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Jefferson Melroom war bester Dinge an diesem Frühsommermorgen. Nicht einmal der Stau auf der Greenwich Avenue konnte seine Stimmung trüben. Im Gegenteil - er genoss es, sich hinter dem Steuer seines nagelneuen Cadillac Seville von der Blechlawine Richtung Avenue of the Americans schieben zu lassen.

Normalerweise fuhr Melroom mit der U-Bahn in den Financial District hinunter zur Arbeit. Aber er war so stolz auf seinen neuen Wagen, dass er an diesem Morgen nicht hatte widerstehen können - wie ein kleiner Junge zu seinem ersten Mountain Bike war er nach einem hastigen Frühstück hinunter in die Tiefgarage gespurtet und hatte sich hinter das Steuer seines metallic-grauen Prachtstücks gesetzt.

Natürlich war der Cadillac nicht der einzige Grund für seine optimale Stimmungslage. O nein! Es war zwar ein absolut geiles Gefühl sich in diesem funkelnden Nobelschlitten inmitten von kleinkarierten Volkswagen, japanischem Mittelklasseschrott, und mickrigen Fords durch Manhattan schieben zu lassen - und der kleingewachsene Melroom genoss dieses Gefühl in vollen Zügen - aber er war nicht der Mann, dessen Ehrgeiz sich im Besitz eines teuren Autos erschöpfte.

Der Fünfzigtausend-Dollar-Wagen war gewissermaßen nur die Garnierung eines außergewöhnlichen Tages. Eines Tages, auf den er seit fast fünf Jahren unter großen Opfern von Zeit und Kraft hingearbeitet hatte. Heute, an einem der letzten Junitage des Jahres, würde er ganz offiziell der Vizepräsident eines der fünf größten Bankhäuser Manhattans sein! Vizepräsident der Transatlantik Traffic Bank. Und das mit noch nicht einmal sechsunddreißig Jahren!

Endlich die Ampel vor der Kreuzung mit der Ave of the Americans. Auf dieser Straße ging es noch langsamer nach Lower Manhattan voran. Machte nichts. Es war noch nicht einmal halbacht, und ob er jetzt um acht oder um halbneun in der Wallstreet sein würde, war vollkommen gleichgültig.

Er überlegte sich, wie er seinem Vater die Neuigkeiten servieren würde. Wenn er auch nichts mehr mit seinem Dad zu tun hatte - der alte Melroom sollte wenigstens wissen, dass er sein Geld nicht umsonst in die Ausbildung seines einzigen Filius investiert hatte.

Melrooms Studium an den Renommier-Universitäten Yale und Harvard hatte ein Vermögen verschlungen.

Sollte er ihm kommentarlos die neue Visitenkarte schicken? Oder über seine Mutter den Artikel aus der New York Times vom letzten Samstag lancieren? In dem einspaltigen Bericht wurde der neue Vizepräsident der Transatlantik Traffic Bank vorgestellt. Mit Bild und einer kurzen Vita.

Oder sollte er seinen alten Herrn zu der Fete einladen, die er für das kommenden Wochenende geplant hatte? Melroom musste schmunzeln. Ein alter Offizier der US-Army unter lauter schwulen Yuppies - das wäre noch ein Gag! Der alte Melroom würde wahrscheinlich einen Herzkasper kriegen.

Melrooms Schmunzeln verwandelte sich in ein bitteres Grinsen. Recht geschehen würde es seinem Vater ja. Seit fünfzehn Jahren hatte der sture Mister Saubermann kaum zehn Worte mit ihm gewechselt. Wenn seine Mutter nicht wäre...

Melroom kippte den Rückspiegel herunter und strich sich über die glattrasierte Haut. Sein Gesicht gefiel ihm heute morgen. Das Gesicht eines Winners - rechteckig, kantig, entschlossene graue Augen, dichte Brauen, dunkelblond, genau wie sein akkurat frisiertes Haar.

