Anfang Juli, 1998
Upper East Side
Melroom traf sich mit dem Reporter in einem Bistro in der Fifth Avenue ganz in der Nähe des Guggenheim Museums. Es war ein milder Sommerabend, die Sonne stand über den Apartment-Häusern auf der Ostseite des Central Parks und tauchten die Stadt in ein mildes Licht. Auf der Fifth Avenue schoben sich in beiden Richtungen die Blechkarawanen der ausklingenden Rushhour vorbei.
Der Mann von der New York Times blätterte noch einmal die Unterlagen durch,die Jefferson Melroom ihm vorgelegt hatte: Sein Arbeitsvertrag, seine neuen Visitenkarten, die Hausmitteilung, in der ihm zu dem neuen Titel gratuliert wurde, und schließlich das offizielle Schreiben, mit dem ihm Goldwater die Stornierung der Ernennung zum Vizepräsident der Transatlantik Traffic Bank mitteilte.
Der Brief war erst in der vorigen Woche bei Melroom eingegangen. Fünf Tage nach dem niederschmetternden Gespräch im Chefbüro. Goldwater hatte seitdem kein Wort mehr mit ihm gesprochen.
"Das ist wirklich niederschmetternd, Mr. Melroom." Der Reporter schürzte die Lippen und machte ein bedenkliches Gesicht. Er hieß Cabasin. Vor nicht einmal drei Wochen hatte er die bevorstehende Beförderung Melrooms in seiner Zeitung angekündigt und einen kurzen Lebenslauf des Brokers verfasst und veröffentlicht. Melroom spürte die Hitze in sein Gesicht steigen, wenn er daran dachte.
Cabasin packte seinen Kassettenrekorder und sein Mikrofon zusammen. "Gut, Mr. Melroom. Ich werde darüber schreiben. Ich denke, solche Vorgänge sollte die Öffentlichkeit erfahren."
Sein Anwalt hatte Melroom ermutigt, sich an die New York Times zu wenden. Er sah keine Möglichkeit, den versprochenen Posten juristisch zu erstreiten. Solange keine Kündigung auf dem Tisch lag, konnte er als Anwalt nicht in Aktion treten.
Melroom dachte nicht daran, von sich aus zu kündigen. Nur ein Idiot würde auf die gewaltige Abfindungssumme verzichten, die ihn so ein Schritt kosten würde. Melroom zog es vor in die Offensive zu gehen: Er wollte die Bank - und vor allem Goldwater - angreifen und lächerlich machen.
So hatte er zum Beispiel zwei Tage zuvor in einem offiziellen Brief an Goldwater für sich und seinen Lebensgefährten die gleichen Sozialleistungen beantragt, die die Transatlantik Traffic Bank verheirateten Paaren gewährte.
Er wollte seinen Arbeitgeber zu einer Kündigung provozieren. Nachdem er dann die Abfindungssumme kassiert haben würde, konnte er einen Schmerzensgeld-Prozess vom Zaun brechen. Wegen vernichteter Karriere. Sechzig bis achtzig Millionen Dollar seien schon drin, meinte sein Anwalt.
Melroom konnte schon seit zwei Wochen ohne starke Schlafmittel nicht mehr schlafen. Nur sie und die Vorstellung, Goldwater und der Transatlantik Traffic Bank den größtmöglichen Schaden zuzufügen, dämpften seinen Hass einigermaßen.
"Sie waren selbstverständlich eingeladen, Mr. Cabasin."
Der Reporter stand auf. "Danke, Mr. Melroom. Soll ich Ihnen das Manuskript durchfaxen?"
Melroom schüttelte den Kopf. "Sie werden das schon richtig machen." Sie verabschiedeten sich, und Cabasin verließ das Bistro.
Melroom bestellte sich ein Abendessen. Bis die Sonne hinter der Skyline der West Side versunken war blieb er an seinem Fensterplatz sitzen.
Immer wieder sah er auf die Uhr. Irgendwann zog er einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. Die Einladung zur Sekt Party im Hause Goldwater. Genau zwei Tage vor jenem üblen Gespräch mit seinem Chef hatte er sie erhalten.
Goldwater war natürlich viel zu seriös, um ihn wieder auszuladen. Oder hielt sich jedenfalls für seriös. Aber selbstverständlich erwartete er von seinem gedemütigten Manager genug Taktgefühl, um dieser privaten Veranstaltung von sich aus fernzubleiben.
Melroom konnte sich wirklich Schöneres vorstellen, als an einem freundlichem Abend wie diesem, das glatte Gesicht seines Chefs sehen zu müssen.
