Juli 1998
Lower East Side
Meridian ließ die Zeitung sinken. Die Fünf. Da war sie wieder. "Verfluchte Sauhunde!", zischte er. Es waren die gleichen, die den Finanzbeamten umgelegt hatten. Und die beiden Kollegen in SoHo. Und den Captain. Die gleichen Mistkerle, die Sue...
Nelson Meridian war nach dem Überfall auf sein Revier ein paar Tage zu Hause geblieben. Oder eigentlich nicht zu Hause - er war jedenfalls nicht zum Dienst gegangen. Der zuständige Deputy Chief hatte alle beurlaubt, die von dem Überfall betroffen waren.
Meridian hatte die meisten Stunden dieser Tage im Beekman Downtown Hospital verbracht. Bei Sue. Sie hatte dort auf der chirurgischen Abteilung gelegen. Jetzt lag sie in einer Spezialklinik in der East Village. In einer Klinik für psychisch Kranke...
Die Kollegen vom FBI hatten ihn mit Fragen gelöchert. Idioten! Glaubten wohl, er steckte mit den Sauhunden unter einer Decke! Nur weil er außer ein paar Schrammen nichts abgekriegt hatte. Oder weil er ein Nigger war...
Der glückliche Umstand, dass man ihn bei dem Überfall ungeschoren gelassen hatte - jedenfalls weitgehend ungeschoren - hatte ihm ein paar schlaflose Nächte bereitet. Er wünschte sich, sie hätten Sue in Ruhe gelassen und ihm stattdessen den Kiefer kaputtgeschlagen oder ein Messer übers Fell gezogen.
Okay. Nicht zu ändern. Es war wie es war. Sie hatten Sue 'rangenommen, diese Sauhunde. Sue, seine Sue - die süßeste Frau von Manhattan...
Natürlich hatte Meridian in seinen schlaflosen Nächten die eine oder andere Theorie durchgekaut, warum ausgerechnet er so billig davon gekommen war. So billig, dass die Kollegen auf dem Revier, ziemlich distanziert waren seit dem Überfall. Oder bildete er sich das nur ein?
Er hatte alle Theorien verworfen, bis auf eine. Eine, die so nahe lag, dass er zunächst nicht an sie dachte. Oder nicht an sie denken wollte. Er war schwarz. Und Harper, Sue und die anderen waren weiß. So einfach war das.
Meridian nahm - wie gesagt - das Leben nicht allzu ernst. Und Meridian neigte dazu, über alles und jeden Witze zu machen. Jedenfalls bis zu dieser Nacht. Seiner ersten Nacht mit Sue. Aber Meridian war nicht der Mann, der so ein Ereignis abschütteln und zur Tagesordnung übergehen konnte. Das war er weiß Gott nicht. Sues Schrei verfolgten ihn bis in seine Tagträume.
Also - was tut so ein Mann? Er versucht auf eigene Faust herauszufinden, wer die Sauhunde waren, die hinter diesem Überfall steckten. Punkt.
So dachte Meridian. Und so handelte er. Schon in den letzten Tagen seiner erzwungenen Beurlaubung begann er sich in der Lower East Side herumzutreiben. Als Farbiger hatte er keine Schwierigkeiten, die einschlägigen Clubs, Kneipen und Straßenecken aufzusuchen.
Nachdem er den Dienst wieder aufgenommen hatte, arbeitete er acht Stunden am Tag offiziell in Uniform, und mehr als zehn Stunden inoffiziell. Als eine Art Privatdetektiv in eigener Sache. Oder nein - in Sue Lucianos Sache.
Meridian gestand es sich nicht ein - aber er war fest entschlossen, den Mann zu töten, der Sue vergewaltigt hatte.
Der Drogendealer, der in der Nacht des Überfalls im Fünften inhaftiert gewesen war, war der einzige Augenzeuge der Vergewaltigung. George Sidney. Seit einer Woche war er wieder auf freiem Fuß. Irgend jemand hatte die vom Haftrichter festgesetzte Kaution gestellt.
Nelson Meridian suchte George Sidney. Und er suchte Kontakt zu den Masters.
An dem Abend, als er in der Daily News von dem Mord an dem Immobilienmakler las, saß er in einer Bar in der Clinton Street. Meridian mochte keine Immobilienmakler. Und schon gar keine, die schwarze Sozialhilfeempfänger durch überhöhte Mieten aus ihren Häusern vertrieben, um sie abreißen und zu Dollarfallen umbauen zu können.
