6

Kim Wangs Leibwächter war tot. Ebenso Hank Sherman. Kim Wang hatte einen Bauchschuss davongetragen und seine Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Er war auf dem Weg in die Klinik. Die Beamten der Spurensicherung machten ihren Job. Der Coroner wartete darauf, dass er den Abtransport der Leichen in die Gerichtsmedizin anordnen konnte.

Owen Burke und Ron Harris begaben sich in die Halle. Der Doorman war bleich und wirkte völlig verstört. Unablässig blinzelte er. Ununterbrochen knetete er seine Hände.

„Sie haben den Mann, der nach uns das Gebäude betreten hat, doch sicher gefragt, zu wem er möchte“, konstatierte Owen Burke.

Der Doorman schluckte würgend. „Ja, natürlich. Als ich Kim Wang anrufen wollte, legte er einen nagelneuen Hunderter auf den Tresen und sagte, dass dieser Schein so etwas wie seine Eintrittskarte zu Kim Wang sei. Mir schob er einen Zehner zu. Er fügte noch hinzu, dass er in enger geschäftlicher Beziehung zu Wang stehe und dass ihn der Chinese erwarte.“

„Der Zehner veranlasste Sie, ihn ohne weitere Nachfragen passieren zu lassen, wie?“

Der Doorman schaute betreten zur Seite.

Bei der Eingangstür war eine wütende Stimme zu vernehmen. Eine andere Stimme antwortete: „Ich habe Order, niemand ins Gebäude zu lassen. Das gilt auch für euch von der Presse. Also seien Sie friedlich und gedulden Sie sich.“

Owen Burke und Ron Harris stiegen wieder die Treppe empor zu Wangs Wohnung. Ein Beamter von der SRD trat an sie heran und hielt ihnen einen Plastikbeutel hin, in dem sich eine Brieftasche befand. „Es ist die Brieftasche Shermans“, erklärte der Mann. „Sie beinhaltet zehn funkelnagelneue Hundertdollarnoten. Ich vermute, dass es sich um Blüten handelt. Aber sie sind dermaßen gut gemacht, dass sie mit dem bloßen Auge nicht von echten Scheinen zu unterscheiden sind.“

„Ich glaube“, murmelte Owen Burke, „langsam wird mir einiges klar. Ich weiß nur noch nicht, wie die Rollen in dieser Inszenierung verteilt sind. Aber ich denke, dass wir das herausfinden werden. – Lassen Sie die Scheine unverzüglich auf Ihre Echtheit überprüfen, Kollege“, sagte der Agent an den Beamten von der Spurensicherung gewandt. „Und wenn Sie ein Ergebnis haben, geben Sie mir bitte sofort Bescheid.“

„Geht klar“, sagte der Mann von der SRD und wandte sich ab.

Die G-men überließen den Leuten von der Spurensicherung endgültig das Feld. Sie hätten nur im Weg herumgestanden und vielleicht sogar Spuren zerstört. Sie verließen das Gebäude. Ein Übertragungswagen von New York One stand vor dem Haus. Bei dem Fahrzeug sahen die Agents einen Kameramann, der den Menschenauflauf und die Polizisten, die die Meute zurückdrängten, filmte. Bei ihm befand sich ein Reporter, der in ein Mikrofon sprach.

Owen Burke presste die Lippen zusammen, dann stieß er hervor: „Wahrscheinlich wird es bereits live im Fernsehen ausgestrahlt, dass in Kim Wangs Wohnung eine tödliche Schießerei stattgefunden hat.“

„Davon musst du ausgehen“, pflichtete Ron Harris bei.

Die Agents fuhren in die Sullivan Street und standen wenig später im Büro der bildhübschen Sekretärin Warrens. Sie sagte: „Der Chef hat vor einer Viertelstunde etwa ziemlich überstürzt sein Büro verlassen. Irgendetwas muss ihn ziemlich aus der Fassung gebracht haben. Er hat nicht einmal seinen Fernsehapparat ausgeschaltet.“

„Schaut er denn öfter mal fern während der Arbeitszeit?“, fragte Owen Burke.