Andererseits versprach er sich einen gewissen Genuss davon, diesem steifen Heuchler in seine Plastik-Visage zu grinsen, während er ihn umgeben von lauter Promis die feuchte Hand drückte - Einen wunderschönen guten Abend, Sir. Gott sei Dank konnte ich einen Geschäftstermin gerade noch im letzten Augenblick verlegen. Ich wäre ja untröstlich gewesen, wenn ich auf ihre Party hätte verzichten müssen...
Wieder sah Melroom auf die Uhr. Halbneun. Er entschied sich Goldwaters Party zu besuchen. Und damit traf er die erste von zwei Entscheidungen, die sein Leben nachhaltig verändern sollten.
Die Goldwater Villa lag am Henderson Place, ungefähr an der Schnittstelle der East 86th Street und der York Avenue. Am Henderson Park stehen, umringt von hohen Apartmentblocks, zwei Dutzend Reihenhäuser aus rotem Ziegel. Die teils schlossartigen Gebäude mit ihren Terrassenbrüstungen, Ziergiebeln, Gaubenfenstern und Türmchen sind Ende des letzten Jahrhunderts erbaut worden.
Kopfschüttelnd betrachtete Melroom das idyllische Ensemble roter Häuser. Es schien ihm zu dem Spießer Goldwater zu passen, dass er sich ausgerechnet in dieser Betonnische ein Haus gekauft hatte. Natürlich das größte und schönste.
Kleine Zierbäume wuchsen vor dem dreistöckigen Gebäude. Eine breite Treppe führte zu dem erkerartig vor das Haus gesetzten Eingangsbereich.
Zusammen mit anderen Gästen, die er nur zum Teil und auch nur flüchtig kannte, stieg er die Treppe hinauf. Ein Hausmädchen empfing sie und führte sie in einen saalartigen Salon, der fast das halbe Erdgeschoss ausfüllte.
In der Mitte des Salons eine langes Buffet. Lachs, Käsehäppchen, kalter Braten, Gemüseterrine, Salate - das Übliche eben. Ein wahrscheinlich extra für diesen Abend gemieteter Kellner schwebte mit einem Tablett voller Sektkelche durch die Menge der Gäste und bot Champagner an.
Melroom kam nicht zu seinem erhofften Genuss - nur für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich seine und Goldwaters Blicke. Immerhin gefror seinem Chef das aufgesetzte Lächeln für einen Augenblick, und er schien sogar ein wenig blass zu werden.
Eine winzige Genugtuung für Melroom - viel zu klein, um seine Wut auch nur annähernd zu befriedigen. Im Gegenteil - seine Stimmung sank von Minute zu Minute, und er ärgerte sich seine Zeit auf so einer verkrampften Sektparty zu verschwenden.
Mehr war es wirklich nicht - die Leute hielten sich an ihren Sektgläsern fest, pflegten Small Talk und zeigten sich ihre sanierten Gebisse. Es gab kaum Gäste in Melrooms Alter. Die meisten waren über vierzig und älter.
Abgesehen natürlich von Virginia Goldwater, ihrem Lover und einigen ihrer Studienkollegen. Virgina trug ein tief ausgeschnittenes, moosgrünes Kleid. Melroom war erstaunt - er hätte der Goldwater-Tochter einen derart gewagten Fummel nicht zugetraut. Und er amüsierte sich über die verstohlenen Blicke, die scheinbar beiläufig über ihren freien Rücken oder ihren Busen glitten. Die grauschläfigen Gentlemen schienen ihre Geilheit nur mühsam im Griff zu haben.
Während er noch mit sich kämpfte, ob er gleich oder erst später wieder das Weite suchen sollte, fingen die Gäste zu applaudieren an. Das Hausmädchen führte einen alten Gigolo in schneeweißem Anzug herein. Er klemmte sich seinen schwarzen Lackstock mit Goldknauf unter den Arm, lüftete seinen weißen Hut und verbeugte sich so tief, dass ihm die lange, graue Mähne in Stirn und Gesicht fiel. Melroom fühlte sich an einen Varietédirektor erinnert.
Goldwater stellte den Mann vor. Ein Schriftsteller, natürlich - Melroom erinnerte sich von dem Mann in der New York Times gelesen zu haben. Einer von denen, die mit ihren Büchern ein Vermögen verdienten. International bekannt, ständig in Feuilletons und zwischen Maine und Kalifornien, zwischen Montana und Texas zu Lesungen unterwegs.
Der alte Dandy hatte vor mehr als zwanzig Jahren einen Bestseller geschrieben, der ihn zum Millionär gemacht hatte. Und die folgenden zwanzig Jahre hatte er damit verbracht, seinem Publikum das nächste Werk anzukündigen. Vor ein paar Monaten war es erschienen. Melroom hatte zehn Seiten gelesen, es ein paar Wochen liegen lassen und dann versehentlich zum Altpapier getan. Die Kritiker lobten den Mann in höchsten Tönen.
