23

Das Fünfte Revier war praktisch ausgefallen. Überall Leute von der Spurensicherung, Sanitäter, Ärzte, Fotografen und Presseteams. Und dazwischen fassungslose Cops. Sie standen schweigend in kleinen Gruppen auf dem Gang vor dem Office. Sie hockten die Gesichter hinter ihren Händen verborgen im Wartebereich. Sie saßen rauchend auf der Vortreppe.

Ich sah Cops wütend vor sich hin fluchten, ich sah Cops die sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischten.

Auch der Chief of Department war erschienen. Und unser SAC. Jonathan D. McKee stand mit dem Polizeichef in einer Gefängniszelle. Vor ihnen auf der Pritsche kauerten ein Mann und eine Frau. Beides Polizeibeamten. Die Frau war in eine Decke gehüllt. Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Weinkrämpfe schüttelten ihren Körper durch. Ihr Kollege, ein junger, afroamerikanischer Sergeant, hielt sie fest umschlungen.

Eine erschütternde Szene. Ich beobachtete sie nur von weitem durch die offene Tür hindurch, die das Office vom Zellentrakt trennte. Der Mann, neben dem ich kniete, versuchte vergeblich Milo und mir zu schildern, was passiert war. Er hieß Harper, und war in dieser Nacht der diensthabende Chef des Reviers gewesen. Sein Unterkiefer war mehrfach gebrochen. Und auch sonst stand es nicht gut um ihn.

"Tut mir leid, Sir." Der Arzt, der sich um den Verletzten kümmerte, winkte den Sanitätern. "Der Mann ist genauso wenig vernehmungsfähig, wie seine beiden Kollegen. Er muss so schnell wie möglich in eine Klinik. Innere Verletzungen sind nicht auszuschließen."

Ich drückte dem Captain die Hand und stand auf. Die Sanitäter hoben ihn vorsichtig auf eine Trage und trugen ihn aus dem Office.

Kurz darauf kam der Chef aus dem Zellentrakt. Er trommelte uns im Personalraum zusammen. "Sie haben eine Blendgranate durch das Fenster geworfen." Unser Chef sprach mit tonloser Stimme. Man merkte ihm deutlich an, wie aufgewühlt er war. Jedem von uns merkte man das an.

"Fünf Beamte befanden sich zur Zeit des Überfalls im Revier." Jonathan D. McKee ließ sich auf einen der Stühle im Raum sinken. "Und dreizehn weitere Personen. Einige im Zellentrakt, die meisten auf dem Gang im Wartebereich."

"Die drei Kollegen, die wir im Office gefunden haben, sind zusammengeschlagen worden", sagte Clive. "Keiner war in der Lage, uns etwas Brauchbares zu erzählen. Was ist mit den beiden im Zellentrakt?"

Die Miene unseres Chefs wurde bitter. "Sergeant Meridian ist offenbar nur bedroht worden. Aber seine Kollegin..." Er verstummte und fuhr sich mit den Handflächen über das Gesicht. "...Officer Luciano wurde vergewaltigt."

Die meisten von uns senkten betreten den Blick. "Kann sie die Täter beschreiben?", fragte ich.

Der SAC schüttelte müde den Kopf. "Sie war weitgehend geblendet. Konnte so gut wie nichts sehen. Sie glaubt, dass der Mann einen Schnurrbart trägt. Erst als alles vorbei war, konnte sie ein paar Umrisse erkennen. Stechende Augen habe der Bursche gehabt. So nannte sie es. Aber in einer Nachbarzelle sitzt ein Drogendealer aus der Lower East Side, ein Afroamerikaner namens George Sidney. Er sagt, sie seien zu dritt gewesen und sie hätten Strumpfmasken getragen. Einer war die ganze Zeit draußen bei Meridian. Also können wir von vier Tätern ausgehen. Und der Dealer ist sich sicher, dass es keine Weißen waren. Er glaubt, dass die Männer zu einer Straßengang aus der Lower East Side gehören. Masters of the Lower East Side nennt sich die Bande. Eine ziemlich alte Gang."

"In die Schießerei an der Metrostation Spring Street, Lafayette Street waren ebenfalls Mitglieder der Masters beteiligt", schaltete Orry sich ein. "Einer der Cops erzählte das vorhin."

"Dass alle Streifenwagen im Einsatz waren..." Milo schüttelte nachdenklich den Kopf. "Und ziemlich weit entfernt von der Zentrale - das riecht förmlich nach Strategie."

