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Am Morgen des darauf folgenden Tages klingelte Owen Burkes Telefon. Er nahm ab und meldete sich. Eine weibliche Stimme sagte: „Meilin Xu hat als Stricherin gearbeitet, Agent. Ich beobachtete sie, als sie in den Wagen des Freiers stieg, der sie wahrscheinlich auch ermordete.“

„Ich denke, Meilin Xu war als Bedienung im Mandarin tätig“, bemerkte Owen Burke.

„Ja, tagsüber arbeitete sie dort. Ihr Dienst im Mandarin endete täglich um drei Uhr nachmittags. Abends musste sie dann anschaffen gehen. Ebenso wie ich und viele andere junge Chinesinnen, die für Lian Song arbeiten.“

„Wo können wir uns treffen?“, fragte Owen Burke.

„Ich will mich nicht mit Ihnen treffen, Agent. Ich werde Ihnen auch nicht meinen Namen nennen. Bei dem Mann, zu dem Meilin ins Auto stieg, handelte es sich um einen Chinesen. Er fuhr einen weißen Toyota. Die Zulassungsnummer lautete ACZ-5061. Der Wagen ist im Staat New York zugelassen.“

Die Anruferin legte auf.

„Hallo!“, rief Burke. „Heh, Lady ...“

Die Leitung war tot. Burke knallte den Hörer auf den Apparat. Dann notierte er schnell die Zulassungsnummer, ehe er sie vergaß.

Halter des Wagens war einen Mann namens Lin Zhao. Lin Zhao wohnte in der Pearl Street, Hausnummer 374. Er war polizeilich registriert. Es hatte drei Verurteilungen wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegeben.

Es war kurz vor halb zehn Uhr, als Owen Burke an der Wohnungstür des Chinesen klingelte. Nach einiger Zeit wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet, eine Stimme fragte: „Was ist los? Was wollen Sie?“

Der Türspalt war zwei Zoll breit, aber der Teil des Gesichts, den dieser Spalt freigab, gehörte unverkennbar zum Antlitz eines jungen Chinesen. „Sind Sie Lin Zhao?“, fragte Burke.

„Ja. Ich habe bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet und bin müde. Spucken Sie aus, was Sie wollen, und dann ... He, wenn Sie mir irgendetwas verkaufen möchten, dann verschwinden Sie am besten gleich wieder. Ich ...“

„FBI. Mein Name ist Burke. Ich habe einige Fragen.“

„FBI! Was sollte ich mit euch Feds zu tun haben?“

„Es geht um Meilin Xu. Sie arbeitete auf dem Straßenstrich. Nachdem Sie zu Ihnen in den Wagen gestiegen ist, wurde sie nicht mehr lebend gesehen. Sie wurde ermordet. Ihr Pech, dass eine Kollegin Meilins alles beobachtete und sich die Nummer Ihres Kennzeichens notierte.“

Lin Zhao schlug die Tür zu.

Owen Burke glitt in den Schutz der Wand daneben. Er zog die SIG und schlug von der Seite mit dem Knauf der Waffe einige Male fordernd gegen das Türblatt. „Öffnen Sie, Zhao. Sie entkommen uns nicht. Falls Sie beabsichtigen, über die Feuerleiter zu fliehen, so lassen Sie sich gesagt sein, dass im Hof mein Kollege nur darauf wartet, dass Sie kommen.“

In der Wohnung blieb es still.

Dafür brüllte im Stockwerk darüber ein Mann: „Was ist das für ein Lärm? Verdammt noch einmal, hat man denn in diesem verdammten Rattenloch nicht mal am Morgen seine Ruhe?“

„Gehen Sie in Ihre Wohnung!“, rief Burke. „Das ist ein Polizeieinsatz. Sperren Sie die Tür zu und bleiben Sie in Ihren vier Wänden, bis Entwarnung gegeben wird.“

Oben klappte die Tür. Auch ein Stockwerk unter der Etage, in der sich Burke befand, wurde eine Tür geschlossen.

Burke pochte erneut gegen die Tür zu Zhaos Apartment. „Geben Sie auf, Zhao. Ich kann Sie aus der Wohnung holen lassen. Das wird unter Umständen wenig erfreulich für Sie. Wissen Sie, wie eine Blendgranate wirkt? Waren Sie schon einmal Tränengas ausgesetzt? Es ist nicht erstrebenswert ...“

Lin Zhao rührte sich nicht. Die Sekunden reihten sich aneinander, eine Minute verstrich, eine zweite. Owen Burke verlor die Geduld. Er trat vor die Tür hin, sein linkes Bein zuckte in die Höhe, er benutzte es wie einen Rammbock. Doch die Tür hielt stand. Sofort glitt der G-man zurück in den Schutz der Wand. Da durchschlug auch schon ein Geschoss das Türblatt. Eine Detonation war nicht zu hören. Der Chinese benutzte einen Schalldämpfer.