Eine Menschentraube bildete sich um den Schreiberling. Offenbar war er die Überraschung des Abends. Und die Leute waren entzückt. Einige, zu denen wohl durchgesickert war, dass der Mann zu Gast sein würde, reichten ihm eine Ausgabe seines Buches zur Signierung.
Melroom hielt die Gelegenheit für günstig, um sich aus dem Staub zu machen. Er trank sein Glas aus und stellte es dem vorbeigehenden Kellner auf das Tablett.
"Hallo, Jeff." Unverhofft tauchte Virginia Goldwater neben ihm auf. "Ich freu' mich, dass du kommst." Seit jenem verhängnisvollen Abend redeten sie sich mit dem Vornamen an. "Wie geht es?" Er reichte ihr die Hand und sagte kein Wort. "Herzlichen Glückwunsch zu deinem neuen Posten in der Bank!" Sie strahlte ihn an, und ihm blieb die Luft weg. "Dad hat mir vor ein paar Wochen davon erzählt." Er brachte kein Wort heraus. "Ist was, Jeff?" Ein besorgter Ausdruck legte sich auf ihr schönes Gesicht.
Melroom riss sich zusammen. "Hast du seitdem nicht mehr mit deinem Vater gesprochen?", fragte er eisig.
"Ehrlich gesagt, nicht mehr als drei Sätze. Was ist mit dir?"
"Nun, deinem properen Vater ist kurz vor der Unterzeichnung der Ernennungsurkunde zu Ohren gekommen, dass ich..." Er räusperte sich und suchte nach Worten. "Dass ich in der Wahl meiner Sexualpartner in eher unüblicher Weise festgelegt bin. Kurz: Es ist nichts geworden mit dem Vizepräsident." Er nickte als wollte er grüßen und versuchte an ihr vorbei den Ausgang anzusteuern.
Virginia hielt ihn am Ärmel seines Jacketts fest. "Jeff! Ist das wahr?!" Sie machte ein ungläubiges Gesicht.
"Was, dass ich schwul bin?" Er sprach so laut, dass einige der Umstehenden sich umdrehten.
"Nein, dass du den Posten nicht bekommen hast." Er nickte, machte sich los und wollte gehen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass man dem Dichter inzwischen einen großen Ohrensessel herangeschleppt hatte. Er nahm darin Platz und ließ sich ein Buch reichen. Sein Buch.
"O Gott!", dachte Melroom. "Eine Lesung! Nichts wie weg hier!" Tatsächlich läutete Goldwater einen Augenblick später mit einem Silberglöckchen. Alle verstummten und der Mann schlug sein Buch auf.
Melroom huschte in den Eingangsbereich des Hauses. Das Hausmädchen stand, die Klinke in der Hand an der offenen Haustür. Ihre entsetzt aufgerissenen Augen klebten an den Gesichtern von sechs Männern. Afroamerikaner.
Schwarze in Goldwaters Haus! Melroom wusste, dass sein Chef konservativ bis auf die Knochen war. Fast jeden Monat fand sich irgend ein republikanischer Kongressabgeordneter aus dem Bibelgürtel der Staaten in Goldwaters Büro ein. Meistens um Spendengelder zu erbetteln.
Melroom dachte zunächst, die Afroamerikaner seien vielleicht ein weiteres Highlight, das Goldwater sich ausgedacht hatte, um seine langweilige Party ein wenig aufzumischen. Ein Tanzgruppe oder ein A-Capella-Sextett.
Einer der Männer, ein schmaler mit exotischer Eleganz und ganz in schwarz gekleideter Kahlkopf, drückte dem Hausmädchen eine Visitenkarte in die Hand. "Ist dir nicht gut, Baby?" Das Mädchen schluckte und verrenkte den Kopf, als wollte sie ihn schütteln und mit ihm nicken zugleich. Wie festgewachsen blieb sie vor der Haustür stehen. Die Männer konnten nicht hinein, Melroom konnte nicht hinaus.
Der Kahlkopf hatte einen dünnen Oberlippenbart. Ein herablassendes Lächeln - ein Lächeln das Melroom erschauern ließ - spielte um seine vollen Lippen.
Neben ihm stand ein auffallend dicker Mann in einem pinkfarbenen Anzug. Seine Krawatte war von dem gleichen dunklen Rot wie seine ausgelatschten Turnschuhe. Er sog an einer Zigarre und blies dem Mädchen den Rauch ins Gesicht. Sie wich zurück und ließ die Männer ins Haus.