Kurz - ein Immobilienhai weniger regte ihn nicht auf - jedenfalls nicht als Privatmann. Aber die Fünf, die regte ihn auf. Er wusste von den Kollegen vom FBI und aus der Presse, dass die Fünf bei Angriffen gegen die Polizei in den letzten Wochen eine Rolle gespielt hatte. Der Bericht über den Mord an Kapinski bestätigte seine Theorie: Er war wegen seiner Hautfarbe mit einem blauen Auge davongekommen. Denn dass der Immobilienfritze nicht von weißen Mittelschichtlern getötet worden war, lag ja wohl auf der Hand.
Meridian bestellte noch ein Bier. Die Fünf - was zum Teufel bedeutete die Fünf? Doch hoffentlich nicht das, was er insgeheim befürchtete?
Die Fünf, die gottverdammte Fünf! Meridian ahnte die Wahrheit. Wer einigermaßen drin war in der schwarzen Szene, wusste was sie zu bedeuteten hatte, die gottverdammte Fünf. Oder sollte er sich täuschen?
Ein Fremder betrat die Bar. Ein großer breitschultriger Afroamerikaner. Für die Gegend war er ziemlich elegant gekleidet - hellgrauer Anzug, bunte Krawatte, dunkelrote, blankgewienerte Slippers. Er ging an die Theke und bestellte einen Whisky. Meridian beäugte ihn neugierig. Der Typ sah nicht aus, wie jemand, der in der Lower East Side zu Hause war.
Der Wirt brachte ihm sein Bier. Meridian schnappte sich das Glas und stand auf. Er ging an die Theke und schwang sich neben dem Neuankömmling auf den Barhocker. "N'Abend. Nichts Besseres gefunden?"
Der Mann beäugte ihn aufmerksam. "Vielleicht mag ich solche Kneipen, oder?"
"Na klar, deswegen hast du dich auch so in Schale geschmissen. Meine Freunde nennen mich Nelson. Wo kommst du her, Mann?"
"San Francisco."
"Großartig, Mann! Aus Kalifornien! Rat mal wo ich großgeworden bin? In Los Angeles!" Und sofort hatten sie Stoff zum Plaudern ohne Ende.
Der Bursche hieß Curtis Kentucky. Angeblich war er wegen Geschäften nach New York City gekommen und wollte sich nach Feierabend die Zeit ein wenig vertreiben.
Meridian glaubte ihm kein Wort. Niemand, der in New York City Geschäfte machte, ging abends in die Lower East Side, um sich die Zeit zu vertreiben. Jedenfalls kein Mensch, der seine sieben Sinne beieinander hatte.
Kentucky gab ihm einen Whisky aus, und Meridian revanchierte sich mit einem Bier, und Kentucky wieder mit einem Whisky und so weiter.
Das mit den Geschäften sei ja wohl nur die halbe Wahrheit, wagte Meridian sich nach drei Bieren und genauso vielen Whiskys vor. Leute wie er würden sich ihre Zeit doch im Allgemeinen im Seaport, an der Fith Avenue oder in Chelsea vertreiben.
"Stimmt", räumte Kentucky ein ohne sich groß zu zieren. "Ich hab' Stress mit 'ner Frau. Sie ist auf und davon."
"Von der Westküste nach New York?", wunderte Meridian sich.
"Sieht ganz so aus", sagte Kentucky traurig.
"Hat sie'n andern hier?"
"Könnte sein." Kentucky zuckte mit den Schultern. Er orderte noch zwei Whiskys. Dabei schwankte er bereits, als er in seinen Jackentaschen herumkramte. Meridian beobachtete ihn gespannt. Endlich zog der breitschultrige, große Mann ein Foto heraus und reichte es ihm.
Meridian betrachtete es aufmerksam. Es zeigte eine rassige Frau mit langen Beinen auf einem Motorrad. Ein markanter Ausdruck der Entschlossenheit lag auf ihrem schmalen Gesicht. Ihr Haar war streichholzkurz geschnitten, und sie trug Jeans und eine schwarze Lederjacke. Er wunderte sich. So wie der Typ angezogen war, hätte Meridian ein Luxusweibchen in Designerklamotten erwartet.
"Sie heißt Rose", erklärte Kentucky, "Rose Warrington. Wenn du sie zufällig irgendwo siehst, ruf mich an." Er zog den Bierdeckel unter Meridians Glas hervor und zückte einen Kugelschreiber.
