Milo und ich fuhren später zur neuen Residenz von Jeffrey Watson, dem ehemaligen Chef von Watson & Partners.
Per Handy versorgte uns die Zentrale über alle gegenwärtig über Watson vorliegenden Informationen. Agent Max Carter, einer unserer Innendienstler aus der Fahndungsabteilung, hatte auf die Schnelle herausfinden können, dass die Kanzlei vor kurzem aufgelöst worden war.
Trotzdem waren alle drei Teilhaber weiterhin an der Verteidigung in Ray Azzaros jüngstem Prozess beteiligt gewesen. Schließlich war jeder von ihnen nach wie vor als Anwalt zugelassen.
„Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!“, meinte Milo. „Ein Gangster stirbt durch einen Schuss, der aus der Kanzlei seines Anwalts abgegeben wurde. An Zufälle glaubt doch da niemand!“
Zuvor hatte Watsons Kanzlei immer wieder Mandanten aus dem Umfeld von James Gutierrez verteidigt, darunter mehrere Drogenhändler, die wir der Organisation von Benny Duarte zurechneten, einem Drogenkönig, der unseren Erkenntnissen nach in geschäftlichen Verbindungen zu Gutierrez stand, ohne dass wir einem der beiden daraus bislang einen Strick hätten drehen können.
Watsons gegenwärtige Wohnung war eine Traumetage am Ende der Fifth Avenue mit Blick auf den Central Park.
Wir hatten gerade einen Parkplatz gefunden, als Milos Handy schrillte. Es war noch einmal Agent Carter aus dem Innendienst. Er war auf einen interessanten Fall gestoßen, der vor drei Jahren vor Gericht ausgetragen worden war. Ray Azzaro war wegen schwerer Körperverletzung und Drogenhandel angeklagt und aus Mangel an Beweisen schließlich freigesprochen worden. Der Verteidiger in diesem Verfahren war ebenfalls niemand anderes als Jeffrey Watson gewesen, Senior Partner der Kanzlei Watson & Partners.
Wir fuhren in den zwölften Stock des exklusiven Appartementhauses in dem er jetzt residierte. Die Miete dieser Traumetage musste mindestens das Dreifache dessen betragen, was ihn die Räumlichkeiten in dem Brownstone-Bau gegenüber dem Gerichtsgebäude gekostet hatte.
Aber Jeffrey Watson schien sich das leisten zu können.
An seiner Wohnungstür verriet kein Schild, dass sich hier die Residenz eines Anwalts befand. Ob er überhaupt noch ein Büro unterhielt, war noch keineswegs klar.
Ich betätigte die Klingel.
Ein Kameraauge nahm uns ins Visier.
Ein paar Augenblicke später ertönte eine leise Stimme aus der Sprechanlage. „Sie wünschen?“
„Jesse Trevellian, FBI!“, meldete ich mich und hielt meine ID-Card in die Kamera. „Mein Kollege Special Agent Milo Tucker und ich habe im Zusammenhang mit der Ermordung eines ehemaligen Mandanten von Ihnen ein paar Fragen.“
„Werfen Sie Ihren FBI-Ausweis bitte durch den Briefschlitz, damit ich mich von dessen Echtheit überzeugen kann.“
Ich zuckte die Achseln, wechselte einen kurzen Blick mit Milo und warf schließlich meine ID-Card durch den Briefschlitz.
Wenig später öffnete sich die Tür. Ich hörte, wie mehrere Ketten und zusätzliche Sicherheitsschlösser geöffnet wurden.
Ein kleiner, hagerer Mann mit etwas wirren Haaren stand vor uns. Ich erkannte ihn von seinen Auftritten im Gerichtssaal wieder und schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre. Seine Brille mit den dicken, viereckigen Gläsern und der knallroten Fassung wirkte sehr auffällig.
„Mister Jeffrey Watson?“, vergewisserte ich mich.
„Der bin ich. Kommen Sie herein“, sagte er und winkte uns mit einer lässigen Geste zu.
Er drehte sich um. Wir folgten ihm, während die Tür hinter uns von selbst ins Schloss fiel. Watson brachte uns in sein Wohnzimmer, das mehr Quadratmeter hatte, als die meisten New Yorker Wohnungen insgesamt.