"Chuck und Teddy, ihr bleibt an der frischen Luft", sagte der Schmale zu zwei der vier andern Männer, die Melroom sofort als Bodyguards einstufte. Sie waren in weiten Hemden, Jeans- oder Lederjacken gekleidet. "Ricky und Bella - kommt mit 'rein. Aber benehmt euch ein bisschen", wurden die anderen beiden angewiesen.
Melroom konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Die vier Begleiter der beiden Exoten wirkten ganz so, als hätten sie keine Schwierigkeiten sich in den nächtlichen Straßen der südlichen Bronx zurechtzufinden. Oder in den finstersten Ecken um den Tompkins Square. Aber Melroom hätte hundert Dollar gewettet, dass sie noch nie auf einer Sektparty in der Upper East Side gewesen waren.
Die beiden Exoten und zwei ihrer Leibwächter drückten sich an ihm vorbei ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Melroom wollte schon das Haus verlassen. Doch als er sich noch einmal umdrehte, sah er Goldwater mit offenem Mund und glasigem Blick seine neuen Gästen anstarren. Er machte den Eindruck eines Mannes, der jeden Moment laut losbrüllen würde. Und das gefiel Melroom. Er beschloss noch ein paar Minuten zu bleiben, um sich das Spektakel anzusehen und folgte der Gruppe zurück in den Salon.
Die beiden Bodyguards machten sich ohne Umschweife über das Buffet her. Sie grapschten sich Schinkenröllchen und Lachs und schnappten sich eine Sektflasche. Ohne Hemmungen setzten sie die in eine weiße Serviette geschlagene Flasche abwechselnd an die Lippen und gossen sich den teuren Champus in die Hälse.
Der Dicke mit der Zigarre gesellte sich zu den Gästen. Scheinbar andächtig lauschten die der Lesung des Schriftstellers. Der schmale, ganz in schwarz Gekleidete ging geradewegs auf Virginia zu und reichte ihr die Hand, als wären sie alte Freunde. Virginia machte große Augen, und Melroom hatte den Eindruck, dass sie fast noch verblüffter war als ihr Vater.
Die Gäste waren inzwischen so vertieft in die Lesung des greisen Dandies, dass die meisten kaum Notiz von den neuangekommenen Gästen nahmen. Erst der Gestank der Zigarre ließ einige Leute aufmerksam werden. Sie reckten erst schnüffelnd die Nasen hoch, bemerkten schließlich den Dicken und musterten ihn entrüstet. Fragende Blicke trafen den Hausherrn. Man wusste zwar, dass der Bankier rauchte, aber bei Veranstaltungen in seinem Haus, pflegte er sich der öffentlichen Meinung und den Antirauchergesetzen anzupassen. Rauchen auf Sektparties im Hause Goldwater war also verpönt.
Goldwater trat nervös von einem Bein auf das andere. Er hatte offenbar nicht die Spur eines Plans, wie er mit der Situation umgehen sollte.
Als dann noch die zwei Burschen am Buffet immer hörbarer den Sekt heruntergurgelten und sich lautstark über das Essen ausließen, hatte der Dichter so gut wie kein Publikum mehr. Er schien es nicht zu merken, oder nicht merken zu wollen. Als wäre er allein im Raum, schwelgte er mit pathetischer Stimme in seinen Zeilen.
Melrooms Laune stieg von Sekunde zu Sekunde. Er amüsierte sich prächtig über diese absurde Szene. Um die Traube der Zuhörerschaft herum schlich er sich in die Nähe von Virginia und dem Mann in Schwarz. Er wollte mitkriegen, was die beiden miteinander sprachen.
"Ich hab' schlecht geschlafen in den letzten zwei Wochen", hörte er den extravagant gestylten Afroamerikaner sagen. "Seitdem ich dich in der abgefuckten Boutique am Trinity Place getroffen habe." Er entblößte sein Elfenbeingebiss. Grinsend wanderten seine schwarzen Augen über Virginias Körper. "In diesem geilen Kleid."
Virginia wurde rot. Auf der Stirn ihres Lovers bildeten sich tiefe Falten. Melroom wusste, dass der Mann Rechtsanwalt war und die Goldwater-Tochter ums Verrecken heiraten wollte. Befremdet sah der Anwalt seine Freundin an. Die wich seinem Blick aus und wusste nicht wohin mit sich. Melroom war begeistert.
Immer noch schwebte die monotone Fistelstimme des Dichters über der ganzen Szene. Das Gemurmel und Getuschel, das Füße scharren und nervöse Geräusper um ihn herum schien ihm nicht aufzufallen. Melroom schätzte, dass er wahnsinnig oder zumindest hochgradig hörbehindert war.