Dass seine altrosa Kravatte an seinem schmalen, kurzen Brustkorb wie ein großes Lätzchen wirkte, fiel ihm nicht auf. Jeder sieht nur das, was er sehen will. Und Melroom wollte sich als Winner sehen.

Endlich die Canal Street. Die war nur Richtung Holland Tunnel verstopft. Und dann der Broadway, und gegen halbneun ging es schließlich nach links in die Wall Street.

In der Tiefgarage der Bank stellte er sein neues Spielzeug ab. Er trennte sich nur ungern von dem Cadillac Seville. Gut hundertachtzig Meilen machte das gute Stück und hatte über 300 PS unter der Haube.

Zärtlich strich Melroom über den glänzenden Lack der Kühlerhaube. Bei einem Jahresgehalt von nicht mal hunderttausend Dollar waren fünfzigtausend kein Pappenstiel. Aber natürlich hatte Melroom noch diverse Nebeneinkünfte. Und ab nächsten Monat würde er die Schallgrenze von hunderttausend endlich überschreiten. So eine Beförderung schlug sich natürlich auch in ein paar Dollar mehr nieder, klar doch.

Mit dem Aufzug fuhr er in den achtzehnten Stock des Bankgebäudes hoch. Bevor er das Vorzimmer seines Büros betrat, verharrte er einen Augenblick und betrachtete sein Türschild. Sein neues Türschild - der Haustechniker hatte es erst vorgestern neben die ledergepolsterte Tür geschraubt. Dr. Jefferson Melroom, Investmentdirektor, Vizepräsident

Mit geschwellter Brust betrat er sein Vorzimmer. "Hi, Mrs. Kline", grüßte er seine Sekretärin. Sie lugte hinter ihrem Bildschirm hervor und winkte. Das erste halbe Jahr mit ihr war schwierig gewesen. Sie hatte es als persönliche Beleidigung aufgefasst, dass er nicht mit ihr ins Bett gegangen war. Seit er sich ihr geoutet hatte, war sie die Liebenswürdigkeit in Person.

Auf seinem Schreibtisch lagen die neuen Visitenkarte. Melroom zog den Kalender zu sich. Der Termin mit dem Chef war für halbzehn angesetzt.

Die Ernennung zu einem der drei Vizepräsidenten der Transatlantik Traffic Bank war bereits vor einer Woche über die Bühne gegangen. Die Ernennungsurkunde musste noch vom Chef unterzeichnet werden. Vom Präsidenten der Bank - von Robert Goldwater.

Die Übergabe der Urkunde war wie gesagt für halbzehn vorgesehen - der Chef und ein paar Vorstandsmitglieder wollten die Angelegenheit mit einem Glas Champus begießen. Wunderbar. Melroom sah auf seine Rolex - noch eine halbe Stunde Zeit.

Er trank einen Kaffee mit seiner Sekretärin, plauderte ein paar Takte mit ihr und ließ sich ihre neusten Romanzen schildern. Danach fuhr er mit dem Lift hinauf in die Chefetage.

Die Chefsekretärin wich seinem Blick aus, als er das Vorzimmer betrat. Eine Ecke seines Hirn registrierte das zwar, aber er dachte nicht daran, sich seine Hochstimmung von den Launen einer menstruierenden Frau vermiesen zu lassen.

Keine zwei Sekunden später allerdings wusste er, dass etwas aus dem Ruder gelaufen war: Im Chefbüro hielt sich kein einiges Vorstandsmitglied auf, und auf dem schweren Mahagoni-Schreibtisch des Bankpräsidenten konnte er weder eine Ernennungsurkunde noch Champagner und Sektkelche entdecken. Melrooms Mund wurde trocken und ein schwarzes Loch begann in seiner Magengrube zu pulsieren.