Kaum etwas ist im Big Apple – und vor allem in Manhattan – so knapp wie Wohnraum. Die verschwenderische Art und Weise in der Watson damit umging, schien fast so etwas wie eine Demonstration zu sein. Er wollte damit jedem Besucher zeigen, dass er es geschafft hatte und es sich leisten konnte, eine Fläche, die sich gut und gerne für eine fünfstellige Summe im Monat vermieten ließ, einfach so gut wie leer stehen zu lassen.
Die Einrichtung des Wohnzimmers, in das er uns führte, war von genauso demonstrativer Schlichtheit. Ein paar Regale in Metalloptik. Ein abstraktes, großformatiges Bild, das Kreise und Quadrate auf einer hellblau grundierten Fläche sich abwechseln und ein Muster erzeugen ließ, das sich wahrscheinlich vielfältig interpretieren ließ, eine Designer-Lampe in Form eines Schlangenkopfes, in deren Rachen ein großer Halogenscheinwerfer strahlte – das war schon beinahe alles. Diese Wohnung hatte kaum etwas, das eine persönliche Note verriet. Außer einer Bibel, einem Windows-Handbuch und einem Ratgeber für legale Steuertricks gab es keinerlei Bücher.
„Bitte setzen Sie sich“, forderte Jeffrey Watson uns auf. Wir nahmen in tiefen Ledersesseln Platz, die rund um einen Glastisch gruppiert waren.
„Ich denke, Ihnen ist der Name Ray Azzaro ein Begriff“, begann ich.
„Oh, natürlich ist er das!“, fiel mir Watson ins Wort. „Natürlich! Vor allem seit die lokalen Fernsehnachrichten ausführlich über das Attentat auf ihn vor dem Gerichtsgebäude berichtet haben.“ Watson schüttelte energisch den Kopf, während seine Gesichtszüge einen nachdenklichen Ausdruck zeigten. „Ich sage Ihnen, mit diesem Land geht es bergab. Es gibt keinen Respekt mehr vor dem Gesetz und selbst auf den Stufen eines Gerichtsgebäudes ist man nicht mehr sicher davor, einfach durch eine Kugel niedergestreckt zu werden."
„Mister Azzaro war ein Mandant von Ihnen", stellte ich sachlich fest.
„Allerdings!“
„Konnten Sie ihn nicht an seinem peinlichen Auftritt auf den Stufen des Portals hindern?“
„Ich war immer jemand, der dem Gedränge und dem Blitzlichtgewitter ausgewichen ist – Azzaro hingegen hat es in dem Moment wahrscheinlich genossen.“
„Bis zu dem Augenblick, da ihm eine Kugel in den Schädel fuhr. Sie waren zuvor schon einmal für Ray Azzaro juristisch tätig.“
Watson nickte.
„Das dürfte aber schon ein paar Jahre her sein, Mister..."
„Trevellian, stellvertretender Special Agent in Charge" , stellte ich zum zweiten Mal vor und fragte mich dabei, ob er nur so tat, als ob er sich meinen Namen nicht hatte merken können und das vielleicht eine ganz bewusst eingesetzte Geste der Geringschätzung war, mit der ich es da zu tun hatte, oder ob er zeitweise wirklich so fahrig und vergesslich aufzutreten pflegte. Meine Eindrücke im Gerichtssaal entsprachen dem jedenfalls nicht. Mir fiel gleich die gerötete Nase auf. Möglich, dass er nur einen Schnupfen hatte, aber da er während unseres gesamten Gesprächs nicht einmal die Nase schnäuzte, tippte ich eher auf einen anderen Grund für seine zerstörten Nasenschleimhäute. Im Laufe der Zeit bekommt man einen Blick für eine durch das Schnupfen von Kokain ruinierte Nase. Für einen Blütenpollenallergiker schniefte er entschieden zu wenig und außerdem hätte er schon ausgesprochen dämlich sein müssen, sich ausgerechnet eine Wohnung zu nehmen, die nur ein paar Schritte vom Central Park entfernt lag.
„Azzaro wurde von Ihrer ehemaligen Kanzlei aus erschossen. Sie sind doch noch Mieter der Etage in dem zehnstöckigen Brownstone-Haus gegenüber dem Gerichtsgebäude."