"Bullshit!", röhrte der Dicke mit der Zigarre plötzlich. Alle Köpfe fuhren herum. Alle Augen hingen plötzlich an ihm. "Bullshit!", wiederholte er lauter. Er sprach mit einem tiefen, heiseren Bass. Der Dichter unterbrach sich und sah ungläubig auf.
"Noch nie so einen Bullshit gehört!" Der Dicke sog an seiner Zigarre und schnippte die Asche aufs Parkett. "Welcher Motherfucker hat sich diesen Mist 'runtergeholt!?"
Totenstille plötzlich. Selbst die beiden Bodyguards hinten am Buffet hatten aufgehört zu schmatzen und zu plaudern. Der Schriftsteller hatte sich mitten im Satz unterbrochen. Seine Lider zuckten, als er aufsah. Er wirkte so geschockt, als hätte ihm jemand in den Hosenschlitz gegriffen. Melroom konnte sich ein Feixen nicht verkneifen.
Die Blicke des alten Mannes flogen von dem dicken Zigarrenraucher zu Goldwater und wieder zurück, und hin und her, immer wieder. Sein Kopf wackelte dabei, wie der einer Puppe. Keine Spur des arroganten Dandies mehr.
"Was erlauben Sie sich?!" Goldwater hatte sich endlich gefasst. "Wie können Sie es wagen den Gentleman derart zu beleidigen!" Drei große Schritte, und er stand zwischen dem Dichter und dem dicken Afroamerikaner. "Wie kommen Sie überhaupt in mein Haus?!" Melroom bemerkte, dass sein Chef rot angelaufen war. An seinen Schläfen zeichneten sich geschwollene Adern ab. "Ich kann mich nicht entsinnen, Sie eingeladen zu haben!"
Der dicke Exot stopfte sich die Zigarre zwischen die wulstigen Lippen, zog seelenruhig ein Blatt Papier aus der Innentasche seines pinkfarbenen Jacketts und reichte es Goldwater. Melroom erkannte sofort den Einladungsbrief, den auch er erhalten hatte.
Goldwater überflog ihn mit starrem Blick. "Aber..., ich verstehe nicht..." Wütend funkelte er den Schwarzen an. "Diese Einladung ist an Clifford & Partner adressiert!", zischte er. "Sie habe ich noch nie in meinem Leben gesehen! Verlassen Sie augenblicklich mein Haus!"
Clifford & Partner war eine Immobilienfirma mit Sitz in Staten Island. Melroom wusste, dass sein Chef gern Geschäfte mit dem Makler machte. Genau wie Goldwater war der Immobilienmakler Mitglied der republikanischen Partei.
"Ich bin Clifford & Partner", grollte der Dicke. "Vor einer Woche habe ich den Laden gekauft." Er zog eine Visitenkarte aus dem Jackett. "Ab nächsten Monat heißt er Grace & Russel."
Goldwater wurde bleich, während er die Visitenkarte betrachtete. "Jerome Grace..." flüsterte er.
"Und wenn ich irgendwo eingeladen bin, sage ich, was ich denke." Jerome schob Goldwater beiseite und musterte den Schriftsteller. Der saß reglos in seinem Ohrensessel und klammerte sich an seinem Buch fest. "Bullshit!", donnerte Jerome ihn an.
Der Mann zuckte zusammen. Als wäre er jetzt erst aus einer Art Duldungsstarre erwacht, schlug er sein Buch zu, sprang auf und klemmte sich seinen schwarzen Lackstock unter den Arm.
Hände streckten sich nach ihm aus - die Leute redeten auf ihn ein, um ihn zu beruhigen und zum Bleiben zu bewegen. Umsonst. Der alte Dandy drängte sich an seinen Fans vorbei Richtung Ausgang.
Voller Schadenfreude beobachtete Melroom wie Goldwater sich ihm in den Weg stellte. "Ich bitte Sie, Sir!" Händeringend stand der Gastgeber auf der Türschwelle. "Sie werden sich doch von so einem unqualifizierten Urteil nicht aus der Fassung bringen lassen! Wir alle wissen doch, was für ein wunderbarer Schriftsteller Sie sind!" Der Alte drückte sich an ihm vorbei und verließ fluchtartig das Haus.
Melroom beobachtete, wie der Dicke zum Buffet schaukelte. Er schien vollkommen abgehakt zu haben, was hinter seinem breiten Rücken geschah. In aller Seelenruhe legte er seine qualmende Zigarre in einem mit Schinkenröllchen gefüllten Teller ab und schnappte sich einen Hühnerschenkel.