Umrahmt vom eleganten Luxus seiner Mahagonimöbel hockte Robert Goldwater in seinem tiefroten Ledersessel. Der große, silberhaarige Mann hatte seine Hände vor sich auf der Schreibtischplatte gefaltet. Aus glattem, völlig undurchschaubarem Gesicht blickte er zu seinem Manager auf. Melroom kannte diese Pokermiene - immer dann setzte sein Chef sie auf, wenn er jemandem eine Kröte zum Schlucken reichte.

"Setzen Sie sich, Mr. Melroom." Statt ihn in seine Sitzecke zu bitten, wies er auf den einzelnen Stuhl vor seinem Schreibtisch.

"Stimmt etwas nicht, Sir?" Melroom hatte seine Stimme nicht mehr unter Kontrolle - sie war plötzlich heiser. Er nahm Platz.

"Machen wir es kurz: Der Vorstandsvorsitzende hat seine Meinung geändert und Ihre Ernennung zum Vizepräsidenten storniert. Also kann ich die Urkunde auch nicht unterzeichnen."

Melroom fiel fast vom Stuhl. "Aber Sir! Die Angelegenheit war doch schon durch alle Instanzen gelaufen!", rief er aufgebracht. "Warum plötzlich dieser Meinungsumschwung?!" Er bemerkte selbst den weinerlichen Unterton in seinem Ausbruch. Die maßlose Enttäuschung erschütterte seine Selbstbeherrschung.

Ein verächtlicher Zug spielte für einen Augenblick um Goldwaters Mundwinkel. Dann sofort wieder das glatte Pokerface. "Sie wissen selbst, wie schnell sich die Dinge in unserer Branche ändern können, Melroom. Die Asienkrise, die marode Wirtschaft in Russland - in fünf Tagen haben wir mehr Geld verloren, als in den letzten beiden Jahren zusammen."

Fassungslos blickte Melroom seinen Chef an. Er kannte die wirtschaftliche Situation der Bank ganz genau - es war sein Job, sie zu kennen. Von hohen Verlusten in Asien und Russland war noch nie die Rede gewesen.

Goldwater stand auf. Während er zum Fenster ging zog er eine Schachtel Benson & Hedges aus seinem Jackett. Er gehörte zu den wenigen Bossen in den Chefetagen der Bank, die das obligatorische Rauchverbot ignorierten.

Der Rauch stieg über seinem Silberhaupt der getäfelten Decke entgegen. "Wir müssen den Posten des dritten Vizepräsidenten vorläufig vakant lassen." Goldwater betrachtete die Fassade von Wall Street Nr. 40. Der Turm der ehemaligen Bank of Manhattan lag direkt gegenüber des Wolkenkratzers, in dem die Transatlantik Traffic Bank ihre Zentrale untergebracht hatte. "Seien Sie froh, dass Sie nicht von der bevorstehenden Entlassungswelle erfasst werden."

Melroom riss sich zusammen. So sachlich wie irgend möglich, fragte er nach, legte Argumente auf den Tisch und protestierte gegen diese demütigende Vorstandsentscheidung. Umsonst. Goldwater spulte hartnäckig das Klagelied von der fernöstlichen Wirtschaftskrise und den angeblichen Verlusten ab.

Irgendwann blickte er demonstrativ auf seine Uhr. "Ich habe gleich einen wichtigen Termin, tut mir leid..." Er drückte die Zigarette aus und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Melroom wurde mit einem feuchten Händedruck abgespeist und zur Tür geschoben. "Übrigens, Mr. Melroom." Goldwater hielt die Klinke fest. "Jeder hätte Verständnis dafür, wenn sie sich nach so einer Enttäuschung nach einem neuen Wirkungsfeld umsehen würden. Selbstverständlich würden wir in diesem Fall der vorzeitigen Auflösung Ihres Vertrages zustimmen." Dann zog er die Tür auf und verabschiedete Melroom mit einem kalten Lächeln.

Wie vom Donner gerührt wankte Melroom zum Lift. Ganz langsam nur gab sein Verstand es auf, sich gegen die schlichte Wahrheit zu sträuben: Goldwater wollte ihn loswerden. Aus welchem Grund auch immer - der ganze Sermon eben in seinem Büro war von vorn bis hinten gelogen! Der Mann wollte ihn loswerden, weiter nichts!