„Aber nur noch für einen Monat", erwiderte Watson. „Dann läuft der Mietvertrag aus. Leider war es mir nicht möglich, vor dem Ende der Kündigungsfrist einen Nachmieter zu benennen." Er zuckte die Achseln. „Die Zeiten werden härter, selbst für Anwälte, auch wenn es keiner glauben mag."
„Für Sie scheint das ja nicht zuzutreffen", mischte sich Milo in das Gespräch ein.
Watsons Augen verengten sich. „Was wollen Sie damit sagen? Wollen Sie mir irgendetwas anhängen? Dann kann ich Sie nur warnen..."
„Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen vor Gericht die Klingen zu kreuzen", schnitt Milo ihm das Wort ab. „Warum also so empfindlich?"
„Was mein Kollege damit sagen wollte ist lediglich, dass es jemandem, der sich in einer Traumetage in der Fifth Avenue mit Blick auf den Central Park zur Ruhe setzen kann, finanziell nicht gerade schlecht gehen kann," ergänzte ich.
„Meine Finanzen gehen Sie nichts an, und wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich mich zur Ruhe gesetzt hätte?"
„Wie ein Büro sieht das hier nicht gerade aus", stellte ich fest.
„Ich bin mir sicher, dass ich nicht verpflichtet bin, Ihnen diese Fragen zu beantworten!"
„Gut, dann beantworten Sie mir doch bitte eine andere."
„Ich bin gespannt, G-man!"
„Wie kommt der Killer, der Azzaro auf dem Gewissen hat, an den Schlüssel zu Ihren ehemaligen Kanzlei-Räumen?"
Watson sah mich völlig entgeistert an. Er schien fassungslos zu sein. „Wie bitte?"
„Sie haben meinen Kollegen schon richtig verstanden", bestätigte Milo. „Nach den Erkenntnissen der Spurensicherung steht fest, dass der Täter einen Schlüssel hatte. Und eine der Adressen, von denen er diesen Schlüssel haben könnte, sind Sie!“
„Warten Sie!“, verlangte Watson. Er ging mit großen Schritten auf eine Tür zu, schob sie zur Seite. Dahinter befand sich ein weiterer Raum, der ebenfalls sehr spärlich, aber mit edlem Mobiliar eingerichtet war.
Watson ging an einen kleinen Schrank, holte insgesamt drei Schlüssel hervor und hielt sie Milo und mir wenige Augenblicke später vor die Nase. „Watson & Partners besaß drei Schlüssel und hier sind drei Schlüssel. Was wollen Sie mehr?“
„Was ist mit Ihren ehemaligen Teilhabern?“
„Ihre Schlüssel sind dabei. Mit der Abwicklung der Kanzlei haben sie nichts mehr zu tun. Ich hatte es übernommen, mich um einen Nachmieter zu kümmern, also habe ich die Schlüssel.“
„Geben Sie uns bitte die gegenwärtigen Adressen Ihrer ehemaligen Teilhaber“, verlangte ich.
„Da wollen Sie also auch noch herumschnüffeln. Tun Sie es ruhig. Die Adressen schreibe ich Ihnen auf.“
Ich wunderte mich etwas über Watsons feindselige, sehr nervöse und dünnhäutige Art. Schließlich kannte er das Spiel doch bestens, nur dass er diesmal nicht Verteidiger sondern Zeuge war. Zunächst einmal. Wer konnte schon wissen, wie sich das weiter entwickelte?
„Jeder von Ihnen hätte eine Kopie anfertigen können“, erklärte ich.
„Ja sicher! Und außerdem der Besitzer des Appartementhauses sowie jeder der Wachmänner, die ja Zugang zu Generalschlüsseln hatten, um im Notfall in die Wohnungen eintreten zu können“, verteidigte sich Watson. „Ich weiß nicht, welchen Strick Sie mir da drehen wollen, aber daraus wird nichts. Sie fischen im Trüben!“
Abwarten!, dachte ich. Die Verbindungen, die sich zwischen Watson und unserem Fall ergaben, waren für meinen Geschmack zu eindeutig, um auf Zufall basieren zu können. Welche Rolle er allerdings in diesem Stück spielte, würden wir noch ermitteln müssen.
„Erzählen Sie uns so viel wie möglich über Ray Azzaro“, verlangte ich schließlich. „Und natürlich über jeden, der einen Grund haben könnte, ihn töten zu lassen!“