Kapitel 44

S ophia war nicht so nüchtern, wie sie dachte, als sie einmal stand. Das Gehen war schwieriger, als es hätte sein sollen.

Das Chi des Drachen hilft , erklärte Lunis in ihrem Kopf.

Schön . Das Chi des Drachen macht mich also stärker, gesünder, widerstandsfähiger und hat eine höhere Toleranz .

Gern geschehen , flötete er.

Der kalte Wind, der über die Brücke wehte, war ein willkommenes Gefühl auf ihrer heißen Haut. Sie überlegte, ob sie die Schichten ausziehen sollte, denn sie war kurz davor zu schwitzen.

Als sie fast am Ende der Brücke angekommen war, musste sie kichern, allerdings über nichts Bestimmtes. Sophia wurde klar, dass sie wahrscheinlich wie eine Verrückte aussah, als sie über eine Brücke mitten im Nirgendwo taumelte, vor sich hin kicherte und sich bei den eisigen Temperaturen ausziehen musste. Sie war einfach nur dankbar, dass niemand da war, der ihren Unsinn mit ansehen musste.

Als sie gerade einen Fuß auf den Boden am anderen Ende setzen wollte, wurde abrupt eine Hand vor ihr Gesicht gehalten. Wenn Sophia nüchtern gewesen wäre, hätte sie es vielleicht kommen sehen, aber in diesem Moment sah sie nicht einmal einen Truck kommen. Sie hoffte, dass es sich bei dem, was jetzt kam, nicht um ein Duell handelte, denn diese Runde würde sie mit Sicherheit verlieren – und ihr Leben.

Sie ging ein paar Schritte rückwärts, blinzelte die Gestalt vor ihr an und wartete darauf, dass sich ihre Sicht wieder normalisierte. Im Moment war der Mann … oder das, was sie für einen Mann hielt, verschwommen. Sophia öffnete ihren ausgetrockneten Mund. Ihre Zunge klebte am Gaumen und sie schüttelte den Kopf.

Endlich schwamm die Gestalt ins Blickfeld. Es war ein Mann. Er war groß und breit und Falten zeichneten sein ernstes Gesicht. Seine blauen Augen warfen ihr einen prüfenden Blick zu.

»Um von der Brücke zu kommen, musst du mir einen Witz erzählen, der mich zum Lachen bringt«, forderte er mit starkem Akzent.

Sophia wollte sich am liebsten hinlegen, blieb aber stehen. »Bist du real?«

Er nickte. »Mein Name ist Boris und ich bin die letzte Herausforderung, der du dich stellen musst, um zur Virgohöhle zu gelangen.«

Sophia holte tief Luft. »Also, damit ich das richtig verstehe.« Sie wedelte mit einem Finger in der Luft. »Ich musste einen Gnom unter den Tisch trinken, um auf die Brücke zu gelangen und jetzt muss ich dich zum Lachen bringen, um wieder von der Brücke zu kommen?«

Er nickte und steckte die Hände in die Taschen. »Das ist richtig. Ich bin kein einfaches Publikum.«

»Ich wusste nicht, dass Riesen überhaupt lachen können«, plauderte sie drauflos und erntete nicht die erwartete Reaktion. »Tut mir leid, der Wodka ist mir irgendwie zu Kopf gestiegen.«

»Mit Absicht«, kommentierte Boris.

Ich! Ich! Ich! , rief Lunis in ihrem Kopf. Das ist so was von mein Ding. Wiederhole alles, was ich sage.

Sophia schüttelte als Antwort für ihren Drachen den Kopf, was Boris zu einem Stirnrunzeln veranlasste. »Diese Geste war für den Drachen, der in meinem Kopf spricht«, erklärte sie und zeigte auf sich selbst, wobei ihre Worte undeutlich klangen.

»Du wirst wahrscheinlich den Weg zurückgehen müssen, den du gekommen bist, weil du diese Brücke nicht überqueren wirst«, erwiderte er nicht gerade amüsiert.

»Ach, ja?«, forderte Sophia ihn heraus. »Ich besitze ein Schwert.«

Sie wollte danach greifen, aber ihre Hand glitt direkt daran vorbei und sie fiel fast vorne über. Die junge Drachenreiterin war nicht in der Lage, gegen jemanden zu kämpfen. Weder gegen einen wehrlosen Mönch noch gegen einen knallharten Riesen.

»Also, ein Witz …« Sie dachte angestrengt nach.

Ich! , bettelte Lunis. Diese Herausforderung ist wie für mich gemacht.

Sophia schüttelte wieder den Kopf. »Aber es muss doch lustig sein«, stieß sie laut aus. Boris runzelte die Stirn.

»Was soll daran lustig sein?«, fragte er.

Sie zeigte auf ihren Kopf. »Noch mal, ich spreche mit meinem Drachen.«

Er nickte. »Klar, wie auch immer du deine Art von Irrsinn nennen willst.«

»Lunis«, stellte sie klar. »So heißt er.«

Okay, ich habe die besten Witze. Erzähl ihm diesen . Lunis flüsterte eine Art Witz in ihrem Kopf.

Sophia taumelte und sicherte ihr Gleichgewicht am Brückengeländer. »Okay, hast du den Bericht über den selbstmordgefährdeten Brandstifter gelesen?«

Boris schüttelte den Kopf, mit totalem Ernst in seinen Augen.

