28

Juli 1998

Lake Tahoe und

San Francisco, Kalifornien

Tief unter mir glitzerte das Wasser des Sees in der Mittagssonne. Am Fuße des Berghangs kleine, bunte Flecken in eine Waldlichtung hineingestreut - einer der vielen Campingplätze am Süd-West-Ufer des Lake Tahoe. Unzählige Urlauber aus den großen Städten Kaliforniens hatte es schon zu Beginn des ersten Sommermonats hinaus in diese idyllische Gegend gezogen. Der Emerald Bay State Park ist der bei weitem schönste Teil des Lake Tahoe Gebietes.

Ich wischte mir den Schweiß aus den Augen. Mein T-Shirt klebte feucht an meinem erhitzten Oberkörper. An dem waldfreien Aussichtspunkt, den ich erreicht hatte, traf mich die Hitzefaust der Sonne mit voller Wucht. Vor über drei Stunden war ich von einem Wanderparkplatz am Fuß des Berges aufgebrochen. Inzwischen hatte ich sicher vierhundert Höhenmeter zurückgelegt.

Vor zwei Tagen noch die Steinschluchten Manhattans. Blechlawinen, Menschenmassen, Gestank. In San Francisco dann der gleiche Großstadtdschungel. Und plötzlich diese idyllische Gebirgslandschaft um den Lake Tahoe. Auch eine Art Kulturschock.

Schon gestern Abend war ich von San Francisco aus hier angekommen. Ich hatte die Nacht in einem Schlafsack neben meinem Sportwagen verbracht.

Hier oben, im dicht bewaldeten Berghang, traf man kaum eine Menschenseele. Bei der Hitze kam kein normaler Mensch auf die Idee, sich den Berg hinauf zu quälen. Auch mich hatte nicht ein Anfall von Wanderlust hier hinauf getrieben. Mein Auftrag ließ mir keine andere Wahl - ich musste wohl oder übel so tun, als wäre ich der Champion der Bergwanderer.

Ich streifte meinen leichten Rucksack ab und kramte die Wasserflasche heraus. Kühl strömte das erfrischende Nass durch meine ausgetrocknete Kehle. Am wolkenlosen Himmel kreiste ein Seeadler. Die Baumwipfel wiegten sich in einer leichten Brise.

Es war fast eine Woche vergangen, seit dem Überfall auf das fünfte Polizeirevier. Seitdem war ganz New York City in Aufruhr. Zu allem Unglück war Captain Norman Harper seinen inneren Verletzungen erlegen. Schlimme Sache.

Die Presse hatte sie zu einer Staatskrise aufgebauscht. Sie ließ keinen Tag verstreichen, an dem sie nicht die Frage aufwarf, warum die Täter noch frei herumliefen. Und indirekt auch die Frage, ob der FBI mit dem Fall womöglich überfordert wäre. Die Öffentlichkeit wollte die Täter hinter Gittern sehen.

Das wollten wir auch. Und natürlich war ein Überfall auf ein Polizeirevier tatsächlich ein Angriff auf die Staatsgewalt. Daran gab's nichts zu deuteln. Und ehrlich gesagt: Polizei und FBI waren in jenen Tagen mindestens so nervös, wie die Öffentlichkeit.

Wir hatten eine Menge Leute vorübergehend festgenommen - fast die Hälfte der Masters of the Lower East Side. Aber niemandem konnte eine Beteiligung an dem Überfall nachgewiesen werden. Wir tappten im Dunkeln. Traurig, aber wahr.

Ein Umstand, den das Hauptquartier in Washington genauso unerträglich fand wie die New Yorker Öffentlichkeit. Der Direktor hatte unserem Chef gewaltig Druck gemacht. Der Fall müsse schnellstens gelöst werden, und so weiter. Also hatten wir uns entschlossen, einen Undercoveragenten in die Lower East Side Gang einzuschleusen.

Und genau deswegen war ich eine knappe Woche später zu dieser kleinen Bergwanderung aufgebrochen.

Ich warf meinen Rucksack über die Schulter und zog die Karte aus der Gesäßtasche. Wenn ich die Wegbeschreibung richtig verstanden hatte, war ich höchstens noch eine Wegstunde von meinem Ziel entfernt.

Bald umfing mich wieder die Kühle des Waldes. Ich ließ weitere hundert bis hundertfünfzig Höhenmeter hinter mir. Schon nach einer halben Stunde sah ich eine dünne Rauchfahne einige hundert Meter von mir entfernt aus dem Wald steigen. Wahrscheinlich hätte ich sie gar nicht bemerkt, wenn ich nicht nach irgendeinem Lebenszeichen gesucht hätte.

Noch einmal eine halbe Stunde später entdeckte ich die Quelle des Rauches - ein kleines Lagerfeuer. Es glimmte auf einer felsigen Anhöhe in einer schmalen Lichtung. Ich konnte keinen Menschen entdecken. Trotzdem war ich sicher, dass ich gefunden hatte, wonach ich suchte.

Als ich dann auf dem Weg zu dem Felsen ein mit Zweigen getarntes Motorrad entdeckte, wusste ich: Rose Warrington konnte nicht weit sein.

Über dem Lagerfeuer brutzelten auf an einem von zwei Astgabeln getragenen Aluminiumspieß zwei große Stücke Fleisch. Es roch verlockend - in meinem Magen pulsierte plötzlich ein Loch. Das Frühstück lag lange zurück. Ich ließ mich im Schneidersitz vor dem Feuer und dem Braten nieder.