Owen Burke holte das Handy aus der Tasche und stellte eine Verbindung mit dem Direktor des FBI her. Mit knappen Worten erklärte er die Situation, dann bat er den Assistant Director, ein SWAT-Team zu schicken. Ohne zu zögern erteilte der AD eine Zusage. Burke setzte mit seinem nächsten Anruf Ron Harris in Kenntnis. „Ich habe ihn kurz einmal am Fenster über dem Rettungssteg gesehen“, sagte Harris. „Vielleicht hättest du ihm nicht sagen sollen, dass ich im Hof auf ihn warte. Er wäre mir vielleicht direkt in die Arme gelaufen.“

„Möglich. Vielleicht hätte er dich auch mit einem Stück Blei aus dem Weg geputzt, alter Freund. Dass er keine Hemmungen hat, auf Polizisten zu schießen, hat er bewiesen.“

„Wahrscheinlich hast du recht. Warten wir also auf das Spezialistenteam.“

Zähflüssig verrann die Zeit. Irgendwann vernahm Owen Burke im Treppenhaus Schritte. Er vermutete, dass das Sondereinsatzkommando eingetroffen war. Seltsam mutete es ihn allerdings an, dass man keine Verbindung mit ihm aufgenommen hatte. Er verspürte plötzlich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, denn er sagte sich, dass auch Lin Zhao Hilfe angefordert haben konnte. Und in Chinatown, diesem kleinen Ortsteil Manhattans, lagen die Apartments der Gangster sicherlich nicht besonders weit auseinander.

Mit drei langen Schritten war der G-man bei der Treppe und lief sie nach oben. Auf dem Treppenabsatz blieb er geduckt stehen. Seine Rechte hatte sich regelrecht am Griff der SIG Sauer festgesaugt.

Zwei Männer stürmten die Treppe herauf.

Chinesen!

In der Etage angekommen, in der sich Burke eben noch befunden hatte, liefen sie auseinander und drückten sich in die Nischen der Türen zu anderen Wohnungen. Den FBI-Agenten auf dem Treppenabsatz zur nächsten Etage schienen sie noch nicht wahrgenommen zu haben.

„Da ist niemand“, hörte Burke einen der Kerle sagen.

Eine der Gestalten löste sich aus der Türnische und lief zur Wohnungstür von Lin Zhao. Der Bursche schlug mit der Faust dagegen und rief: „Ich bin es, Sino. Hier ist niemand, Lin. Mach auf.“

Kaum, dass das letzte Wort über seine Lippen war, schrie der andere: „Er steht auf dem Treppenabsatz!“ Seine Hand fuhr unter die Jacke, als sie wieder zum Vorschein kam, umklammerte sie den Griff einer Glock.

Der Chinese vor Lin Zhaos Tür war herumgewirbelt, hatte sich geduckt und ebenfalls eine Waffe gezogen.

Owen Burke schoss auf ihn und sah ihn gegen die Tür kippen. Mit seinem Schuss war er auf das linke Knie niedergegangen. Der Chinese in der Türnische konnte sich nicht mehr schnell genug auf das so jäh veränderte Ziel einstellen, sein Geschoss pfiff über Burke hinweg und meißelte ein faustgroßes Loch in das Mauerwerk hinter dem Agent. Die Kugel des G-man hingegen traf. Der Chinese taumelte aus der Türnische, sein Mund klaffte auf zu einem Schrei, dieser erstickte jedoch in der Kehle des Mannes und er brach zusammen.

Die Tür zum Apartment Lin Zhaos wurde aufgerissen. Der Chinese sprang auf den Flur, sein wilder Blick suchte den Gegner, erfasste ihn und seine Hand mit der Pistole zuckte in Burkes Richtung. Der G-man hatte keine andere Wahl und drückte ab. Die SIG bäumte sich auf in seiner Faust, der trockene Donner lähmte die Trommelfelle. Lin Zhaos rechtes Bein wurde vom Boden weggerissen, mit einem Aufschrei auf den Lippen ging er zu Boden.

„Die Waffe weg!“, brüllte Owen Burke, drückte sich hoch und zielte auf den Chinesen.

In dem Moment vibrierte sein Handy in der Jackentasche. Er fischte es mit der linken Hand heraus und stellte eine Verbindung her. Dabei ließ er den Chinesen nicht einen Sekundenbruchteil lang aus den Augen. Die Mündung der SIG wies unverrückbar auf ihn.

„Die SWAT-Leute sind eingetroffen“, meldete Harris.

„Zu spät“, sagte Burke und drückte ab, weil Lin Zhao die Hand mit der Pistole hochriss. Wieder drohte die Detonation das Gebäude in seinen Fundamenten zu erschüttern. Lin Zhao kam nicht zum Schuss. Er bäumte sich auf, das Entsetzen und die Todesangst weiteten seine Augen, dann fiel er zurück und lag still. Die Pistole glitt aus seiner Hand.