»Er hat sich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.« Sie lachte über den Scherz.

Boris hingegen tat es nicht. Er blinzelte sie nur an.

Sophia gewann ihre Fassung wieder und holte tief Luft. »Okay, ich fange gerade erst an. Mein Drache hat eine Menge davon.«

Boris betrachtete sie mit gelangweiltem Gesichtsausdruck, überhaupt nicht amüsiert.

»Weißt du«, begann Sophia, »der Polizist stoppt einen Autofahrer, weil er Schlangenlinien gefahren ist.«

»Warum ist das so?«, fragte Boris ganz ernsthaft.

»Lass mich raten, du weißt nicht, was ein Alkoholtest ist?«

Der Riese schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, was lustig bedeutet, oder?«

Sie nickte und fühlte sich durch den Wodka schwindelig.

Boris zeigte auf die andere Seite der Brücke. »Ist noch etwas von dem Wodka übrig? Ich könnte ihn gebrauchen.«

Sophia warf einen Blick über ihre Schulter. »Das glaube ich nicht. Willst du nachsehen und ich passe in der Zwischenzeit hier auf?«

Er schüttelte den Kopf. »Du bringst mich zum Lachen oder du kommst nicht rüber. Das ist die Regel.«

»Wie viele haben diese Barriere überschritten?«, wollte Sophia wissen.

»In meinem Leben keiner«, antwortete er.

»Fantastisch«, brummte sie und gähnte herzhaft. »Ich liebe meinen Job.«

Wenn keiner die Barriere überquert hatte , fragte sich Sophia, woher hatten dann die Halunkenreiter ihre Seelensteine für ihre Barriere ?

Es gibt immer mehr als einen Weg auf einen Berg , meinte Lunis.

In diesem Fall wörtlich und im übertragenen Sinne , erklärte Sophia mit einem trockenen Lachen.

Ha ha , entgegnete der blaue Drache ohne jeden Tonfall.

Vielleicht sollte ich umkehren und den Weg finden, den sie benutzt haben , überlegte Sophia. Ich glaube, ich würde lieber gegen ein riesiges und gefährliches Monster kämpfen, als einen Riesen zum Lachen zu bringen.

Ich glaube, du bist schon so weit gekommen und hast den Gnom unter den Tisch getrunken , stellte Lunis klar. Gib mir nur eine Minute und ich finde den richtigen Witz, damit sich der Typ vor Lachen kugelt .

Sophia hielt inne und wartete darauf, den nächsten Witz von Lunis zu erfahren.

Müssen das alles Solche sein? , fragte sie ihn.

Ja , bestätigte er. Riesen sind stolze Leute und wenn überhaupt, wollen sie über so etwas lachen.

Sophia nickte, räusperte sich und bereitete sich darauf vor, Boris den Witz zu erzählen. »Okay, ein Riese und ein Gnom sitzen an der Bar und trinken Bier.«

Boris schüttelte nur den Kopf.

»Weißt du, was dann passiert?«, versuchte Sophia es weiter.

Boris verschränkte die Arme vor der Brust, sein Gesicht war steinern.

Ich brauche bessere Witze , drängte Sophia Lunis.

Der ist Gold wert , beschwerte er sich. Probier mal den hier .

Sophia schüttelte den Kopf, nachdem sie zugehört hatte. Der ist ja furchtbar .

Tu es , ermutigte er.

Sie lehnte kopfschüttelnd ab.

Boris senkte sein Kinn und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu.

Vielleicht brauche ich die Seelensteine gar nicht , meinte sie zu Lunis.

Du brauchst sie . Wir gehen traditionell vor .

Was soll das bedeuten?

Sprich mir nach und tu alles, was ich verlange .

»Klopf, klopf.« Sophia machte einen Schritt nach vorne, sodass sie nahe bei Boris stand. Er beugte sich interessiert zu ihr hinunter.

»Wer ist da?« Er wusste offenbar, wie dieser Witz ging.

»Deine Schwiegermutter«, antwortete Sophia.

»Ich habe keine …«

Sophia verpasste Boris eine schallende Ohrfeige und brüllte ihn an: »Antworte nur, wenn du gefragt wirst!«

Boris’ Gesicht verfinsterte sich. Er riss seine Augen weit auf. Sophia dachte, er würde sie auf der Stelle umbringen und wegen des Alkohols könnte er das vielleicht auch. Es war der Wodka, der sie so mutig gemacht hatte, einen Fremden zu ohrfeigen, nur um einen Scherz zu machen. Doch zu ihrem großen Erstaunen veränderte sich sein Gesicht, er öffnete den Mund und lachte laut.

»Ein guter alter Schwiegermutter-Witz«, stieß er mit einem dröhnenden Lachen aus, das noch meilenweit zu hören war. »Die kommen bei mir immer an. Gepaart mit dem klassischen Klopf, Klopf. Du bist sehr clever.« Immer noch lachend, trat Boris zur Seite und gab den Weg frei. »Du kannst passieren. Die Virgohöhle ist geradeaus.«

Sophia schwankte an Boris vorbei, bevor er seine Meinung ändern konnte. Sie dachte, dass sie in ihrer ganzen Zeit bei der Drachenelite noch nie einen so eigenartigen Auftrag hatte.