"Du meinst, die Kerle haben möglichst viele Cops vom Revier weggelockt, bevor sie zuschlugen...?" Jay machte ein ungläubiges Gesicht. "Erzähl' mir nicht, dass hier irgend jemand Krieg gegen uns..."

"Überprüfen Sie sämtliche Einsätze der Patrol Cars des Fünften Reviers zur Tatzeit!", unterbrach ihn unser Chef. "Knöpfen Sie sich jeden vor, den die Kollegen in der Metrostation festgenommen haben. Oder in der Kneipe, wo die Schlägerei stattfand." Er sah uns an und sprach dann mit gesenkter Stimme weiter. "Und überprüfen Sie Sergeant Meridian. Ich bin froh, dass ihm nichts zugestoßen ist - aber..." Er unterbrach sich und wandte sich ab. "...irgendwie finde ich es auch merkwürdig."

"Vielleicht hat ihn seine Hautfarbe gerettet", sagte ich. Ungläubige Blicke trafen mich.

"Du meinst Black Panther, Rassisten oder sowas?" Jo konnte sich mal wieder nicht mit meiner These anfreunden, seine skeptische Miene sprach Bände.

"Es ist doch auffällig, oder?"

Unser Chef begann mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln. "Haben die Täter irgend etwas zurückgelassen?"

"An was denken Sie, Sir?", fragte Clive.

"An das Graffiti und an die Fünf-Dollar-Note im Mund des toten Portman."

"Nein, Sir." Clive schüttelte den Kopf. "Wir haben nichts dergleichen entdeckt."

"Vielleicht mussten sie es nicht zurücklassen." Der Gedanke überfiel mich wie ein Fieberschauer. "Es gibt vierunddreißig Polizeireviere in Manhattan. Das, in dem wir uns gerade befinden, trägt die Nummer Fünf..."

Die Fahndung lief auf Hochtouren. Tausende von Cops aus dem ganzen Stadtgebiet wurden in die Down Town kommandiert. Little Italy und Chinatown wurden praktisch von der City Police und unseren Leuten eingekesselt. Buchstäblich jedes Haus durchkämmten sie. Nichts.

Bis zum Morgengrauen blieben wir im Fünften. Zeugenbefragung, Verhöre der Männer, die wegen der Kneipenschlägerei und dem Schusswechsel in der Metrostation festgenommen worden waren, Interpretation der Spuren, und so weiter.

Auch wenn die Gangmitglieder es weit von sich wiesen irgend etwas mit dem Überfall zu tun zu haben, gerieten die Masters of the Lower East Side immer mehr in unser Visier.

Der Drogendealer, der Zeuge der Vergewaltigung gewesen war, schwor Stein und Bein, dass er am Handgelenk eines der Täter die Tätowierung M. gesehen hatte. Einer der festgenommenen Jugendlichen trug die gleiche Tätowierung am Nacken. Und er war Mitglied der Masters.

Zu Tagesbeginn rief uns unser Chef zu einem letzten Meeting am Tatort zusammen. Wir trugen die Fakten zusammen. "Wir werden das Umfeld dieser Straßenbande durchleuchten. Vorläufig gilt eine absolute Informationssperre über diese Spur. Ich werde mit Washington sprechen. Vielleicht lohnt es sich, einen Undercover-Agenten in das Milieu einzuschleusen. Denken Sie bitte darüber nach, Gentlemen."

Später fuhren Milo und ich in die Federal Plaza. "Was hältst du von der Idee, verdeckt zu ermitteln?", wollte mein Partner von mir wissen.

"Ich bin gespalten", sagte ich. "Das wäre nur zu rechtfertigen, wenn die Überfälle der letzten Wochen tatsächlich von denselben Leuten begangen wurden. Dann hätten wir's nämlich mit einer Art Terroristenbande zu tun. Aber ganz sicher scheint mir das nicht zu sein."

"Du warst es doch, der uns auf den Gedanken gebracht hatte", wunderte sich Milo.

"Stimmt." Ich zuckte mit den Schultern. "Vielleicht bin ich auch gespalten, weil so ein Einsatz lebensgefährlich ist."

"Ein Undercover-Agent", seufzte Milo. "Der muss nicht nur schwarze Haut haben, der muss auch mit allen Wassern gewaschen sein, wenn er in diese Scheiße eintauchen will, ohne sich eine Kugel einzufangen."

"Ich wüsste da jemanden", sagte ich.

Milo nickte langsam. "Ich auch."

Keiner von uns beiden sprach den Namen aus. Aber jeder wusste, an wen der andere dachte. An Rose Warrington aus dem District Office in San Francisco.