Seine Finger schienen bleischwer zu sein, als er versuchte etwas darauf zu schreiben. Irgendwie klappte es nicht. Endlich merkte er, dass er vergessen hatte, die Miene herauszudrücken. Er holte es nach und schrieb seine Handynummer auf den Bierdeckel.
Meridian steckte ihn sich in die Gesäßtasche. "Noch zwei Bier!", rief er dem Wirt zu.
"Und du?", sagte Kentucky mit schwerer Zunge. Seinem Gewicht nach hätte Meridian ihm größere Trinkfestigkeit zugetraut. Aber natürlich wusste er nicht, was der Typ schon intus hatte, bevor er die Kneipe betreten hatte. "Bei dir läuft alles klar mit den Frauen?"
Meridians Miene versteinerte sich. Er goss den Whisky herunter. Er schmeckte ihm nicht. "Ich glaub', ich muss jetzt gehen, Mann. Trink mein Bier für mich mit."
Er legte einen Geldschein auf die Theke, klopfte dem Kalifornier auf die Schulter und rutschte von seinem Barhocker. "War nett, dich kennenzulernen, Kumpel." An der Tür drehte er sich noch einmal um. "Rose, ja?" Der andere nickte. "Wenn ich sie sehe, melde ich mich bei dir."
Draußen, auf der Clinton Street, umfing ihn die kühle Nachtluft. Übelkeit schraubte sich aus seinem Magen bis unter seine Schädeldecke. Beunruhigt stellte er fest, dass er schwankte. Meridian konnte Bier ohne Ende trinken. Aber Whisky dazwischen - da hörte der Spaß auf. Doch er hatte nicht unhöflich sein wollen.
Auf der anderen Straßenseite rangierte jemand seinen roten Porsche in eine Parklücke. Ein Mann stieg aus. Ein schwarzer Mann. Er zielte ein paar Mal mit seinem Autoschlüssel ins Innere des Fahrzeugs. Endlich schnappte die Zentralverriegelung ein.
Dann schlenderte er ein Stück die Clinton Street herunter. Seine kraushaarig Mähne warf einen kugelförmigen Schatten an die Hauswand. Als er unter der Neonreklame einer Kneipe hindurchging, reflektierte sich das grelle Licht in den Kreolen an seinem rechten Ohrläppchen. Für einen Moment konnte man sein Gesicht deutlich erkennen.
Meridian kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf. War das George Sidney, oder träumte er?
Der Mann ließ die Kneipe links liegen und bog drei Häuser weiter in eine Hofeinfahrt ein. Meridian folgte ihm auf der anderen Straßenseite. Es war Sidney - ohne Zweifel. Es war der Dealer, der in der Nacht des Überfalls im Zellentrakt des Fünften gesessen hatte. Der Mann, der Augenzeuge von Sues...
Meridian warf einen ungläubigen Blick auf den roten Porsche. Das Gerät schien fabrikneu zu sein. Sidney gehörte zu den zwei Kleindealern im Bezirk des Fünften Polizeireviers, die regelmäßig die eine oder andere Nacht im Zellentrakt des Reviers landeten.
Soweit Meridian wusste, hing er selbst an der Nadel. Man musste davon ausgehen, dass er in der Lage war sich ein Fahrrad zu klauen. Und hin und wieder schien sein Budget auch für einen gebrauchten Kleinwagen zu reichen. Aber wie um alles in der Welt kam der Typ zu einem Porsche?
Es gab nur eine Erklärung - irgend jemand hatte ihm Schweigegeld bezahlt.
Der Schnüffler in Meridian wurde hellwach. Er spähte um die Ecke der Hofeinfahrt, in der er den Kleindealer hatte verschwinden sehen. Er hörte seine Schritte, und das Quietschen einer Tür. Meridian huschte in die dunkle Einfahrt.
Im Innenhof ließ er seinen Blick über die Hausfassaden wandern. In den ersten beiden Stockwerke waren fast alle Fenster erleuchtet. Viele Scheiben waren zerbrochen. Große Löcher klafften im Putz. Das Haus machte den Eindruck einer Ruine.
Auch im Keller brannte Licht. Donnernde Bassrhythmen und das Stakkato aggressiver Rapreime drangen durch die kaputten Fenster auf den Hof. Shut him down von Public Enemy. Meridian erkannte das Stück sofort.
Das Licht aus dem Keller fiel auf Schutthalden, die den Hof bedeckten. Ein unbewohntes Haus ganz offensichtlich.
