Die Wellen der Upper Bay teilten sich vor dem Bug der gewaltigen Fähre. Die Statue of Liberty schob sich rechts vorbei. Vor dem Horizont zeichnete sich die dunkle Gerade der Verrazano-Narrows Bridge ab. Die Interstate 278 führt auf ihr von Brooklyn nach Staten Island hinüber.
Meridian hatte einen Platz im oberen Deck gefunden. Fast apathisch starrte er auf die sich nähernde nordöstliche Küste von Staten Island. In der abgeschabten, braunen Lederjacke, die er über einem grauen Muskelshirt trug, spürte er den harten Lauf seiner Dienstwaffe.
Es war eine harte Schnüffelarbeit gewesen - aber vier Tage hatten gereicht, um herauszufinden, wo er den Sauhund finden würde, der Sue vergewaltigt hat.
Natürlich hatte er während der fast vierundzwanzig Stunden auf diesem gottverdammten Dachboden die Ohren gespitzt. General - mehr als einmal war dieser Name gefallen. Ein Name, der einen Musikkenner wie Meridian nicht an die Army, sondern an ein Gangsta-Rap Duo denken ließ: General G. und Killa Kill You.
Mehr seinem Instinkt folgend, als seiner Logik, hatte er sich die neuste Platte der beiden geholt. Eigentlich war ihm schon alles klar gewesen, als er das Cover sah: General G's schnurrbärtiger Kahlkopf auf die Statue of Liberty montiert. Und seine stechenden Augen...
Dann hatte er Sue Luciano in der psychiatrischen Klinik besucht. Alles an der früher so temperamentvollen, süßen Lady war schleppend und bleiern: Ihre Stimme, ihr Gang, ihre Gestik. Beruhigungsmittel und Psychopharmaka. Sein Herz hatte ihm geblutet während dem Besuch bei ihr.
Er hatte ihr die Scheibe gezeigt. Einfach so, ohne Kommentar. Kein Wort hatte sie herausgebracht, starrte nur das Cover an. Aber der plötzliche Schrecken in ihren Augen, die Unterlippe, die auf einmal zu zittern begann - das hatte Meridian gereicht. Er wusste Bescheid.
Um ganz sicher zu sein, hatte er noch seine Beziehungen als Cop spielen lassen. Die Bank des ermordeten Dealers bestätigte ihm, dass der vor drei Wochen eine fünfstellige Summe von dem Konto einer Tankstellenkette überwiesen bekam. Die Tankstellenkette gehörte den Musikern.
Dann hatte Meridian sich die Wohnanschrift des Generals besorgt - ein Kinderspiel für einen Cop. Er hatte nur vorsichtig sein müssen, um seinen eigenen Kollegen nicht in die Hände zu laufen. Wie er die Jungs vom FBI kannte, waren die inzwischen davon überzeugt, dass er mit den Masters unter einer Decke steckte.
Heute Morgen hatte er noch einmal die süße, kleine Sue besucht. Sie hatte geschlafen. Er hatte ihr einen Brief auf den Nachttisch gelegt. Nur vorsichtshalber. Meridian hielt sich an sich für unsterblich, oder zumindest für fast unsterblich. Aber er hatte auch schon manches Pferd kotzen sehen.
Also hatte er alles, was er wusste aufgeschrieben. Und am Schluss schrieb er. "Wenn du hier 'raus kommst, gehen wir erst mal ordentlich aus. Und dann heiraten wir, okay?" Er wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war. Er schrieb es einfach. Na und? Er liebte das Mädchen - verdammt, ja: Er liebte es. Na und?
Es dämmerte bereits, als die Fähre sich an den Pier des Hafens schob. Meridian warf sich seinen Rucksack über die Schulter und reihte sich in die lange Schlange der Passiere ein, die aussteigen wollten.
Davon, dass er den General töten wollte, hatte er natürlich nichts geschrieben. Meridian war ein Gefühlsdusel - aber kein Hohlkopf. Er hatte vor, die Sache so zu arrangieren, dass es wie Notwehr aussehen würde.
Am Fährhafen mietete er sich ein Motorboot und tuckerte an der Küste Staten Islands entlang Richtung Süden. Die akribischen Erkundigungen, die er eingezogen hatte, halfen ihm, das Anwesen der Musiker sofort zu identifizieren.
Er wartete, bis es vollständig dunkel war. Dann erst ging er an Land. Über ein unbewohntes Grundstück gelangte er in den Park, der zum Grundstück der Musiker gehörte. Enttäuscht registrierte Meridian, dass in keinem der beiden Häuser Licht brannte.
Durch Büsche und Hecken hindurch pirschte er sich an das Gebäude heran. Nichts zu hören, nichts zu sehen. Offenbar war Russel ausgeflogen. Meridian checkte die unerwartete Situation durch - und fand sie schließlich gar nicht so schlecht. Dann würde er den Mann eben in seinem eigenen Haus erwarten.
Er schlich ein halbe Stunde lang um die Villa herum, bis er im Obergeschoss ein gekipptes Fenster entdeckte. Über die Dachrinne kletterte er hinauf. Kein Problem für ihn, das Fenster auszuhebeln und einzusteigen.
Er sah sich im Haus um und wählte eine Nische am oberen Treppenabsatz als günstigstes Versteck, um auf den General zu warten. Von hier aus würde er ihn den großen Raum im Erdgeschoss betreten sehen, von hier aus würde er ihn die Treppe heraufsteigen sehen. Meridian hockte sich auf den Boden.