„Nur die Lokalnachrichten.“

„Welcher Sender ist sein Favorit?“, fragte Ron Harris.

„New York One.“

„Sagte er, wohin er wollte?“

„Nein. So erregt habe ich ihn noch nie gesehen. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was ihn derart aus der Ruhe gebracht haben könnte?“

„Ja, wir wissen es, Miss. Wir sehen uns mal im Büro Ihres Chefs um. Wir können zwar keinen Durchsuchungsbefehl vorweisen, aber das dürfte keine Rolle spielen.“

Ohne die Zustimmung der Sekretärin abzuwarten öffnete Ron Harris die Tür zu Robert Warrens Büro. Nacheinander betraten sie den Raum, Ron Harris wies auf einen geöffneten Schrank, in dem sich ein kleiner Tresor befand, dessen dicke Stahltür ebenfalls offen stand. „Warren scheint es in der Tat sehr eilig gehabt zu haben.“

Der Tresor beinhaltete nichts, was für die Agents von Interesse gewesen wäre. Sie durchsuchten die Schübe des Schreibtisches. Schließlich wandte sich Burke an die Sekretärin, die in der Tür stand und sie stumm beobachtete: „Warren ist doch verheiratet. Können Sie uns seine private Telefonnummer geben. Vielleicht kann uns seine Frau Auskunft bezüglich seines Verbleibs geben.“

Eine halbe Minute später hatte der Agent Samantha Warren an der Strippe. Schon als sie sich mit ihrem Namen meldete, klang ihre Stimme weinerlich. Nachdem sich Burke vorgestellt hatte, fragte er: „Mein Kollege und ich befinden uns im Büro Ihres Mannes, Mrs. Warren. Haben Sie eine Ahnung, wo er sich befindet? Seine Sekretärin hat uns berichtet, dass er sein Büro ziemlich überstürzt verlassen hat.“

Die Frau schniefte, dann antwortete sie: „Er – er war zu Hause. Ich ...“ Die Frau begann zu weinen. „Robert hat sämtliches Bargeld, das wir in der Wohnung hatten, genommen“, sagte sie nach einer Weile, als sie ihre Empfindungen wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben schien, mit brüchiger Stimme. „Mir erklärte er, dass er fliehen müsse. Er redete wirres Zeug. Die Rede war von einem Chinesen namens Wang, von einem Amerikaner mit Namen Derek Morrison, er sagte, dass wahrscheinlich George Bender versucht habe, ihm in den Rücken zu fallen ...“

Erneut wurde die Frau von ihren Gefühlen überwältigt. Hemmungslos weinte sie ins Telefon.

„Wir kommen zu Ihnen, Mrs. Warren. Sagen Sie mir die Adresse.“

„Prince Street 314, Ecke West Broadway.“

“Wir fahren sofort los, Mrs. Warren“, versicherte Owen Burke und beendete das Gespräch.

Wenig später waren die Agents auf dem Weg. Die Wohnung war nur wenige hundert Yards von der Firma Warrens entfernt. Sie lag in der vierten Etage eines Hochhauses. Im Laufschritt betraten Burke und Harris den Bau, dem Doorman, der sie aufhalten wollte, hielt Burke im Vorbeilaufen die Dienstmarke hin und rief ihm zu, dass es sich um einen Einsatz handle. Sie nahmen nicht den Aufzug, sondern hetzten die Treppe hinauf, kamen ziemlich atemlos oben an und Harris läutete an der Wohnungstür.

Es gab eine Gegensprechanlage, aber Samantha Warren schien die Agents schon erwartet zu haben. Kaum, dass der Klingelton verklungen war, öffnete sie die Tür. Es handelte sich um eine etwa vierzigjährige Frau, sehr attraktiv, blonde, hochgesteckte Haare, mittelgroß und schlank. Sie war mit einer blauen Jeans und einem weißen T-Shirt bekleidet, was ihre weiblichen Proportionen vorteilhaft zur Geltung brachte.