Mary Klines, seine Sekretärin empfing ihn mit einem besorgten Blick. Wortlos ging er an ihr vorbei. In seinem Büro holte er sich die neusten Geschäftszahlen auf den Bildschirm. Es hatte tatsächlich Verluste gegeben in den letzten Tagen. Vor allem gestern. Aber lange nicht in dem Ausmaße, wie Goldwater behauptet hatte.

Nein - es musste einen anderen Grund geben, ihm den Sessel des Vizepräsidenten zu verweigern. Einen Grund, den Goldwater erst in den letzten Tagen ausgegraben hatte.

Seine Sekretärin kam mit zwei Tassen und einer Kanne Kaffee in sein Büro. "Ich habe davon gehört", sagte sie mitleidig. "Man spricht schon im ganzen Haus davon."

"Und was weiß die Gerüchteküche über die wahren Gründe?", fragte Melroom bitter.

Mary Klines schenkte ihm Kaffee ein. "Genau davon spricht ja das ganze Haus." Er musterte sie lauernd. Sie stellte die Kanne ab, stützte sich auf seinen Schreibtisch und sah ihm direkt in die Augen. "Wer weiß noch davon außer mir?"

"Was meinen Sie? Ich versteh' kein Wort!" Er verstand genau. Hastig löste er den Knoten seiner Kravatte. So ungeduldig als würde er keine Luft mehr bekommen.

"Ich spreche von Ihrer Vorliebe für Männer."

Sein Unterkiefer sank herunter. Als wollte er Luft holen, um dann ganz laut zu schreien. Doch kein Ton kam über seine Lippen. Für Sekunden starrte er seine Sekretärin nur an. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Vor drei Tagen im Oak Room des Algonquin Hotels! Sein Lover und er hatten dort ein Kabarett besucht. Nach der Vorstellung an der Hotelbar hatten sie Goldwaters Tochter getroffen. Melroom kannte sie aus dem Nachtleben Manhattans. Und verstand sich eigentlich ganz gut mit der Jurastudentin.

An der Bar des Algonquins hatten sie geplaudert und den einen oder anderen Cocktail geschlürft. Und irgendwann hatte er ihr von seinem Sommerhaus in Fire Island Pines erzählt. Virginia Goldwater hatte wahrscheinlich gehört, dass diese Strandkommune in Staten Island fast ausschließlich aus Schwulen bestand. Und ihrem Vater gegenüber eine entsprechende Bemerkung gemacht...

Melroom ließ seine Sekretärin in der Gerüchteküche lauschen. Am späten Nachmittag wusste er, dass der stockkonservative Goldwater den Vorstand bekniet hatte, die Ernennung rückgängig zu machen. Und dass seine Kündigung schon beschlossene Sache war.

Direkt von der Bank fuhr Melroom zu seinem Anwalt. Der sah keine Chance für einen Prozess, solange die Kündigung nicht auf dem Tisch lag.

Am Abend ging er in eine Schwulenbar in Chelsea. An einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke der Bar hielt er sich an seinem Glas fest und verfiel in finstere Grübeleien.

Seine Karriere war so gut wie gelaufen. Natürlich gab es an der Wallstreet schwule Broker. Aber keine, die sich outeten. Und in der Transatlantik Traffic Bank wusste nun jeder, dass er homosexuell war.

Goldwater hatte seinen raschen Aufstieg bei der Bank schon immer misstrauisch belauert. Er hatte Angst, eines Tages von dem Jüngeren und Besseren verdrängt zu werden.

"Du aalglatter Schleimer, du", murmelte Melroom vor sich hin. "Ich als dein Vize - das konntest du nicht ertragen..."

Er trank soviel Whisky, bis seine Enttäuschung in Bitterkeit und schließlich in Hass umschlug...