Der Abgang des Schriftstellers sorgte dafür, dass die ganze Gesellschaft aus den Fugen geriet. Alle redeten durcheinander, einige der Gäste standen am Fenster und beobachteten tuschelnd, wie Goldwater neben dem greisen Dandy die Vortreppe hinunterlief und auf den Schriftsteller einredete. Entrüstete Blicke trafen Jerome und seine Begleiter.
Auch Melroom trat ans Fenster. Tief befriedigt sah er seinen Chef neben dem verhinderten Star des Abends auf den Straßenrand zueilen. Er gestikulierte und schien mit Engelszungen zu reden. Doch der Schriftsteller würdigte ihn keines Blickes. Sein Chauffeur hielt ihm die Beifahrertür auf, und er schlüpfte in seinen Wagen. Mit hängenden Schultern kehrte Goldwater in sein Haus zurück.
Melroom beglückwünschte sich zu seinem Entschluss diese absolut gelungene Partie besucht zu haben.
Der Hausherr schlich in den Salon zurück und wurde sofort von seinen Gästen bestürmt. "Das dürfen Sie sich nicht bieten lassen..., Unverschämtheit!... Was sind das für Leute?!...", und ähnliche Statements schnappte Melroom auf.
In dem Augenblick rief eine Männerstimme: "Nehmen Sie Ihre Dreckspfoten von der Lady!" Melroom fuhr herum. Der Abgang des Schriftstellers hatte seine Aufmerksamkeit so gefesselt, dass er Virginia und den anderen Exoten gar nicht mehr beachtet hatte. Jetzt sah er, wie der Schwarzgekleidete - dass er Leonard Russel hieß, wusste Melroom zu diesem Zeitpunkt noch nicht - seinen Arm um Goldwaters Tochter gelegt hatte. Deren Lover hatte sich vor ihm aufgebaut und fixierte ihn aus schmalen Augen. "Sind Sie schwerhörig, Mann?! Sie sollen meine Freundin loslassen!" Der Anwalt war fast einen halben Kopf größer als der Afroamerikaner.
Virginia selbst machte den Eindruck, als wäre sie vollkommen überrumpelt. Sie versuchte nicht einmal, sich aus der Umarmung des merkwürdigen Mannes zu befreien. Ihre großen Augen wanderten erschrocken zwischen ihrem Lover und dem Schwarzen hin und her. Wie ein verirrtes Lamm kam sie Melroom vor.
"Nicht so prüde, Mann." Der Exot entblößte sein Gebiss. "Virginia und ich sind Freunde." Die beiden Bodyguards knallten Sektflasche und Lachsteller auf den Tisch. Die Hände in den Hosentaschen vergraben tänzelten sie zu ihrem Boss.
Goldwater löste sich aus dem Pulk seiner aufgeregten Gäste und stürmte zu der Gruppe um seine Tochter und den missliebigen Gast. "Kennst du diese Männer, Virginia?!"
Melroom kam sich vor wie in einer schrägen Sitcom. Der Abend stellte seine kühnsten Erwartungen in den Schatten. Sein Chef gab schon zu diesem Zeitpunkt eine derart lächerliche Figur ab, dass Melroom sich innerlich die Hände rieb.
"Ob du diese Männer kennst, will ich wissen?", wiederholte Goldwater. Er war jetzt puterrot. Vermutlich weniger aus Wut als aus Scham.
"Nein, Dad..., ich meine... eigentlich nicht, aber..." Virginia druckste verwirrt herum. Melroom konnte sich gut vorstellen, wie sich die Studentin jetzt fühlte: Gut dreißig Augenpaare hingen mit lüsterner Neugier an ihrer schönen, kaum verhüllten Gestalt.
"Leonard Russel", sagte der Schwarzgekleidete. Lächelnd streckte er dem Hausherrn die Hand hin. "Klar kennen wir uns, Virginia und ich." Sein Lächeln wurde etwas weniger charmant, als er merkte, dass Goldwater seine ausgestreckte Hand ignorierte.
Er griff mit Zeige- und Mittelfinger in die Brusttasche seines schwarzen Seidenjacketts und zog eine Visitenkarte heraus. "Verdammt schönes Mädchen, Ihre Tochter, Sir." Leonard machte gar nicht erst den Versuch, Goldwater die Karte zu reichen. Er lüftete einfach dessen Jackett und steckte sie ihm in die Innentasche. "Deswegen habe ich ihr auch dieses arschgeile Kleid gekauft."
Virginias Lover machte ein Gesicht, als hätte er auf eine geladene Batterie gebissen. Goldwaters ungläubige Blicke schienen seine Tochter durchbohren zu wollen. "Ist da wahr, Virginia?" Er flüsterte fast.
