Am folgenden Vormittag statteten die Agents Luke Graham einen Besuch ab. Nachdem sie bei ihm angerufen hatten, um sich zu vergewissern, ob er zu Hause sei, erfuhren sie, dass er im Baustoffhandel seines Vaters in Queens arbeitete und in dem Betrieb wohl auch anzutreffen sei. Der Betrieb hieß ‚Grahams’ Building Materials’. Die Agents nahmen die Williamsburg Bridge, um auf die andere Seite des East River zu gelangen.
Luke Graham arbeitete bei seinem Vater als Buchhalter. Die Agents erklärten ihm, wer sie waren, er verströmte plötzlich ein hohes Maß an Unruhe, und seine Stimme zitterte leicht, als er sie aufforderte, an dem runden Besuchertisch Platz zu nehmen.
Graham war dreiunddreißig Jahre alt, dunkelhaarig, etwas über eins achtzig groß und er wirkte durchtrainiert und drahtig.
„Haben Sie ein Päckchen erhalten?“, fragte Owen Burke gerade heraus und nahm dabei den Blick nicht vom Gesicht Grahams.
Luke Graham zuckte zusammen, als hätte ihn etwas Heißes berührt. Er vermied es, einen der Agents anzublicken. Immer wieder fuhr er sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. „Ein Päckchen?“
„Ein Päckchen, das eine Spritze mit Gift enthielt sowie eine Todesdrohung.“
Luke Graham sah wohl ein, dass die Agents vollumfänglich informiert waren und dass es zwecklos war, zu leugnen oder den Zugang des Päckchens abzustreiten. Er nickte. „Keith Rodgers hat die Spritzen versandt, nachdem sie Gary hingerichtet haben.“
„Und Sie haben seine Drohung damit quittiert, dass Sie ihm einen Killer auf den Hals hetzten“, konstatierte Ron Harris, und er nahm sich kein Blatt vor den Mund.
„Was sagen Sie da?“, entfuhr es Graham. „Ist – ist Keith Rodgers etwa tot?“
„Rodgers lebt“, antwortete Burke. „Aber seine Gattin wurde brutal ermordet.“
„Das – das ist ja ...“ Graham erhob sich mit einem Ruck. Er presste die rechte Hand gegen die Stirn, ging zum Fenster und starrte durch die Scheibe auf einen unbestimmten Punkt irgendwo in der Ferne. „Ich – ich habe damit nichts zu tun“, murmelte er, seine Hand sank nach unten, er schüttelte den Kopf und wiederholte: „Ich habe damit nicht das Geringste zu tun. Die Drohung – ich habe sie nicht ernst genommen. Rodgers war in den vergangenen Jahren des Öfteren bei mir. Er hat mir sogar Geld geboten, damit ich meine Aussage vor dem Gericht in Hartford widerrufe.“
„Wie war das damals in Hartford?“, fragte Owen Burke.
