Kapitel 39

S ophia war es gewohnt, dass es in der Großen Bibliothek ruhig war, als sie diese durch das Portal in der Burg betrat. Deshalb war sie überrascht, als sie die Stimmen von zwei Männern hörte. Einen erkannte sie als Paul, den Großen Bibliothekar. Die andere Stimme war die eines Fremden, eines Mannes mit einem starken britischen Akzent.

»Wie kommst du hierher?« Paul kratzte sich am Kopf, als Sophia um die Ecke kam und die beiden Männer entdeckte.

Der Bibliothekar trug hellblaue Gewänder und einen verwirrten Gesichtsausdruck und seine Hände waren in Gebetshaltung zusammengepresst. Vor ihm stand ein großer Mann mit leuchtend rotem Haar, der einen eleganten Anzug trug.

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage relevant ist«, antwortete der Mann.

Sophia kam mit erhobener Hand heran. »Ist alles in Ordnung?« Sie blieb neben Paul stehen und beobachtete sein Verhalten. Er wirkte nicht ängstlich, als wäre er in Gefahr, aber definitiv verwirrt.

»Schon wieder eine lächerliche Frage«, brummte der Mann und sah Sophia von oben herab an. »Wie soll jemand eine so allgemeine Frage beantworten? Meinst du mit alles die Welt oder den aktuellen Stand der Dinge? Oder die Situation, in der du dich gerade befindest? Und in Ordnung ist ein sehr allgemeiner Begriff. Meinst du gut, angemessen oder zufriedenstellend? Ich kann nicht der einzige Mensch auf der Welt sein, der sich nach einer konkreten Kommunikation sehnt. Ich bin lange genug dabei, um zu wissen, dass ich vielleicht der einzige Mensch bin, der sein Gehirn benutzt.«

Sophia war sprachlos von der dreisten Art dieses Fremden. »Hmmm …«

»Sophia, das ist Ren Lewis.« Paul deutete mit der Hand auf den Mann. »Er ist eine Art Freund.«

»Ich bin kein Freund«, entgegnete Ren. »Ich bin ein Mann, der nach einem Buch sucht und Paul aus verschiedenen Geschäftsbeziehungen in einem früheren Leben kennt.«

Paul blinzelte ihn an. »Was das angeht. Du solltest doch tot sein.«

Ren nickte. »Das bin ich.«

»Aber du bist doch hier«, merkte Paul an.

»Genaue Beobachtung.« Ren seufzte, als könnte das Gespräch seinen ohnehin kurzen Geduldsfaden zerreißen.

Paul kratzte sich an der Seite seines Kopfes. »Nun, ich kann einfach nicht verstehen, wie.«

»Technisch gesehen bin ich nicht tot, da ich den Tod betrogen habe …«

»Warte – was?«, fragte Sophia.

Ren verdrehte die Augen. »Das ist eine sehr lange und hauptsächlich langweilige Geschichte.«

»Das würde ich gerne selbst beurteilen«, meinte Sophia.

»Wie auch immer«, fuhr Ren fort, nachdem er verärgert den Kopf geschüttelt hatte. »Um die ganze Sache mit dem Tod zu umgehen, bin ich einfach in ein Paralleluniversum gewechselt. Ich bin weder lebendig noch tot. Genau genommen bin ich nicht einmal hier. Ich bin hauptsächlich eine Projektion. Die Große Bibliothek bietet mir jedoch die Möglichkeit, diese Welt zu besuchen, denn sie existiert in allen Welten, da sie, wie ich, nicht an die Regeln von Raum und Zeit gebunden ist. Als sie kürzlich umgesiedelt ist, bin ich über den neuen Standort gestolpert. Jetzt bin ich hier, um mir ein Buch zu holen und mache mich dann wieder auf den Weg.«

»Ich wünschte, du würdest bleiben«, ermutigte Paul. »Ich habe so viele Fragen.«

»Keine davon werde ich beantworten«, stellte Ren klar. »Deine Neugierde ist mir egal.«

»Bist du Magier?«, erkundigte sich Sophia.

»In gewisser Weise«, blaffte Ren kurz angebunden.

»Er ist ein Traumreisender«, antwortete Paul.

»Ach, die Leute, die das Institut auf dem Grund des Pazifiks hatten?«, wollte Sophia wissen.

»Hatten?« Ren schüttelte den Kopf. »Natürlich ging alles den Bach runter, weil ich nicht da war, um den Tag zu retten.«

»Nein, sie sind einfach weitergezogen«, erklärte Paul.

Sophia war verwirrt, aber bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, betrachtete Ren sie mit einem berechnenden Blick, der sie zu durchschauen schien. »Wer bist du?«

»Ich bin Sophia Beaufont, Magierin und Drachenreiterin.«

Er nickte, als würde das alles einen Sinn ergeben. »Das habe ich mir schon gedacht.«

»Woher solltest du das wissen?«, fragte Paul.

»Nun, sie verströmt eine seltsame Art von Magie, die sich wie die eines Magiers anfühlt, aber einzigartig ist«, erklärte Ren. »Das Schwert ist aus Elfenhand, was mich vermuten lässt, dass sie aus einer alten Familie wie den Beaufonts stammen muss. Sie riecht nach Drache, ein Geruch, den man nicht so schnell vergisst.«

»Warst du schon mal mit Drachen zusammen? Wo?«, wollte Sophia wissen.

»In meinem Paralleluniversum«, antwortete Ren. »Ich muss mich wirklich an meine Regel halten, dass ich keine Fragen beantworten werde. Ihr müsst eure Fantasie benutzen, um eure Neugierde zu befriedigen. Denkt euch etwas aus. Das ist eine viel bessere Nutzung eurer Gehirnzellen als die widerwärtigen Dinge, für die ihr sie normalerweise verwendet, da bin ich mir sicher.«

»Moment, es gibt Drachen in deinem Paralleluniversum?«, fragte Sophia. »Wie viele? Gibt es die Drachenelite? Oder andere Gesellschaften?«

Ren hielt seinen Finger an die Lippe, um ›Pst‹ zu sagen. »Fantasie, schon vergessen? Jetzt muss ich wirklich gehen und das Buch holen, das ich suche.« Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Paul. »Zeig mir, wo ich die unveröffentlichte Version des Tractatus Logico-Philosophicus von Ludwig Wittgenstein finden kann. Nicht die veröffentlichte Version, wohlgemerkt. Ich brauche die Version mit dem gelöschten Material. Oh und auch die unübersetzte Version. Nur diese Ausgabe zählt.«

Paul dachte einen Moment lang nach und tippte mit den Fingern auf seine Lippen. »Ich glaube, du findest es in Reihe 126, Abschnitt BB16, zweites Regal, das Zehnte von unten.«

»Sehr gut.« Ren nickte Paul zu, dann Sophia. »Bis wir uns wiedersehen, wenn dir eine solche Ehre zuteilwerden sollte.«

Bevor Sophia etwas erwidern konnte, ging der Mann zügigen Schrittes davon, wobei jede seiner Bewegungen Selbstvertrauen ausstrahlte.