Meridian zog die Tür auf und schlich durch einen unbeleuchteten Gang ins Haus hinein. Der Gang führte ins Treppenhaus. Dort brannte Licht. Black Hole hatte jemand in schwarzer Farbe über die schmutzige Wand des Treppenhauses gesprayt. Daneben, darüber, darunter zahllose andere Graffitis.
Am Treppengeländer blieb Meridian stehen und lauschte. Sidneys Schritte unter ihm waren deutlich zu hören. Der Dealer stieg in den Keller hinab. Selbstverständlich und lautstark bewegte er sich in diesem baufälligen Haus - wie einer, der hier zu Hause war.
Von unten, aus dem Keller, hörte Meridian Rufe und Gelächter - eine wilde Party schien dort im Gange zu sein. Die Musik war verstummt. Neue wurde aufgelegt. HipHop, den Meridian noch nicht kannte.
Das wollte was heißen - immerhin ging Meridian mindestens einmal pro Woche in einen Plattenladen und hörte in die Neuerscheinungen dieser Musikrichtung hinein. Es gab keinen Rapper in der Szene, von dem er nicht mindestens ein Stück gehört hatte.
Aber dieser Song hier war ihm unbekannt. musste brandneu sein. Die Sache mit Sue hatte ihn ziemlich aus dem Rhythmus gebracht - konnte schon sein, dass er was versäumt hatte.
Er huschte die Treppe hinunter. Sidneys Schritte schlurften den Kellergang entlang. Eine Tür öffnete sich, der Dealer rief einen Gruß. Deutlich konnte Meridian jetzt das Stück hören.
Einen Fetzen des Textes schnappte er auf, bevor sich die Tür wieder schloss - Auf geht's, Brüder und Schwestern, Fünf reichen, Brüder und Schwestern, fünf Prozent, um die Welt zu befrei'n...
Meridian stand wie vom Donner gerührt. Sicher - derartige Anspielungen hatte er auch schon bei anderen Rappern gehört. Aber nicht so unverblümt. Vor allem aber hatte er nicht damit gerechnet, so schnell wieder mit dieser verdammten Fünf konfrontiert zu werden.
Meridian blieb keine Zeit seine Gedanken weiter zu spinnen. Die Musik schwoll wieder an, eine Tür flog krachend ins Schloss, Schritte näherten sich. Sidney kam zurück.
In dem Moment ging das Treppenhauslicht aus.
Meridian fackelte nicht lange. Er griff zu, noch bevor Sidney richtig um die Ecke des Kellergangs gebogen war. Er griff in seine Jimmy-Hendrix-Matte, packte sein Handgelenk und wollte ihn gegen die Wand pressen. Doch er hatte die Reaktionsfähigkeit des Dealers sträflich unterschätzt.
Der trat nach hinten aus, traf Meridians Weichteile und riss sich los. Meridian blieb für eine Sekunde die Luft weg. Aber sofort bekam er sich wieder unter Kontrolle - er hetzte dem Mann hinterher.
Der floh nicht etwa nach draußen, sondern die Treppe hinauf. Meridian blieb ihm dicht auf den Fersen. Keuchend nahmen sie Stockwerk für Stockwerk. Erst in der obersten Etage bekam er den Mann am Hosenbein zu fassen. Er warf sich auf ihn und versetzte ihm zwei Fausthiebe ins Gesicht. "Woher hast du das Geld für den Porsche!? Du Sauhund, woher?! Wer hat die Polizistin vergewaltigt, wer verdammt noch mal!?"
Sidney schrie. Das Licht flammte auf. Eine Gestalt stand über ihnen. Schwarze Lederhosen, Turnschuhe, schwarzes Muskelshirt - eine Frau. Meridian war so überrascht, dass er zu spät reagierte. Der Fußtritt traf ihn mit unerwarteter Wucht. Er wurde regelrecht von Sidney geschleudert. Noch einmal gelang es ihm den Schmerz und die aufwallende Übelkeit wegzudrücken. Er schaffte es sogar noch, sich hoch zu rappeln und den Fauststoß seiner unverhofften Gegnerin mit dem Unterarm an sich vorbei zu leiten.
Doch dann traf ihn ihre Handkante so blitzartig an der Halsschlagader, dass er seufzend zusammenbrach. Das letzte, was sein Bewusstsein registrierte, war die Ähnlichkeit der Frau mit dem Foto, das ihm der Kalifornier ein halbe Stunde zuvor in der Bar gezeigt hatte...