Lin Zhao war nicht tot. Nachdem er von einem Notarzt erstversorgt worden war, brachte ihn ein Rettungswagen ins University Medical Center, wo er sofort operiert wurde. Vom Krankenhaus wurde Owen Burke in Kenntnis gesetzt, dass der Zustand des Verletzten stabil ist und dass man davon ausgehen könne, dass er über den Berg sei. Der Chef des FBI veranlasste, dass der Chinese von zwei Polizisten der City Police bewacht wurde.
Es war kurz nach 14 Uhr. Burke und Ron Harris befanden sich in ihrem Büro im Bundesgebäude an der Federal Plaza. Sie waren ein wenig unschlüssig, was ihre nächsten Schritte anbetraf. Lin Zhao war nicht vernehmungsfähig. Er lag im künstlichen Koma und der Arzt, mit dem Burke gesprochen hatte, konnte ihm nicht sagen, wenn man ihn aus diesem Zustand holen würde.
„Es wäre doch ganz interessant, auch Kim Wang persönlich kennen zu lernen“, schlug Ron Harris vor. „Er betreibt in der Bayard Street einen Nachtclub. Seine Wohnung befindet sich in der Centre Street Nummer 79. Was meinst du?“
„Warum nicht“, stimmte Burke zu. „Nachdem wir dem alten Ziegenbart in der Mott Street unverblümt zu verstehen gegeben haben, was wir von ihm halten, ist es vielleicht nicht verkehrt, zu versuchen, seinen Feind aus der Reserve zu locken. Irgendeiner macht sicher einen Fehler, und dann schnappen wir ihn uns. Auf in die Centre Street.“
Die Centre Street begrenzt Chinatown gewissermaßen nach Westen. Das Apartment Kim Wangs befand sich in der zweiten Etage. Es handelte sich um einen renovierten Altbau im Brownstone-Stil. Einen Aufzug gab es nicht, aber in der Halle residierte ein Doorman, und an dem kam niemand vorbei, der nicht in dem Gebäude wohnte und ihm bekannt war.
Burke wies sich aus und erklärte, dass sie zu Kim Wang wollten. Der Doorman – ein Chinese – griff zum Telefonhörer, drückte eine Taste und sagte: „Hier sind zwei Agents vom FBI, Sir, die zu Ihnen möchten.“ Er lauschte kurze Zeit, dann stellte er das Telefon in die Halterung zurück, nickte Burke zu und sagte: „Mr. Wang erwartet Sie.“
Die G-men stiegen die Treppe hinauf. Oben wurden sie von einem Chinesen, dessen Gesichtszüge wie eine Maske anmuteten, in Empfang genommen. Er führte sie in eine teuer eingerichtete Wohnung, deren Stil verriet, dass hier ein Chinese wohnte, und forderte sie auf, in einem Raum, in dem es einen großen Tisch mit acht Stühlen gab und an dessen Wänden zwei Vitrinen standen, Platz zu nehmen. Zwischen den Vitrinen hing eine chinesische Seidenmalerei.
Der Chinese verschwand.
Owen Burke fühlte sich irgendwie nicht wohl in seiner Haut. Tief in seinem Bewusstsein rührte sich etwas. Es entzog sich jedoch seinem Verstand. War es, weil er um die Skrupellosigkeit Kim Wangs wusste? Die Basis seines Erfolgs war das Verbrechen. Sicher wusste er längst, dass sich sein Killer, Lin Zhao, in der Hand der Polizei befand. Und er konnte sich nicht sicher sein, inwieweit das FBI über seine Rolle im Machtkampf hier in Chinatown informiert war. Denn es war eine Nachrichtensperre verhängt worden, und so hatte Wang nicht die geringste Ahnung, wie es um den Gesundheitszustand Zhaos bestellt war und ob er gegebenenfalls geredet hatte.
Es war nicht auszuschließen, dass Kim Wang die Reaktion eines in die Enge getriebenen Raubtieres zeigte.
Dann kam der Chinese. Der Mann, der die Agents im Treppenhaus in Empfang genommen hatte, begleitete ihn. Wieder sagte sich Owen Burke, dass Augen, Nase und Mund in dem kugelrunden Gesicht auf eine viel zu kleine Fläche verteilt waren. Ihm entging nicht der brutale Zug, der sich um die dünnen Lippen des Chinesen festgesetzt hatte. Die Kälte in seinem Blick konnte andere frösteln lassen.