Ihre blauen Augen waren gerötet vom Weinen. Um ihren Mund lag ein herber Zug. Sie bat die Agents ins Wohnzimmer und bot ihnen Plätze zum Sitzen an. Sie selbst nahm ebenfalls Platz.

„Dann erzählen Sie mal, Mrs. Warren“, forderte Agent Burke die Frau zum Sprechen auf.

Sie schniefte, ihre Mundwinkel zuckten, ihre Augen begannen sich wieder mit Tränen zu füllen. Nachdem sie zweimal angesetzt hatte, quoll es aus ihrem Mund: „Etwa zehn Minuten, ehe Sie bei mir anriefen, erschien Robert.“ Ihre Stimme bebte und drohte jeden Moment zu brechen. Ein Laut entrang sich ihr, der sich anhörte wie Schluchzen. „Er - er war völlig aufgelöst. Ich wollte wissen, was los sei. Er holte sämtliches Bargeld aus dem Safe, ohne mir eine Erklärung abzugeben.“ Mrs. Warrens Stimme wurde fester und gewann an Sicherheit. „Ich stellte mich ihm in den Weg. Er habe nicht viel Zeit, meinte er. Es ginge um sein Leben. Sherman sei zu Wang gefahren und es habe eine Schießerei gegeben. Das habe er einer Sondersendung entnommen, die New York One ausstrahlte. Er wollte das Geschäft mit Derek Morrison abwickeln, aber Bender wollte ihm in den Rücken fallen und den Deal auf eigene Faust mit Wang machen. Nun sei er seines Lebens nicht mehr sicher. Er wollte sich bei mir melden, wenn er in Sicherheit ist.“

„Was für einen Deal?“, fragte Ron Harris. „Von welchem Geschäft sprach Ihr Mann, Mrs. Warren?“

„Das weiß ich nicht.“

„Wahrscheinlich ging es um das Geschäft mit den Hundertdollarnoten“, gab Owen Burke zu verstehen. „Es handelt sich um Blüten. Robert Warren, George Bender und Hank Sherman haben die Blüte mit dem Computer designt. Auf dem richtigen Papier gedruckt und millimetergenau geschnitten kommen jene Hunderter heraus, die Hank Sherman in der Brieftasche mit sich herumtrug.“

„Wer ist Derek Morrison?“, fragte Ron Harris.

„Das finden wir heraus“, antwortete Burke. „Was für ein Auto fährt Ihr Mann?“, fragte er an Mrs. Warren gewandt.

„Einen Buick LaCrosse, Baujahr 2011  – blaumetallic. Die Nummer ist S74 OJA.“

„Wir geben den Wagen sofort in die Fahndung, Ron“, sagte Burke, zückte sein Notizbuch und einen Kugelschreiber und vermerkte die Zulassungsnummer auf einer leeren Seite. Dazu schrieb er den Namen des Halters Robert Warren. Aber Ron Harris rief bereits im Federal Building an, gab dem Innendienstler, mit dem er sprach, die Zulassungsnummer durch und bat ihn, unverzüglich die Fahndung nach dem Buick LaCrosse anzuleiern. Außerdem gab er den Namen Derek Morrison durch und trug dem Kollegen auf, alles Wissenswerte über diesen Mann herauszufinden.

„Sagte Ihr Mann sonst noch etwas?“, fragte Owen Burke die Frau.

Sie dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich war zwar ziemlich konfus“, murmelte sie, „aber ich bin mir sicher, dass ich Ihnen alles gesagt habe, was er von sich gab.“

„Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann rufen Sie mich bitte sofort an“, bat Burke und gab Samantha Warren eine von seinen Visitenkarten.

Dann ließen sie die Frau allein.