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"Die Masters sind aufgescheucht", sagte Rose. "Hinter jeder Straßenecke vermuten sie einen Cop." Sie wirkte müde und schlecht gelaunt an diesem Morgen. "Der Typ, den ich k.o. geschlagen hab', soll angeblich nicht der einzige Cop in der Gegend sein. Einer der Masters will ihn kurz vor der Schlägerei in einer Kneipe mit einem anderen Bullen in Zivil gesehen haben."

Rose war mit beunruhigenden Neuigkeiten zu unserem Treffpunkt gekommen. Milo und ich wechselten uns mit Orry und Clive im Lieferwagen einer Großbäckerei ab. Der Wagen stand im Lieferantenparkplatz eines Supermarktes in der Stanton Street, etwa fünf Minuten Fußweg von Rose' Wohnung entfernt.

Selbstverständlich war der Laderaum des Wagens vollgestopft mit Elektronik jeder Art - Peilsender, Hochleistungsempfänger, Computer - eben alles, was man zur Begleitung eines Undercover-Agenten braucht.

Wenn nichts besonderes anlag, trafen wir hier zweimal in der Woche mit Rose zusammen. Heute morgen hatte sie uns in aller Frühe über das Mikro in ihrer Uhr alarmiert. Ein Notfall sei eingetreten.

"Und du bist sicher, dass er ein Cop ist?!" Die Neuigkeiten beunruhigten und verblüfften mich zugleich.

"Hundertprozentig, Jesse - der Mann ist Cop." Rose verdrehte ungeduldig die Augen. Kein Zweifel - ihr war nicht zum Scherzen zumute. "Der Dealer, hinter dem er her war, kannte ihn. Er nannte ihn Nelson. Angeblich arbeitet er auf dem fünften Revier."

Meine wenig erfreuliche Begegnung in Chelsea mit einem anderen Cop fiel mir ein - mit Kentucky, dem Captain aus San Francisco. Der Fall schien randalierende Polizisten auf den Plan zu rufen.

Ich hatte Rose nichts von meinem Zusammenprall mit ihrem Verflossenen erzählt. Unser Chef hatte dafür gesorgt, dass seine Dienststelle, die Bank Robbery Task Force in San Francisco ihn zurückgepfiffen hatte. Ich ging jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass Kentucky wieder in Kalifornien war.

"Und dieser Dealer heißt George Sidney?" Milo griff schon zum Telefon. Rose' Bericht von dem Zusammenprall mit dem angeblichen Cop hatten ihn genauso vom Hocker gehauen wie mich.

"Richtig." Rose zündete sich eine Zigarette an. "Ihr habt doch hoffentlich nichts dagegen." Bisher schien der Einsatz für sie nicht schwieriger gewesen zu sein, als ein Spaziergang über den Broadway am hellen Nachmittag. Dafür, dass sie erst drei Wochen verdeckt ermittelte, hatte sie schon erstaunlich viele Kontakte ins Milieu geknüpft.

"Weißt du, wo sie ihn hingebracht haben?", fragte ich, während Milo mit dem Fünften Revier telefonierte.

"Auf den Dachboden des Hauses. Gefesselt und geknebelt."

"Was haben Sie mit ihm vor?"

Rose zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Nichts Lustiges, schätze ich."

"Der Mann ist Sergeant im Fünften." Milo legte den Hörer auf. "Meridian. Nelson Meridian. Er war dabei, als das Revier überfallen wurde."

Schlagartig fiel mir die Szene dieser schrecklichen Nacht vor mehr als drei Wochen ein - der junge, dunkelhäutige Sergeant, der die vergewaltigte Kollegin festhielt... Unsere Kollegen Jay Kronburg und Leslie Morell hatten den Cop in die Mangel genommen, weil er als einziger den Überfall relativ ungeschoren überstanden hatte. Doch kein Fleck war an seiner weißen Weste zu finden gewesen.

"Und nun haltet euch fest: Dieser Dealer, dieser Sidney saß während des Überfalls im Zellentrakt des Fünften!" Milo griff erneut zum Telefon. "Vielleicht ist es der Bursche, der Augenzeuge der Vergewaltigung gewesen ist." Er rief die Federal Plaza an.

"Was um alles in der Welt will er von dem Dealer?" Die Sache begann spannend zu werden.

"Treffer!" Milo ließ den Hörer auf die Gabel fallen. "Es ist der Augenzeuge!"

"Hat Meridian womöglich doch Dreck am Stecken?", überlegte ich laut.

"Ich versuch's 'rauszufinden." Rose brütete finster vor sich hin. "Wenn diese Burschen ihn allerdings umbringen wollen, ist mein Einsatz beendet. Dann müsste ich die Maske fallen lassen, um ihn zu retten."