"Dad, bitte..." Die junge Frau war mehr als verwirrt. Wie ein Rehkitz, das in einem Treteisen festsaß, so wand sie sich. Ja, man hätte wirklich meinen können, dass sie plötzlich unter körperlichen Schmerzen, oder wenigstens unter Durchfall litt.
"Aber natürlich ist das wahr, Mister!" Leonard setzte wieder ein breites Grinsen auf. Ein Raunen ging durch die Menge der Gäste. Das vereinzelte Tuscheln schwoll zu aufgeregtem Stimmengewirr an. Melroom schätzte, dass einige der noblen Köpfe sich bereits ausrechneten, was die New York Post für diese Story bezahlen würde.
"Haben Sie einer Braut, die Ihnen gefällt, noch nie ein Geschenk gemacht? Schauen Sie sich doch mal diesen absolut fetten Fummel an!" Jetzt erst nahm er seinen Arm von Virginias Schulter. Er fasste sie am Ellenbogen und drehte sie um. Dabei strich seine Hand über ihren freien Rücken. "Ist das nicht eine absolute Wucht!" Mit seinen gepflegten Händen zeichnete er die Kurven ihres Körpers nach. In den Brillanten seiner Ringe brach sich das Deckenlicht.
Virginia sah sich erschrocken um. Die vielen Blicke schienen sie noch mehr zu verunsichern. "Virginia..." Ihrem Lover versagte die Stimme.
Zum ersten Mal mischte sich auch Virginias Mutter ein - - Helena Goldwater. Sie hatte sich bisher auffallend im Hintergrund gehalten. Aus Scham, schätzte Melroom. "Sag', dass das gelogen ist, Kind!", verlangte sie.
"Erklär mir das, Virginia!" Goldwater stemmte beide Fäuste in die Hüften. "Ich fordere eine Erklärung!"
"Komm, Baby." Leonard fasste die Frau am Arm und führte sie in eine Ecke des weiträumigen Saales, wo keine Gäste standen oder saßen. "Lass uns ein paar Takte plaudern. Wird höchste Zeit, dass wir uns kennenlernen."
Goldwater holte tief Luft. Er blies sich auf wie ein Maikäfer - aber kein Wort wollte ihm aus dem weit aufgesperrten Mund springen. Virginias Lover machte zwei große Schritte und packte Leonard von hinten an der Schulter. "Jetzt ist aber gut!"
Keine Sekunde später drängten sich die beiden Bodyguards zwischen ihren Boss und den Rechtsanwalt. Einer schlug dessen Hand von Leonards Schulter. "Irgendwelche Probleme, Mister?"
Wütend schob der Rechtsanwalt sie beiseite. Sofort packte einer der beiden ihn bei der Krawatte und riss ihn zu sich heran. "Verpiss dich, Motherfucker!", zischte der Schwarze.
"Das ist doch...", stammelte Goldwater. "Schluss jetzt!", platzte es dann aus ihm heraus.
"Unglaublich..., skandalös..., man sollte die Polizei holen..." Entrüstete Stimmen wurden laut. Und immer mehr Gäste forderten Goldwater auf, die Polizei zu verständigen. Melroom sah, wie Helena Goldwater aus dem Saal hastete. Wahrscheinlich lief sie zum Telefon, schätzte er.
"Sie haben eine Minute Zeit, mein Haus zu verlassen!", rief Goldwater. "Andernfalls werde ich die Polizei benachrichtigen!" Zustimmende Rufe aus der Gästeschar.
Virginias Lover machte sich von seinem Gegner los und schlug ihn nieder. Das hätte er nicht tun sollen. Das Knie des zweiten Bodyguards traf ihn mit solcher Wucht in die Weichteile, dass er lang auf das Parkett hinschlug. Stöhnend vor Schmerzen krümmte er sich. Ein Aufschrei ging durch die Menge. Der Bodyguard setzte nach und trat dem Rechtsanwalt mit aller Kraft ins Gesicht.
Goldwater stürzte aus dem Raum. "Hauen Sie endlich ab!", schrie jemand. "Elende Rowdys! Raus mit euch!", ein anderer. In bedrohlicher Pose näherten sich die beiden Bodyguards den Gästen. Die ersten stürzten schon wie panisch aus dem Haus. Melroom zog sich ans Fenster zurück. Knisternde Spannung lag in der Luft, und seine Nackenhaare richteten sich auf.
Die Leute begannen, die vier Afroamerikaner zu beschimpfen. Leonard und Jerome kümmerten sich nicht darum. Ersterer redete auf Virginia ein, die vergeblich versuchte sich seinem Griff zu entziehen. Und der Dicke stand seelenruhig am Buffet und stopfte Lachs, Käsehäppchen und Hühnerfleisch in sich hinein. Seine Zigarre dampfte zwischen den Schinkenröllchen.
