkte Beine und Wirbelsäulen und schwang die Hüften. Das Gebell des heiseren Sprechgesangs und der Rhythmus des infernalischen Basses peitschte die zuckenden Körper zu Höchstleistungen auf.
In einer verglasten Box über der Tanzfläche saßen zwei junge Farbige. Der eine, ein großer, schlaksiger Bursche, brüllte ständig irgendwelche Sätze in die Musik hinein, der andere wirbelte zwischen zwei Plattentellern hin und her.
Ich schätzte die Anzahl der meist jüngeren Gäste auf zwei bis dreihundert. Keine lustige Aussicht, ihnen allen die gleiche Frage vorlegen müssen. Aussichtslos, das allein tun zu wollen. Ich griff nach meinem Handy und rief die Zentrale an. "Trevellian hier - ich brauch' Verstärkung."
Man versprach mir ein paar Agenten aus dem Bett zu holen. Bis die Kollegen kamen, beschränkte ich mich darauf die Leute, die den Club verlassen wollten, zu befragen. "Haben Sie vor etwa einer Stunde Schüsse gehört? Sind Ihnen Gäste aufgefallen, die gegen zwei den Club verlassen haben?", und so weiter. Ich erntete durchweg Kopfschütteln und Schulterzucken.
Nach einer halben Stunde tauchten Jay Kronburg und Leslie Morell mit einigen Kollegen auf. Zusammen grasten wir die Tische, die Tanzfläche und die Theke ab. Niemand wollte etwas gesehen oder gehört haben. Kein besonders überraschendes Ergebnis angesichts der dröhnenden Musik und der euphorischen Stimmung in diesem Kellerloch.
Ich stand am Rande der Tanzfläche und wollte aufgeben, als mein Blick auf die beiden Burschen in der Musikkanzel fiel. Der Einpeitscher hielt ein Mikro vor die Lippen und keuchte einen Rap zum Rhythmus der Bass- und Schlagzeugmixture - nicht aufhör'n, nicht aufhör'n mit dem Körperkontakt, klatscht in die Hände, klatscht im Takt, stärkt euch, denn die Nacht, die wird hart, schmeißt die Arme hoch, als gäb's keine Sorgen, und ab geht's zum todsich'ren Sound, und ähnlichen Nonsens. Wie gesagt, der Typ war groß und schlank, fast dürre. Ein Gestrüpp von gelb gefärbten Rastalocken stand von seinem schmalen Schädel ab. Trotz des gedämpften Lichtes hier unten trug er eine Sonnenbrille.
Meine Augen blieben an seinen Fingern hängen, mit denen er sich das Mikro fast in den Mund stopfte: Zeigefinger und Daumen waren mit roter Farbe verschmiert.
Das Graffiti auf der anderen Straßenseite erschien unangekündigt auf meiner inneren Bühne. Wie weggeblasen alle Müdigkeit - mein Jägerinstinkt war erwacht. Ich lief um die Glaskanzel herum, stieg die kleine Leiter zum Mischpult hinauf und hielt dem Rapper meine Dienstmarke unter die Nase. "Schicht, mein Freund - ich hab' ein paar Fragen!"
Widerwillig folgte er mir von der Musikkanzel herunter. Woher die Farbe an seiner Hand käme, wollte ich wissen. "Farbe?" Er glotzte seine Finger an, als würde er sie zum ersten Mal wahrnehmen. "Lippenstift, Mann, was denn sonst!?" Er wischte drüber. "Rote Scheiße ist es jedenfalls nicht!"
Seine herablassende Art, war nichts, was mich am frühen Morgen in Stimmung bringen konnte. Als er dann noch davon faselte, er hätte seinen Kühlschrank innen ausgepinselt, vielleicht auch seinen Goldfischen einen neuen Teint verpasst, packte ich ihn und schleppte ihn hinauf auf die Straße.
Ich nahm seine Personalien auf und überließ ihn dann den Leuten vom Labor. Sie untersuchten die Farbe auf seiner Hand. Natürlich konnte ich ihn nicht einbuchten, nur weil das Graffiti am Tatort mit der gleichen Farbe gesprayt zu sein schien, die ich auf seiner Hand entdeckt hatte.
An unserem Dienstwagen trafen wir Milo. "Nichts", sagte er. "Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Nur Schüsse und quietschende Reifen. Und ihr?"
"Nichts", brummte Jay ziemlich unwirsch. Er war noch nie der Mann gewesen, der am frühen Morgen ein freundliches Gesicht machen konnte.
"Wie meistens", sagte Leslie. "Niemand hat was gesehen, niemand hat was gehört." Er wies auf die inzwischen deutlich geschrumpfte Gaffergemeinde. "Dafür sehen und hören sie hinterher um so mehr."
"Setzen wir also den Bohrer an und spulen unsere Routine ab", sagte ich. "Dann werden wir schon etwas zu hören und sehen bekommen."
O ja - das sollten wir wirklich. Soviel, dass uns Hören und Sehen fast verging.