Die Stunden vergingen. Kurz nach Mitternacht hörte er einen Wagen vorfahren. Die Haustür wurde geöffnet. Schnelle Schritte im Erdgeschoss - Meridian griff nach der Waffe, die er neben sich auf dem Parkett abgelegt hatte und stand auf.
Die Schritte polterten eine Treppe hinunter. Ein Tür wurde aufgeschlossen. Dann eine Stimme. Meridian huschte ins Erdgeschoss hinunter. Er lauschte an der Treppe. Mit wem sprach der Kerl da unten? Behutsam schlich er die nächste Treppe hinunter. Meridian hatte sich für diesen heiklen Ausflug seine leichtesten Mokassins angezogen. Seine Schritte verursachten nicht das geringste Geräusch.
"Ich soll dir was Gutes geben." Die Männerstimme war jetzt deutlich zu verstehen. Und das Stöhnen einer weiblichen Stimme. "Leonard macht die Nacht in Manhattan durch. Er hat mich geschickt, damit du dich nicht so verlassen fühlst..." Die Stimme klang gemein.
Eng an die Wand des Kellerganges gedrückt schob Meridian sich an die offene Tür heran, aus der die Stimme kam. Er spähte um die Ecke in den Raum hinein. Zwischen der Wand und einem Öltank lag eine junge Frau auf dem Kellerboden. Sie trug einen schwarzen Morgenmantel, der ihr viel zu groß schien.
Ihr Gesicht konnte Meridian nicht erkennen - der Rücken eines Mannes, der neben ihr hockte, verdeckte ihren Kopf.
Zwei Schritte und Meridian stand hinter dem Mann. Ehe der auch nur aufschauen konnte, hatte er ihm den Lauf seiner Waffe über den schwarzen Schädel gezogen. Ächzend sackte der Bursche über der Frau zusammen.
Meridian rollte ihn von ihr herunter. Die Frau war jung - höchstens Mitte zwanzig. Ihr blondes Haar klebte ihr nass in Stirn und Gesicht. Sie stank nach Urin. Teilnahmslos starrte sie an die Decke. In ihrer linken Armbeuge steckte eine noch halbgefüllte Spritze. Die Frau war mit den Handgelenken an ein Abwasserrohr gefesselt.
Meridian zog die Spritze heraus und drückte den blutenden Einstich zu. Dann befreite er sie von ihren Fesseln und trug sie aus dem Raum. In ihrer Stelle fesselte er den bewusstlosen Mann. Er kannte den Burschen nicht. Jedenfalls war es nicht der Rapper, auf den er gewartet hatte.
Ricky wurde der Mann in seinen Kreisen genannt, aber wie hätte Meridian das wissen sollen? Und auch davon, dass es exakt der Mann war, der ihn bei dem Überfall auf das Fünfte in Schach gehalten hatte - auch davon hatte Meridian keinen Schimmer.
Er fixierte ihn also am Abflussrohr und verpasste ihm den Rest des Spritzeninhaltes, ohne zu wissen, dass sein Rachefeldzug schon in vollem Gange war.
Danach kümmerte er sich um die Frau. Er wusste ja jetzt, dass der General in dieser Nacht nicht mehr nach Hause kommen würde. Die junge Frau war nur insofern lebendiger als eine der vielen Leichen, die Meridian schon aus dem Hudson hatte auftauchen sehen, als dass sie sich vollpinkelte und ihr der Speichel aus dem Mundwinkel troff. So sehr er sie auch schüttelte und anschrie - sie starrte nur in irgendeine Ferne und sagte kein Wort.
Ein bisschen erinnerte sie ihn an Sue - an die liebliche, arme, kleine Sue...
Er revidierte seine anfängliche Vermutung, dass der Sauhund da unten der Frau eine Droge verpasst hatte. Vermutlich hatte man sie mit einem starken Psychopharmakon ruhiggestellt. Einem Neuroleptikum womöglich.
Er schleppte sie in die Dusche, zog sie aus, spritzte sie kalt ab. Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Er kochte ihr einen starken Kaffee und flößte ihn ihr ein. Umsonst - sie war wie weggetreten.
Im Morgengrauen schließlich schien es ihm, als würde sie ihn bewusst anschauen und wahrnehmen. "Ich will nach Hause", krächzte sie. Mehr zunächst nicht. Meridian wiederholte die Prozedur: Kaffee, kalte Dusche, leichte Schläge mit der flachen Hand. Ganz langsam tauchte ihr Bewusstsein aus der Versenkung auf.
"Hat der Sauhund sie gekidnappt?", bohrte Meridian.
"Nein..., ja...., nein..." Sie begann hemmungslos zu schluchzen. Meridian nahm sie in die Arme und streichelte sie. "Wir müssen weg...", stammelte sie. "Das sind Mörder... ich hab's mit eigenen Augen gesehen... bringen Sie mich weg..."
"Wo steckt dieser General?" Meridian ließ nicht locker.
"Leonard?" Aus müden Augen sah sie ihn an. Aus Augen, die unter anderen Umständen sicher schön sein konnten. "In seinem Plattenstudio an der Fifth Avenue..."
Meridian half ihr, ihre notwendigsten Sachen zusammen zu packen. Er zog sie an seiner Hand hinter sich her durch den Park. Sie rannten auf den Strand zu. Fern im Osten schob sich der rote Glutball der Morgensonne aus dem Atlantik...