Juni, 1998
Lower Manhattan
Wie immer morgens war die Linie 4 gerammelt voll. Kaum noch ein Platz zu kriegen. Unwillige Blicke trafen den Mann, der fett und breit auf seinem Platz saß und die Zeitung ausbreitete, als säße er allein in der Metro.
Er unterschied sich nicht groß von den meisten, die um diese Zeit in den Financial District hinunterfuhren - unauffälliger Sommeranzug, sorgfältig geknotete Kravatte, blankgewiehnerte Schuhe, Aktenkoffer, Zeitung. Nur hielten die meisten Zeitungsleser ihr Blatt dicht vor den Augen und zu kleinen Quadraten zusammengefaltet. Das Druckbild der New York Times ist bewusst so gesetzt, dass man sie in kleine Quadrate falten und im Gedränge einer U-Bahn lesen kann.
Der Mann stülpte die Lippen aus und schüttelte den Kopf. Dann faltete er die Zeitung zusammen. "Schweinepack", zischte er. Laut genug, um von den Fahrgästen, die um ihn herum standen oder saßen, gehört zu werden.
Er hatte gerade ein paar Scheußlichkeiten in der New York Times gelesen. In der Midtown hatten Unbekannte ein Nobelrestaurant abgefackelt. Und in SoHo waren vorgestern Nacht zwei Polizisten erschossen worden.
Der Mann - er war ziemlich untersetzt und hatte ein ausgeprägtes Doppelkinn - verabscheute Verbrechen jeder Art. Oder fast jeder Art. Vor allem verabscheute er es, wenn die Staatsgewalt angegriffen wurde.
Für ihn - er hieß George Portman - für Portman also war das Leben in seiner Heimatstadt erst wieder lebenswert geworden, seit sein Chef Bürgermeister war. Rudolph Giuliani - eine wahre Lichtgestalt! Er hatte die Bettler von der Straße gejagt, die Graffiti-Sprayer aus der U-Bahn. Er hatte den Taxifahrern Benimmkurse verpasst, Restaurants mit Rauchverbot belegt und die Sozialhilfeempfänger mit Fingerabdruckpflicht, und so weiter, und so weiter.
Schade fand Portman nur, dass Rudy nicht genug Einfluss hatte, nach der Wiedereinführung der Todesstrafe für regelmäßige Hinrichtungen zu sorgen. Dann bräuchten brave Bürger nicht morgens bei der Fahrt zur Arbeit von Polizistenmorden zu lesen. Nein, ganz bestimmt nicht!
"Eigentlich komisch, dass Rudy der Justiz nicht ein bisschen mehr Dampf macht", dachte Portman. "Immerhin war er mal Staatsanwalt im Bezirksgericht von Manhattan."
Die Bahn verlangsamte, ein Ruck ging durch die schweigende Menge. Dann hielt sie und spuckte ihre menschliche Fracht aus. Mit dem Strom der vielen Menschen hastete Portman über den Bahnsteig der Chambers Street Station.
Kurz vor der Rolltreppe entdeckte er eine Gruppe Jugendlicher um ein blaues Standschild, etwa von einem Quadratmeter Fläche. Einige Schwarze waren dabei. Portman rümpfte die Nase. Er konnte nicht erkennen, was für eine Aufschrift das Schild trug - er näherte sich ihm von seiner Rückseite.
Sein Blick verfinsterte sich als er sah, was die Jugendlichen trieben - sie spuckten auf das Schild. Er beschleunigte seinen Schritt und drängte sich durch die Gruppe. "Was zum Teufel...?!"
"Cool bleiben, Mister!" Einer der jungen Afroamerikaner klopfte ihm besänftigend auf die Schulter. "Wir halten den Boden kaugummifrei, weiter nichts." Er holte tief Luft und spuckte seinen Gum auf das Schild.
Portman trat einen Schritt zurück. Jetzt erst begriff er, was die weiß-roten Ringe auf dem Schild zu bedeuten hatten - eine Zielscheibe. Gum-Target stand in großen, weißen Lettern auf dem Schild und in kleineren Buchstaben der Satz: Danke für ihre Hilfe den Boden gummifrei zu halten.
Portman stieß ein unwirsches Brummen aus und wandte sich der Rolltreppe zu. "Moderner Mist", fluchte er, "sicher nicht Rudys Idee."
Auf der Rolltreppe hörte er hinter sich rhythmisch hämmernden Lärm. Er drehte sich um. Zwei der jungen Schwarzen standen einige Stufen unter ihm. Einer hatte sich einen Ghetto Blaster auf die Schulter gesetzt. Das monströse Gerät spuckte einen Krach aus, als würde das Trinity Building zusammenstürzen.
"Musik nennen sie das", dachte Portman verächtlich. Die beiden Burschen folgten ihm über die Straße bis an die Säulenvorhalle des Municipal Buildings. Portman wurde misstrauisch. Aber dann grinsten sie ihn an und verschwanden in Richtung Andrew's Plaza.
"Warum zum Teufel bleibt ihr nicht in euren Löchern in der Bronx?", dachte Portman. Die beiden Afroamerikaner in Schlips und Kragen, die an ihm vorbei die Vortreppe des riesigen Baus hochstiegen, bemerkte er nicht.
Erst, als die Aufzugtür sich vor ihm auseinanderschob, sah er sie links und rechts neben sich auftauchen. Aber da war es schon zu spät.
Die Männer drückten ihn förmlich in den Lift hinein. "Übergeschnappt, oder wie?!", bellte Portman noch. Der Aufzug fuhr an. Zwischen dem vierten und dem fünften Stockwerk hielt er federnd - einer der beiden dunkelhäutigen Männer hatte den Stoppschalter umgelegt und ein langes Messer aus seiner Jackentasche gezaubert. Der andere hielt Portman einen .38er unter die Nase und stopfte ihm einen Geldschein in den Mund.
Portman begriff sofort. Blitzschnell schossen ihm Bilder aus den Jahren in Texas durch den Kopf. Eine wahre Bilderflut - keine schönen Bilder.
Der Film in seinem Kopf riss fast synchron mit dem hässlichen Knirschen, das die Klinge in seiner Brust verursachte. Er lag schon am Boden des Lifts, als die Türen sich auseinanderschoben und die beiden Männer ins Treppenhaus liefen.
Er wollte schreien, aber nur ein Röcheln kam über seine blutleeren Lippen. Ein kleiner schwarzer Wirbel rotierte vor seinen Augen. Ein Summen drang aus dem Wirbel. Der schwarze Wirbel raste, dehnte sich aus, und das Summen schwoll zu einem unerträglichen Dröhnen an. Wie das Geläut außer Rand und Band geratener Glocken. Oder wie ein voll aufgedrehter Ghetto Blaster.
Und dann nur noch Schwärze. Und absolute Stille. Und alles war vorbei...