Aber Kim Wang gab sich jovial. Er reichte erst Ron Harris dann Owen Burke die Hand, dann sagte er: „Ich bin ein rechtschaffener Geschäftsmann, der pünktlich seine Steuern zahlt, Agents.“ Ein süffisantes Grinsen, das die Augen allerdings nicht erreichte, zog seinen Mund in die Breite. „Was also verschafft mir die Ehre, zwei FBI-Leute in meiner bescheidenen Wohnung begrüßen zu dürfen?“
Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.
„Reden wir Tacheles“, sagte Owen Burke. „Sie sind drauf und dran, Lian Song hier in Chinatown fertig zu machen. Womit Lian Song sich seine Brötchen verdient, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Diese Pfründe beabsichtigen Sie für sich zu nutzen. Wir, das FBI also, haben beschlossen, Ihrem Treiben ein Ende zu bereiten. Wir haben Ihren Killer, Lin Zhao, festgenommen.“
Owen Burke brach ab und beobachtete die Wirkung seiner Worte auf den Chinesen. Es war ein unergründlicher Blick, mit dem dieser Burke anstarrte. Mit keinem Wimpernzucken verriet Wang, was hinter seiner Stirn vorging.
„Sie sind ausgesprochen direkt, G-man“, knurrte der Chinese schließlich. Er ging zu einem Stuhl, zog ihn unter dem Tisch hervor und setzte sich. „Aber haben Sie auch Beweise für Ihre Behauptungen?“
„Drei Angestellte Lian Songs wurden auf brutale Art ermordet. In der Wohnung von Lin Zhao haben wir auch den Würgedraht gefunden, mit denen er die drei vom Leben zum Tod befördert hat.“ Burke lehnte sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Hände über dem Bauch, deutete ein Lächeln an und fuhr fort: „Was sagen Sie denn, wenn Lin Zhao ein Geständnis abgelegt hat? Er hat schließlich nichts mehr zu verlieren. Ihm die Ausführung der Morde nachzuweisen ist für unsere Forensiker ein Spaziergang.“
„Das wäre ...“
Owen Burke hatte den Chinesen etwas aus der Ruhe gebracht. Seine Gesichtszüge waren für einen Moment geradezu entgleist. Die beiden Worte entfuhren ihm regelrecht, ohne dass er von einem bewussten Willen geleitet wurde. Das forsche Auftreten der G-men verunsicherte ihn.
Kim Wang atmete tief durch, und jetzt gelang es ihm auch wieder, sein Pokerface aufzusetzen. „Wenn Lin Zhao die drei Morde tatsächlich begangen hat, dann soll er dafür büßen. Ich –„ Wang tippte sich mit dem Daumen einige Male gegen die Brust, „- habe damit nichts zu tun.“
„Aber Lin Zhao arbeitet für Sie“, brachte sich Ron Harris in das Gespräch ein.
„Er ist Keeper in meinem Club. Aber was hat das schon zu sagen?“
„Auch ein Amerikaner wurde mit einem Würgedraht ermordet“, sagte Owen Burke. „Sein Name ist George Bender. Wir gehen davon aus, dass auch ihn Lin Zhao auf dem Gewissen hat. Bender arbeitete für einen Mann namens Robert Warren. Sagt Ihnen der Name etwas?“
Wang stieß scharf die verbrauchte Atemluft durch die Nase aus. „Nein.“
Owen Burke erhob sich, Ron Harris folgte seinem Beispiel. Burke ergriff noch einmal das Wort, indem er sagte: „Wir sind Ihnen auf den Fersen, Wang. Darüber – glaube ich -, habe ich keinen Zweifel aufkommen lassen. Wir haben Ihren Killer, und der nimmt die Morde sicher nicht alleine auf seine Kappe. Wir kommen wieder, Wang, das ist ein Versprechen. Und wenn sich eines Tages die Gefängnistüren hinter Ihnen schließen, dann für alle Zeiten.“
Ein spöttisches Grinsen Kim Wangs war die Antwort. Aber seine dunklen Augen drückten eine unheilvolle Prophezeiung aus.
Die G-men verließen die Wohnung.