Schweigend musterte ich meine Kollegin. Sie hatte recht. Als Undercover-Agent konnte sie über manche Grenze gehen. Aber wenn Menschenleben in Gefahr war, musste sie handeln. Drei Wochen harter Arbeit standen auf dem Spiel. Nach dem Mord an dem Immobilienmakler in Harlem hatte der Druck aus der Öffentlichkeit und aus Washington noch zugenommen. Rose war im Moment die einzige Chance, den Tätern auf die Spur zu kommen. Wir durften ihre Scheinidentität unter keinen Umständen gefährden.

"Wir informieren sofort den Chef." Ich nickte Milo zu und er griff zum dritten Mal zum Telefon. "Ich versuch', Meridian rauszuhauen. Damit du aus der Sache draußen bleibst."

Milo hatte schon unseren Chef am Apparat und schilderte ihm die neuste Entwicklung.

"Und jemand soll sich diesen Sidney greifen", raunte ich Milo zu. "Es muss doch einen Grund haben, dass Meridian sich an ihn hängt. Wir müssen den Kerl noch mal ausquetschen."

Auf einem Blatt Papier skizzierte Rose mir einen Grundriss des Hauses und aller Räume, die sie kannte. Vor allem vom Dachboden. "Hier ungefähr haben sie Meridian mit einer Kette an einen Balken gefesselt." Sie stach mit dem Stift auf einen Punkt im Grundriss des Dachbodens. "In einem kleinen Verschlag hinter zig Matratzen, Kisten und anderem Gerümpel."

"Der Chef ist einverstanden", berichtete Milo. "Er stellt eine Sondereinheit zusammen, die einen Einsatzplan erarbeiten wird. Du sollst sie leiten, Jesse. Jay kommt in einer Stunde, um dich abzulösen."

"Okay." Ich nickte grimmig. Es ärgerte mich, dass uns dieser Sergeant dazwischen funken musste. "Wir müssen unter allen Umständen verhindern, dass du enttarnt wirst."

"Na, dann streng dich mal an, G-man." Rose kramte eine CD aus ihrem schwarzen Blouson. "Hier, hört da mal rein."

Masters of Manhattan hieß die Scheibe. Die Musiker nannten sich General G. und Killa Kill You. Eine HipHop-Scheibe offensichtlich. Ich hatte mich mit dieser Musikrichtung noch nie recht anfreunden können.

"Das ist sogenannter Gangsta-Rap. Ich nehm' an, das sagt euch was." Milo und ich nickten. "Die Kids aus dem Black Hole sind ganz aus dem Häuschen wegen der Platte. Sie ist gerade erst erschienen. Dieser Chuck, den ich in meinem Bericht erwähnt habe, scheint befreundet zu sein mit den Musikern. Und Bella und Teddy ebenfalls."

Das Cover der CD wirkte wie eine Szene aus einem Horror-Fantasy-Streifen. Die glitzernde Skyline des nächtlichen Manhattans war darauf abgebildet. Von einem Standpunkt zwischen Staten Island und dem Liberty Island aus. Der Statue auf Liberty hatte man ein neues Gesicht montiert. Das Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes mit einem schmalen Oberlippenbart. Der Strahlenkranz der Freiheitsstatue saß auf seinem kahlen Schädel, und statt der Freiheitsfackel hielt er einen Krummsäbel in der Rechten mit dem er in Richtung Manhattan ausholte.

Im gewittrigen Nachthimmel über Manhattan glänzte das fette Gesicht eines zweiten Afroamerikaners. Er trug eine Sonnenbrille. Aus seinem wie zu einem Schrei geöffneten Mund zuckten unzählige Blitze auf die Stadt herunter.

Ich reichte die Scheibe an Milo weiter. "Nicht sehr einladend", murmelte ich. "Warum sollen wir uns das anhören?"

Rose stand auf. " Die abgedruckten Texte sind in der Scheibe enthalten. Wenn die Musik dich nervt, lies wenigsten die. Ich denke, das bringt uns auf die Spur der Fünf." Sie griff nach der Wagentür. "Ich halt' euch auf dem Laufenden", sagte sie mit einem Blick auf ihre präparierte Uhr.

"Hey, Kollegin", sagte Milo, "unser Chef meinte gestern, du sollst in deinem Bericht lieber nicht so in die Einzelheiten gehen, was deine vertrauensbildenden Maßnahmen den Masters gegenüber angeht. Ein paar Leute aus dem Hauptquartier haben sich aufgeregt, weil du mit den Kids Schießübungen machst. Und vor allem auf das Bild unseres genialen Rudys geschossen hast..."

"Arschlöcher!", knurrte Rose und schlüpfte aus dem Lieferwagen.