Kapitel 41

D ie Sonne war kaum aufgegangen, als Sophia durch das Portal zu dem Ort trat, den das Seelensteinbuch für die Höhle aufführte, welche die Erde mit Virgo in Oriceran verband.

Der kalte Luftzug raubte Sophia den Atem. Es fühlte sich an, als würde sie Eis einatmen. Sie war an Kälte gewöhnt, weil die Gullington in Schottland lag, aber dies war eine andere Kälte. Es war eine Kälte, die sofort tief in ihre Knochen fuhr und sie glauben ließ, dass ihr nie wieder warm werden würde.

Das kam ihr ein bisschen melodramatisch vor, also schüttelte sie die plötzliche Kälte ab und nahm die Landschaft in Augenschein. Diese Region Russlands war ebenso schön wie eisig. In der Ferne ragten schneebedeckte Berge in den Himmel. Gras und größere Steinbrocken bedeckten die flacheren Hügel. Die oberen Gipfel ragten so hoch auf, dass Sophia hoffte, dass die Höhle, die sie suchte, nicht ganz oben lag.

Vor ihr lag eine weite, bewaldete Ebene. Laut dem Buch musste Sophia nach Norden gehen und eine Brücke suchen. Sobald sie dort war, wäre der Weg zur Virgohöhle, wie sie genannt wurde, frei. Das hörte sich nach einer Lektion in Sachen Glauben an. Sophia wusste nicht, warum die Wegbeschreibung nicht einfach eine Aneinanderreihung von Koordinaten sein konnte – stattdessen wurde wieder eine Art Schnitzeljagd veranstaltet.

Sie schüttelte alle Bedenken über das vor ihr liegende Abenteuer ab und machte sich auf den Weg zu den Bergen, wobei sie der Anzeige des Kompasses auf ihrem Handy folgte. Der eisige Wind fegte über die Ebene, heulte ihr in den Ohren und sie freute sich auf den Schutz, den der Wald vor ihr bieten sollte.

Sophia brauchte länger als erwartet, um das offene Land zu durchqueren, wahrscheinlich weil es weiter war, als sie angenommen hatte und es sich über viele Kilometer erstreckte. Die Kälte machte die Wanderung nicht besser, denn ihre Füße waren halb erfroren. Die Kälte an den Beinen hatte etwas, das der Rest des Körpers noch mehr zu spüren bekam. Deshalb war sie dankbar, dass sie daran gedacht hatte, eine dieser traditionellen russischen Mützen zu tragen, die man Uschanka oder Trappermütze nannte. Die pelzgefütterten seitlichen Klappen bedeckten ihre Ohren.

Sie und Lunis hatten beschlossen, dass er zu Hause bleiben sollte, um sich von den Abenteuern im Südpazifik zu erholen und sich für das nächste zu stärken. Sobald Sophia mehr Seelensteine hatte, konnte die Drachenelite aufbrechen, um die Heimat der Elfen zurückzuerobern und das bedeutete zweifellos einen Kampf mit den Halunkenreitern. Wäre Lunis jedoch hier, wäre die Überquerung des Flachlandes ein Kinderspiel.

Ich kann hören, dass du mich vermisst . Er spionierte offensichtlich ihre Gedanken aus.

Sophia lachte. Ich glaube, ich wollte damit andeuten, dass du ein hervorragendes Transportmittel bist, nicht dass du in meinen Gedanken herumgeistern sollst .

Weißt du, wie man die Wirkung von Sekundenkleber rückgängig machen kann? , fragte Lunis.

Was hast du getan?

Das kann ich nicht sagen, aber es hat nichts mit meinem Halloween-Kostüm zu tun , erklärte Lunis.

Ich dachte, du wolltest dich weiß anmalen und als Simi gehen .

Das war ein Scherz , antwortete Lunis. So etwas Langweiliges würde ich nie tun. Nein, ich wollte Glitzer und etwas Fabelhaftes. Ich muss den Kostümwettbewerb gewinnen .

Welchen Kostümwettbewerb?

Den, den du bei der Party startest , erklärte er.

Welche Party? Sophia beeilte sich, als sie sich der Baumgrenze näherte.

Die, die du schmeißt, damit ich mein Kostüm tragen und den großen Preis gewinnen kann , antwortete Lunis.

Ich bin ziemlich beschäftigt und habe keine Zeit, eine Halloween-Party zu organisieren .

Er seufzte. So eine große Sache muss das nicht werden. Ein paar Luftschlangen, ein paar Spiele, eine große Auswahl an Essen, ein DJ und Partygeschenke .

Sicher, das hört sich nicht nach einem großen Umstand an . Sophia kicherte leise.

Oh und Trockeneis , fügte Lunis aufgeregt hinzu. Davon brauchst du reichlich für das Spukhaus .

Wie bitte? , entgegnete sie. Ich baue kein Spukhaus .

Er brummte. Dann liebst du mich wohl nicht wirklich .

Kann ich dir nur auf diese Weise meine Liebe zeigen?