"Du bist zum Essen eingeladen, Jesse." Ich sah mich um. Die Stimme kam von dem Felsen, der sich hier aus dem Waldboden erhob. Unverwechselbar die rauchige Altstimme meiner Kollegin Rose Warrington. Ich entdeckte einen Haselnussbusch am Fuß des kleinen Felsen. Und dahinter Rose' Gestalt. Sie kroch aus einer Höhle.

"Danke", rief ich. "Hast du seit neustem einen Bären zum Lover, dass du in einer Höhle hausen musst?"

Sie lachte, klopfte sich Laub und Dreck von den Jeans und lief die Anhöhe herunter auf mich zu. "Ich schlaf unter freiem Himmel. Hab' mich nur in die Höhle verkrochen, als ich jemanden kommen hörte - war nicht ganz sicher, ob es wirklich du sein würdest." Wir umarmten uns.

"Schön, dich zu sehen." Wir begegneten uns nicht öfter als ein, zweimal im Jahr. Meistens bei irgendwelchen Fortbildungen auf der FBI-Akademie in Quantico. Dort hatte ich die junge Agentin auch vor ein paar Jahren kennengelernt. Wir vom District-Office New York City hatten sie schon zweimal für gefährliche Undercovereinsätze ausgeliehen. Das hatte unsere Freundschaft vertieft.

"Warum hast du den Radiomoderator und nicht mich angerufen", wollte ich wissen.

"Ich hab' mein Handy nicht dabei", sagte sie. "Deine Nummer ist in meinem Gerät gespeichert. Außerdem wollte ich auch von dir nur gestört werden, wenn was ganz Dringendes anliegt. Wenn's wirklich brennt, dachte ich, soll er persönlich kommen."

Vom District Office San Francisco hatten wir erfahren, dass Rose ihren Dienst quittiert hatte und spurlos verschwunden war. Ich wusste, dass meine Kollegin die Gewohnheit hatte, hin und wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Und ich wusste auch von den drei Orten, an die sie sich bei solchen Gelegenheiten zurückzieht: Ein Tafelberg in Arizona, ein Indianerreservat in Nevada und eben die Gegend um das südwestliche Ufer des Lake Tahoe. In Arizona und im Reservat hatten wir sie von den zuständigen Polizeibehörden suchen lassen. Vergeblich.

Zufällig hatte ich mal aufgeschnappt, dass Rose gern einen schrägen Musiksender hört, dessen Studio in Sacramento liegt. Ich rief den Moderator an und bat ihn eine Suchmeldung zu senden:

Nachricht von Jesse an Rose, die irgendwo am Lake Tahoe herumstrolcht - bitte dringend anrufen.

Und tatsächlich hatte sie sich beim Sender gemeldet, und der wiederum rief mich an.

"Das Fleisch ist fertig." Rose hatte sich vor dem Feuer niedergelassen. Sie reichte mir eine Scheibe Toastbrot und ein Stück Fleisch. "Also, G-man - was kann so dringend sein, dass du den ganzen Kontinent durchquerst, um mich hier aufzustöbern."

"Wir brauchen dich." Das Fleisch schmeckte hervorragend, ich aß mit Heißhunger.

"Dacht' ich mir. Wer ist wir?"

"Wir in New York City. Und Washington."

"Ich bin ausgestiegen. Hab' endgültig die Schnauze voll von Stanford."

"Kann ich verstehen. Aber doch nicht von unserem Job?"

"Weiß Gott - nein." Sie reichte mir eine Dose Bier. "Hab's im Waldboden eingegraben. Kühlt nicht schlecht."

"Danke." Es zischte verlockend, als ich den Öffnungsring umlegte. "Washington bittet dich, deinen Entschluss rückgängig zu machen. Sie haben Standford zurückgepfiffen."

"Nur, wenn er mir den Arsch küsst."

"Ich werd's dem Direktor übermitteln. Wir brauchen dringend jemanden, der unter schwarzen Gangs verdeckt ermittelt."

Rose warf einen Knochen ins Feuer und verdrehte die Augen. "O Scheiße!"

"Sag einfach nein."

"Du Mistkerl! Du weißt genau, dass ich nicht nein sagen kann. Los, erzähl!"

Ich berichtete von den Polizistenmorden und dem Überfall aufs Fünfte. Ich berichtete von unseren festgefahrenen Ermittlungen und von unserem Verdacht, dass in Manhattan eine terroristische Gruppe dem Staat den Krieg erklärt hatte.

Rose hörte schweigend zu, stellte kaum eine Rückfrage. Als ich ihr die Situation und unseren Plan geschildert hatte, nahm sie sich eine zweite Bierdose und drei Zigaretten lang Zeit zum Nachdenken.

"Okay", sagte sie schließlich, "lass uns gehen." Mehr nicht.

Ich half ihr dabei, ihre Sachen zusammenzupacken. Während sie ihre Yamaha von Holz und Reisig befreite, entdeckte ich zwischen den Wurzeln einer Kiefer einen kleinen, sorgfältig aufgeschichteten Haufen frischer Erde. An einem Ende steckte ein kleines Kreuz aus Haselnusszweigen.

Ich ging davor in die Hocke. "Wer ist denn hier gestorben?"

"Der Waschbär", rief Rose von ihrer Maschine aus.

Mir schwante Böses. "Was für'n Waschbär?" Mein Magen reagierte noch vor meinem Kopf - wie ein Stein fühlte er sich plötzlich an.

"Dessen Hinterteil wir eben gegessen haben", grinste Rose.