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Sie waren in den Pick-up einer Installateurfirma umgestiegen. Die ganze Nacht hatten sie in der Tiefgarage der Transatlantik Traffic Bank gewartet. Am Morgen, wenn Melroom zur Arbeit kam, sollte Rose ihn erschießen.

Die ganze Nacht über saß sie auf Kohlen. Hin und hergerissen zwischen der Trauer über Candys Tod, der Wut auf diese gnadenlosen Killer, und der Verzweiflung, von ihrer Einsatzzentrale abgeschnitten zu sein.

Gegen die Beifahrertür gelehnt hing sie neben DJ Flash im Beifahrersitz und tat, als würde sie dösen. In Wirklichkeit zermarterte Rose sich ihr Hirn.

Was, um alles in der Welt, hatte Kentucky in New York City verloren. Wollte er sie womöglich suchen? Zu allem Überfluss begannen auch noch Schuldgefühle an ihr zu nagen. Sie verfluchte sich, weil sie sich nicht mehr bei ihrem verflossenen Lover gemeldet hatte.

Und warum hatten diese Teufel ihn umgebracht? War er ihnen irgendwie in die Quere gekommen?

Und immer wieder schoss ihr die quälende Frage durchs Hirn, wie sie Jesse und Milo erreichen sollte. Ganz zu schweigen von der Frage, wie sie aus dieser Zwickmühle herauskommen sollte, ihre wirkliche Identität weiter zu verheimlichen und dennoch diesen Melroom zu retten.

Auf keine dieser Fragen fand sie eine Antwort. Das einzige Ergebnis ihrer zermürbenden Grübelei: Als am Morgen die ersten Angestellten der Transatlantik Traffic Bank in ihren Wagen in die Tiefgarage rollten, schwor sie sich, nach diesem Einsatz ihren Job endgültig an den Nagel zu hängen. Nie mehr wollte sie eine solche Hölle durchmachen.

Eine Zentnerlast fiel ihr vom Herzen, als es erst neun und dann zehn wurde, und Melroom immer noch nicht erschienen war.

Dafür begann DJ Flash neben ihr zu fluchen. Gegen zehn hatte er die Schnauze voll. "Er kommt nicht. Freier Tag oder sowas. Fahren wir zu ihm nach Hause."

Rose zündete sich eine Zigarette an. "Ich erledige solche Jobs eigentlich lieber bei Dunkelheit. Lass uns bis heute Abend warten."

"Geht nicht. Gegen fünf muss ich wieder in dieser Gegend sein. Da läuft unser großes Ding."

Heute schon, also. Rose blies den Rauch der Zigarette gegen die Windschutzscheibe. Sie musste der Zentrale einen Wink geben. Kostete es was es wollte. Sie nötigte DJ Flash in einem Bistro zu halten. "Ich muss pinkeln, verdammt noch mal!" Er sträubte sich zunächst, hielt dann aber doch. Von dort aus rief sie in der Federal Plaza an. Sie konnte nur hoffen, dass die Kollegen Melroom ausfindig machten, bevor sie und DJ Flash dort aufkreuzte.

Melroom wohnte im südlichen Randbezirk von Chelsea. Rose' Hoffnung erfüllte sich nicht. "Melroom", meldete sich eine Männerstimme aus der Gegensprechanlage seines Apartmenthauses.

"Wir haben eine Botschaft von Mister Russel", antwortete DJ Flash ungerührt. Der Türsummer ertönte. Mit dem Aufzug fuhren sie in den siebten Stock des Hauses. Melroom wartete an seiner Wohnungstür. In Rose' Brustkorb schien ein Presslufthammer zu arbeiten.

Sie schlug zu ohne lang zu fackeln. Melroom torkelte zurück in seine Wohnung. Dort wollte Rose ihn haben, um zu erledigen, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen. Aber nun ging es nicht anders.

Mit gezogener Waffe stieß sie den blonden Weißen vor sich her in sein Schlafzimmer. Er fiel auf sein Bett und zitterte am ganzen Körper. Rose zielte auf ihn. Hinter sich hörte sie DJ Flash die Wohnungstür zuschließen. Seine Schritte näherten sich.

"Worauf wartest du noch, schieß endlich", blaffte er.

"Hast du einen Schalldämpfer?"

"Einen was?!" Sie drehte sich zu ihm um. Halb entgeistert, halb belustigt sah er sie an. "Du spinnst wohl?!"

"Glaubst du, ich ballere einfach so in dieser Bude herum, damit die Nachbarn uns die Bullen auf den Hals hetzen?" Sie deutete an ihm vorbei durch die offene Tür des Nebenzimmers. Dort sah sie ein Lederkissen auf der Couch liegen. "Das dämpft auch. Bring's mir, du Arsch!"

DJ Flash wandte sich um. Rose sprang ihn von hinten an und rammte ihn den Knauf ihrer Waffe in den Nacken. Aber er war hart im Nehmen, warf sie über seine Schulter und riss einen .38er aus seiner Jacke. Der Schuss schlug neben ihrem Kopf im Fußboden ein.

Rose hatte keine Wahl - sein zweiter Schuss hätte gesessen. Also drückte sie ab - auf seiner Stirn brach ein Loch auf, sein Kopf wurde nach hinten geschleudert, und er stürzte neben Melroom aufs Bett.

Schweratmend rappelte Rose sich auf. "Du elender Mistkerl!" Sie hob ihre Waffe. Es fehlte nicht viel und sie hätte ihr Magazin auf DJ Flashs leblosen Körper abgefeuert. "Scheiße!", fluchte sie und ließ die Pistole sinken. "Scheiße! Scheiße!"

Melroom betrachtete sie wie eine böse Erscheinung. Sein Hemd war schweißnass. Er begriff nichts, absolut nichts...