Ja, mit dem Versuch, mich mit Mumien, die aus Schränken springen und halb aufgefressenen Feen, die über blutverschmierte Böden krabbeln , zu erschrecken , meinte Lunis. Das ist doch nicht zu viel verlangt .

Ich werde sehen, was ich tun kann, aber es hat keine hohe Priorität. Du kannst dich daran erinnern, dass ich mich bemühe, die Junggesellenbude für dich zu bekommen , erwiderte Sophia.

Trin macht die ganze Arbeit , merkte er an. Du sammelst nur die wichtigsten Teile .

Ja, aber dafür muss ich ein Date für sie und Evan arrangieren , stellte Sophia klar.

Wo könnten sich die beiden besser verlieben als in einem Spukhaus auf einer Halloween-Party , überlegte Lunis. Vor allem, wenn du einen Haufen kopfloser Diener hast, die das thematisch passende Essen servieren .

Moment, jetzt auch noch ein Themenessen?

Natürlich , betonte Lunis. Geisterhafte Spinneneier, Mumienhunde, Hexenfinger, Augapfel-Tacos, Piratennudeln – oh und alles muss Kürbis enthalten. Kürbisgewürzte Milchkaffees, Kürbisbrot in einem Mumienlaib, Kürbissuppe in einer Blumenkohlhirnschale. Du verstehst schon .

Leider glaube ich, dass ich das tue , meinte Sophia trocken, als sie in den Wald trat. Sofort wurde sie in Dunkelheit gehüllt und bekam ein ungutes Gefühl. Das gruselige Halloween-Gespräch trug wenig dazu bei, ihre Nerven zu beruhigen, weil sich dichter Nebel über den Waldboden wälzte.

Sophia hielt inne und dachte, dass der Wald auf einmal zu ruhig war.

Apropos Jagd . Lunis beobachtete, was sie sah.

Genau meine Gedanken . Sophia war froh, dass sie sich das nicht nur einbildete. Sie machte einen Schritt und unter ihrem Stiefel knackte ein Zweig. Daraufhin preschte eine komplette Fledermauskolonie aus den Bäumen und verursachte plötzlich einen Höllenlärm, weil sie kreischten und mit den Flügeln schlugen.

Oh, gruselig … , kommentierte Lunis, mit einem Hauch von Schärfe in seiner Stimme.

Sophia hatte schon viel gesehen und war in viele gefährliche und beängstigende Situationen geraten. Doch mitten im Nirgendwo in Russland spürte sie plötzlich, wie ihr vor Angst das Blut in den Adern gefror und das nicht nur wegen der niedrigen Temperaturen.

Sophia war froh, dass Lunis in ihrem Kopf war und sie sich weniger allein fühlte.

Nun, ich werde ein paar meiner Gänsehaut-Bücher lesen , gab Lunis bei diesem Gedanken von sich.

Das solltest du besser nicht tun , warnte sie.

Oh, du sagst also, dass du mich brauchst?

Ich sage, verlass mich nicht , forderte sie.

Gut , willigte er ein. Willst du, dass ich dir ein Buch vorlese?

Ich würde weniger gruselige Sachen bevorzugen . Sophia ging weiter durch den Wald. Die Bäume hielten den Wind ab, aber die Luft war von einer feuchten Kälte, die Sophia das Gefühl gab, dass ihre Kleidung durchnässte.

Mal sehen, was ich so herumliegen habe , überlegte Lunis. Wie wäre es mit Friedhof der Kuscheltiere, Der Exorzist, Spuk in Hill House, Drakula …

Du bist keine Hilfe , hauchte Sophia und bemerkte, wie das schwache Licht, das durch die Bäume über ihr fiel, bizarre Schatten auf den Waldboden warf. Wie wäre es, wenn du mir etwas Beruhigendes vorliest?

Oh, ich könnte Bells Tagebuch vorlesen , bot Lunis an. Das ist die langweiligste Sache der Welt .

Bell führt ein Tagebuch?

Es ist eher ein Protokoll der Ereignisse und da sie nichts anderes tut, als auf ihrem …

Warte, ich glaube, ich sehe etwas , unterbrach Sophia, als sie ein Licht vor sich im dunklen Wald bemerkte. Außerdem hörte sie das Geräusch von rauschendem Wasser. Die Brücke musste dort oben sein. Sie beeilte sich, durch die Bäume zu kommen und bewegte sich schneller.

Sie schob sich durch ein Gewirr aus Ranken und dichtem Gestrüpp. Das Plätschern wurde lauter und das Knistern von Feuer begleitete es jetzt. Das Licht war hell und direkt vor ihr.

Sophia stolperte fast über eine dicke Ranke, als sie durch einen Schleier aus Dornen vorwärts schoss, der ihre Hände und ihr Gesicht zerkratzte. Nach dem Dickicht kam sie aber schnell zum Stehen, denn sie hatte nicht mit dem Anblick gerechnet, der sie am Beginn der Brücke erwartete.