Wutentbrannt stürzte Goldwater zurück in den Saal. Melroom sah sofort die Waffe in seiner Hand. Entsetzte Schreie - die Leute drängten Richtung Ausgang und stießen sich gegenseitig um. Panik brach aus.
"Raus oder ich schieße!", brüllte Goldwater. Ein Schuss explodierte, Fensterglas splitterte und krachte klirrend aufs Parkett. Die beiden Bodyguards wirbelten herum und griffen hinter ihren Rücken und zogen Pistolen aus den Hosenbünden.
"Lasst das!", grollte der Bass des Dicken. "Die Party kotzt mich an." Er schnappte sich eine volle Champagnerflasche und griff nach seiner Zigarre. "Wir gehen woanders hin!" Er schaukelte auf den Ausgang zu. Leonard und die Bodyguards folgten ihm.
Die noch im Haus verbliebenen Gäste drückten sich mit den Rücken eng an die Wände, um der Gruppe eine Gasse zu bilden. Melroom sah, wie Goldwaters Hand zitterte, als er die Pistole auf die davonschlendernden Exoten richtete. Aber er drückte nicht ab.
Virginia hastete zu ihrem Lover. Der lag verkrümmt am Boden und stöhnte vor Schmerzen. Eine Blutlache hatte sich um seinen Kopf gebildet.
Melroom wandte sich zum Fenster. Die vier Männer sprangen die Vortreppe hinunter. Sie lachten laut und rissen irgendwelche Witze. An der untersten Stufe blieben sie stehen, drehten sich um und öffneten ihre Hosen. "Ich glaub's nicht..." Melroom schüttelte fassungslos den Kopf. Alle vier pinkelten synchron auf die Treppe. Und schüttelten sich dabei vor Lachen.
Danach tänzelten sie beschwingt auf die Straße und verschwanden in einem schwarzen Rolls-Royce.
Minuten später fuhren Polizei und Ambulanz vor. Die Sektpartie löste sich auf. Einige Leute standen um das Ehepaar Goldwater und zwei Cops. Alle sprachen durcheinander und wollten ihre Version des Eklats zum Besten geben.
Melroom drängte sich durch die Gruppe an Goldwater heran. Er streckte ihm die Hand hin. Reflexartig griff sein Chef zu. "Danke für die Einladung, Sir." Melroom setzte ein zynisches Lächeln auf. "Heute hat es mir richtig gefallen bei Ihnen!" Die Gespräche verstummten. Ungläubig Blicke trafen Melroom. "Doch wirklich", bekräftigte der. "Ich hab' schon langweiligere Parties bei Ihnen erlebt...
Eine halbe Stunde später.
"Wo ist die Rechnung!?" Wie ein gefangener Löwe lief Goldwater um das Buffet herum. "Ich will die Rechnung sehen!"
Virginia stand händeringend mitten im Raum. Neben ihr kniete das Hausmädchen und scheuerte die Blutflecken vom Parkett. "Ich habe keine Rechnung...", erklärte sie zum x-ten Mal. "Ich hab' dir doch..."
"Dann hat dir dieser Widerling das Kleid also doch geschenkt!", brüllte Goldwater. Glas klirrte - vor einem der hohen Fenster fegte Helena Goldwater die Scherben zusammen. "Gib es zu! Du kennst diese... diese... diese Rowdies! Du lässt dir von solchen Chaoten schamlose Kleider schenken! Wahrscheinlich gehst du auch noch mit Ihnen ins Bett!"
"Robert! Bitte!" Goldwaters Frau ließ das Kehrblech fallen und hob flehend beide Hände.
"Wie oft soll ich dir noch erklären, dass ich keine Chance hatte, die Bezahlung des Kleides abzulehnen!" Jetzt schrie auch Virginia. "Und wie oft soll ich dir noch...!"
Im Türrahmen tauchte Goldwaters Hausarzt auf. "Wir müssen ihn in eine Klinik bringen", sagte er. Sie hatten Virginias Freund ins Nebenzimmer geschafft, wo der Doktor ihn untersucht und notdürftig verarztet hatte. "Hodenquetschung und Jochbeinfraktur. Das muss stationär behandelt werden."
Hinter ihm schleppten zwei Sanitäter die Trage mit dem verletzten Rechtsanwalt vorbei. Virginia lief hinterher. "Ich fahr mit dir", sagte sie, während die Sanis die Trage die Treppe hinuntertrugen.
Die schmerzverzerrte Miene des Anwalts wurde bitter. "Lass mich in Ruhe", stöhnte er. "Ich will dich nie mehr sehen..."