Graham kam zum Tisch zurück und setzte sich. Er schien seine nächsten Worte erst in Gedanken zu formulieren, denn er starrte grübelnd vor sich hin und schwieg. Dann aber begann er: „Wir waren eine Clique. Bei dem Rockfestival in Hartford bestimmten drei Dinge unseren Alltag: Alkohol, Drogen und Sex. Die meisten der Weiber, die sich dort eingefunden hatten, dachten wie wir. Einige boten sich sogar für Geld an. Mit zwei der Ladies, beide waren wahrscheinlich unter zwanzig, ließen wir uns ein. Hauptsächlich Gary hing an einer dieser Schlampen wie eine Klette. Und schließlich verschwand er mit ihr in seinem Zelt.“
„Und dann?“
„Wir waren stockbetrunken und mit Drogen vollgedröhnt und schliefen irgendwann ein. Am Vormittag machte dann irgendjemand die grausige Entdeckung. Die Lady, die Gary mitgenommen hatte, lag erwürgt in seinem Zelt. Er lag neben ihr und schlief. Den Rest kennen Sie, schätze ich.“
„Ja“, sagte Owen Burke. „Und der Vorhang fiel vor nicht ganz zwei Wochen vor dieses Drama, als man Gary Rodgers auf die Bahre schnallte und ihm Kaliumchlorid und einige andere Gifte in die Venen pumpte. Er behauptete, dass man ihm den Mord in die Schuhe geschoben hat.“
„Ich weiß, dass er dieser Meinung war. Er beschuldigte uns. Aber wir waren es nicht. Wir haben ja auch gar nicht ausgesagt, dass er die Hure erwürgt hat. Unsere Aussage lautete übereinstimmend, dass er zusammen mit ihr in seinem Zelt verschwand und dass wir die Frau danach nicht mehr lebend sahen.“
„Gary Rodgers Vater ist davon überzeugt, dass Sie lügen und dass Sie seinen Sohn skrupellos geopfert haben, um den wahren Mörder zu decken.“
„Das ist doch Unsinn!“
„Haben Sie noch Kontakt mit Gene Lansford und Ray Jenkins?“
„Nur noch sporadisch. Die unselige Sache von vor sechs Jahren hat uns ziemlich geläutert. Von den Drogen habe ich seitdem die Finger gelassen, und Alkohol trinke ich nur noch äußerst selten. Ich habe gesehen, wohin es führt ...“
„Sagt Ihnen der Name Bob Dugan etwas?“, fragte Owen Burke.
Luke Graham nickte. „Der gehörte früher mal zu unserer Clique. Aber dann wurde er verurteilt und einige Zeit weggesperrt. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört.“
„War er dabei in Hartford?“
„Nein. Zu dieser Zeit saß er im Gefängnis. Was ist mit Dugan? Spielt er irgendeine Rolle?“
„Er hat Mrs. Rodgers ermordet und hätte auch Keith Rodgers abserviert, wenn das Hotel, in dem er wohnte, nicht die Warnung erhalten hätte, dass ein Killer im Anmarsch ist.“
Graham starrte Owen Burke ungläubig an. „Das – das wird ja immer verworrener!“, entfuhr es ihm.
„Da scheinen sich einige Zeitgenossen nicht einig gewesen zu sein“, mischte sich Ron Harris ein. „Jemand wollte Rodgers tot sehen, ein anderer wollte den Mord verhindern. Auf der Strecke blieben Rodgers Gattin und der Killer.“
Luke Graham starrte den G-man nur an.
Burke ergriff wieder das Wort und sagte: „Keith Rodgers drohte Ihnen. Sie hatten keine Ahnung, wie ernst diese Drohung zu nehmen war. Da Sie kein Risiko eingehen wollten, beschlossen Sie – ich spreche von Ihnen, von Lansford und von Jenkins -, Rodgers zuvorzukommen und heuerten den Killer an. Einer von Ihnen bekam wohl ein schlechtes Gewissen und rief im Hotel an, um Rodgers zu warnen.“
„Woher sollten wir denn wissen, dass er sich in dem Hotel aufhält?“, gab Graham mit unsicherer Stimme zu bedenken.
„Das sagte Ihnen Ihr Killer, nachdem er bei Mrs. Rodgers war, ihr den Aufenthaltsort ihres Mannes abnötigte und sie zum Dank dafür ermordete.“
Graham atmete tief durch, dann durchfuhr ihn ein Ruck, und er stieß hervor: „Das saugen Sie sich doch alles nur aus den Fingern, G-man! Sie kommen mir mit Spekulationen, Vermutungen, hirnrissigen Verdächtigungen und Unterstellungen. Ich bin nicht gewillt, mir diesen Schwachsinn länger anzuhören.“
Burke erhob sich. Ron Harris folgte seinem Beispiel. Burke sagte: „Sie spielen eine tragende Rolle in dieser Inszenierung, Graham. Ihren Anfang nahm die Geschichte vor sechs Jahren, als eine tote Frau in Gary Rodgers Zelt gefunden wurde. Wie sie enden wird, wissen wir noch nicht. Aber wir werden es sehen.“