„Du hast ihm den Fehdehandschuh hingeworfen“, murmelte Ron Harris, als sie im Dodge saßen. „Entweder nimmt er ihn auf, und dann müssen wir höllisch auf der Hut sein, oder er hält sich ab sofort tunlichst zurück, außer, dass er vielleicht versucht, Lin Zhao für immer zum Schweigen zu bringen.“
„Zhao wird bewacht. Auch glaube ich nicht, dass Wang befürchten muss, dass ...“ Burke brach ab, kniff die Augen zusammen, starrte für die Spanne einiger Herzschläge lang an seinen Kollegen vorbei aus dem Seitenfenster und stieß dann hervor: „Hol mich dieser oder jener, Ron. Aber wenn mich nicht alles täuscht, dann hat soeben Sherman den Bau betreten, in dem sich Wangs Wohnung befindet.“
„Sherman?“, kam es fragend von Ron Harris, plötzlich aber lief der Schimmer des Begreifens über sein Gesicht. „Richtig, Hank Sherman, einer von Warrens Programmierern.“
„Sehr richtig. Es ist kaum anzunehmen, dass er zu jemand anderem in dem Gebäude will als zu Kim Wang. Aber was will er von ihm? Was besteht für eine Verbindung? Hat Robert Warren die Finger im Spiel? Wang vermittelte nicht den Eindruck, als würde er jemand erwarten.“
„Warten wir einfach, bis er wieder herauskommt“, knurrte Ron Harris. „Und dann fragen wir ihn.“
„So lange will ich nicht hier müßig herumsitzen“, versetzte Owen Burke, löste den Sicherheitsgurt, den er schon angelegt hatte, öffnete die Tür und stieg aus dem Dodge.
Auch Ron Harris stieg wieder aus. Sie betraten gleich darauf die Halle. Von Sherman war nichts mehr zu sehen. Der Doorman schaute die Agents fragend an.
„Zu wem wollte der Besucher eben?“, fragte Burke.
„Zu ...“
Oben knallte ein Schuss. Dann war ein splitterndes Bersten zu vernehmen, wie wenn eine Tür gewaltsam aufgerammt wird, jemand schrie etwas, dann dröhnten wieder Schüsse.
Owen Burke und Ron Harris waren schon auf dem Weg nach oben. Immer zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend stürmten sie die Treppe hinauf, jeder die Dienstwaffe in der Hand.
Die Tür zu Kim Wangs Apartment stand offen. Owen Burke bedeutete seinem Freund und Kollegen, bei der Treppe zurückzubleiben und ihm gegebenenfalls Feuerschutz zu geben. Er pirschte dicht an der Wand entlang zu der Tür hin, erreichte sie und lugte um den Türstock herum in die Wohnung. Gleich hinter der Tür lag der Chinese, der ihnen vor etwa einer Viertelstunde die Tür geöffnet hatte. Sein weißes Hemd war über der Brust rot von Blut. Seine Augen starrten blicklos zur Decke hinauf und zeigten nur noch die absolute Leere des Todes. Vor der Tür zu dem Raum, in dem Kim Wang die Agents empfangen hatte, lag Hank Sherman. Seine Hand umklammerte den Griff einer Pistole. Aus dem Raum war ein Röcheln zu vernehmen.
Owen Burke betrat die Wohnung, die Hand mit der schussbereiten Pistole erhoben, sie beschrieb einen Halbkreis, dem sein Blick folgte. Anspannung prägte jeden Zug in seinem Gesicht. Jeder seiner Sinne war aktiviert, er war bereit, gegebenenfalls blitzschnell zu reagieren.
Wieder erklang das röchelnde Stöhnen.
Owen Burke glitt an Sherman vorbei, schaute in den Raum, aus dem das Röcheln gekommen war, und sah Kim Wang vor dem Tisch am Boden liegen. Die Hände des Chinesen hatten sich über dem Leib verkrampft, Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Schmerz verzerrte sein Gesicht und wühlte in seinen Augen.
Von keinem der Männer in der Wohnung ging irgendeine Gefahr aus. Burke rief seinen Kollegen, dann zückte er sein Handy und rief in der Zentrale an. Er bat, einige Kollegen, die Spurensicherung und den Emergency Service zu Wangs Wohnung zu schicken.