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Juli 1998

Lower Manhattan

Der Truck kam aus Staten Island. Langer Aluminiumauflieger, blaue Zugmaschine donnerte er aus dem Holland Tunnel und fuhr die Canal Street Richtung Broadway hinunter. Ein Mack Detroit.

Ein schlaksiger Afroamerikaner in grauem Nadelstreifenzwirn und mit einer roten Baseballkappe hockte hinter dem Steuer. DJ Flash alias Tennessee Louis. Sein Kopf und sein Oberkörper schaukelte im Rhythmus eines wilden Raps. Der Lautstärkeregler des Autoradios war fast bis zum Anschlag aufgedreht.

Miller & Packard, Bürosysteme, stand in großen, roten Lettern an den Außenwänden des Sattelschleppers. Darunter eine E-Mail Adresse und Telefon- und Faxnummer mit der Vorwahl von New Jersey.

Die imposante Größe des Trucks ließ erst gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass er etwas anderes enthalten könnte als Schreibtische, Regale, Aktenschränke und dergleichen. Büromöbel eben. Doch das, was sich im Laderaum des Fahrzeugs befand, hatte mit Bürosesseln und Schreibtischen etwa soviel Ähnlichkeit wie eine Brustwarze mit einem Mikrochip.

Auch gab es in New Jersey keinen Büroeinrichter mit dem Namen Miller & Packard. Es gab dort überhaupt keine Firma dieses Namens. In ganz New York State gab es die nicht.

Die Ampel an der Kreuzung zum Broadway sprang auf rot. Tennessee Louis schaltete herunter und stoppte den Mack Detroit. Er streifte die Baseballkappe von seinem Kopf und ließ sie in einem nagelneuen Aktenkoffer aus schwarzem Kunstleder verschwinden, den er neben sich auf dem Beifahrersitz liegen hatte.

Auf DJ Flashs Kahlkopf sprießte schon wieder sein Originalkraushaar.

Er griff hinter sich, schob den Vorhang zwischen Sitzen und Schlafkoje beiseite und angelte einen breitkrempigen Hut von der unteren Pritsche. Ein Hut im gleichen dunklen Grau wie sein Nadelstreifenanzug. Im Rückspiegel prüfte er den Sitz des guten Stücks auf seinem schmalen Schädel.

Er fuhr sich mit seiner Hand zwischen Hemdkragen und Hals und rückte die dunkelrote Krawatte zurecht. Der Knoten drückte ihm unangenehm auf den Adamsapfel. Louis war es nicht gewohnt solche Klamotten zu tragen.

Die Ampel sprang auf Grün. Louis fuhr an und setzte den Blinker. Nach rechts bog er in den Broadway ein. Der Truck rollte nun nach Süden, Richtung Financial District.

Um diese Zeit, am frühen Nachmittag, war der Verkehr einigermaßen flüssig. Nach nicht einmal einer Viertelstunde schob sich schon die Trinity Church in Louis' Blickfeld. Er ging vom Gas und ließ den Truck langsam auf die Einmündung in die Wall Street zurollen.

Unter den vielen Touristen, die sich vor der Kirche tummelten, erkannte er eine vierköpfige Gruppe schwarzer Jugendlicher. Etwas abseits vom Eingangsportal der Kirche, auf der Parkanlage zwischen Trinity Church und Trinity Building hockten sie um einen Ghetto Blaster. Sie sahen in seine Richtung, als würden sie auf ihn warten.

Louis setzte den linken Blinker, um in die Wall Street einzubiegen. Zwei der Jugendlichen standen auf. Einer hob lässig die Hand und spreizte den kleinen Finger und Zeigefinger ab. DJ Flash erwiderte den Gruß mit der Lichthupe.

Behäbig schob sich der Truck in die Wall Street hinein. Er passierte rechts das Gebäude der Irving Trust Company, rollte langsam an der Einmündung New Street vorbei und näherte sich dem New York Stock Exchange - dem Ort, den man in aller Welt mit der Wall Street identifizierte: Der Börse.

Die Ladung des Trucks galt diesem Ort. Trotzdem ließ Louis auch das Finanzzentrums rechts liegen und passierte sogar noch die Einmündung der Broadstreet.

Links, vor der Federal Hall National Monument und dem benachbarten Wolkenkratzer, scherten plötzlich fünf hintereinander parkende Limousinen aus der langen Schlange parkender Autos aus. Fast synchron, wie auf Kommando. Louis setzte den Blinker nach links und steuerte den Truck auf die freigewordenen Parkplätze.

Die Börse lag praktisch schräg gegenüber.

Louis zog die Handbremse an und schaltete den Motor aus. Obwohl der Sattelauflieger des Trucks schallisoliert war, konnte man jetzt, wo das Gebrumme des Dieselmotors verstummt war, ein dumpfes Gescharre hören. Louis lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf und grinste. Dann griff er in sein Jackett, zog eine große Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. Ein Griff zum Autoradio - ein Tape sprang aus dem Kassettenschlitz und glitt in seine Jackentasche.

Prüfende Blicke nach links und rechts und in den Rückspiegel. Im rechten Seitenspiegel sah er die beiden Jungen, die ihn an der Trinity Church gegrüßt hatten, am Mitgliedereingang der Börse vorbeischlendern.

Louis wartete bis eine Gruppe von Brokern am Führerhaus vorbeigelaufen waren, dann schnappte er sich den Aktenkoffer und stieg er aus. Er überquerte gemächlich die Straße, ging zurück zur Broadstreet und verschwand auf der Treppe, die hinab zur Metrostation führte.

Nicht ein einziges Mal sah er sich um. Er wusste, dass er sich hundertprozentig auf seine Leute verlassen konnte.

Das konnte er: Die beiden Jungens, in ihren Skaterhosen und klobigen Turnschuhen hatten inzwischen die Straßenseite gewechselt. Ohne besondere Eile näherten sie sich dem abgestellten Truck. Sie erreichten die Heckklappen des Sattelzuges und blieben stehen. Während sie sich Zigaretten anzündeten, spähten sie nach allen Seiten. Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen.

Blitzschnell sprangen sie vor die Heckklappen, zwei routinierte Griffe - die Türen öffneten sich und die Burschen spurteten Richtung William Street davon.

Eine quiekende Masse aus weißlichen, zuckenden Körpern ergoss sich aus dem Laderaum des Trucks auf die Wall Street...