D ie Halunkenreiter hatten wenig getan, um die Insel zu erhalten. Es sah so aus, als hätten sie die einst tropische und üppige Insel größtenteils zerstört. An einigen Stellen war der Dschungel gerodet und in diesen Gebieten stieg Rauch auf. Gebäude waren abgerissen und die Materialien lagen auf einem Schutthaufen.
Sophia erblickte die vielen Gruben, die denen ähnelten, in denen Wilder gefangen gehalten worden war. In ihnen hielten sich wütende Drachen auf, die an den Netzen zerrten, die sie einsperrten. Sie bemerkte auch die vielen Türme auf der Insel, wo sich die Bauherren der Gruben befanden. Sie dienten scheinbar auch als Wachtürme, denn drei von ihnen waren mit Drachenreitern besetzt, die sie entdeckten und den anderen am Boden etwas zuriefen.
Die Halunkenreiter wussten, dass sie kamen. Ein Kampf stand nun unmittelbar bevor.
Im hinteren Teil der Insel schienen die meisten Gebäude noch intakt, obwohl es so aussah, als hätten ungestüme Drachen an den Dächern genagt oder sie gesprengt. Was Sophia sah, war das Ergebnis einer Gesellschaft von unreifen Drachenreitern, die man nicht unter Kontrolle hatte. Als würden Eltern ein Kind unbeaufsichtigt in einem Haus zurücklassen, das dann Unordnung machte und die Wände bemalte. Es gab keinen Anlass für das schlechte Verhalten. Sie mussten einfach zerstören, wenn sie zum ersten Mal die Freiheit erleben.
Die ganze Sache erinnerte Sophia stark an Herr der Fliegen . Wer auch immer der Anführer der Halunkenreiter war, er regierte mit Emotionen und Individualität. Das war etwas völlig anderes als Hikers Ansatz, der auf rationale Strategien setzte.
Die Halunkenreiter waren aber nicht nutzlos in ihren Taten. Vielleicht bauten sie keine ansehnlichen Häuser oder hatten gepflasterte Straßen auf der Insel, die die Elfen versucht hatten, so unberührt wie möglich zu lassen, indem sie zwischen den Bäumen lebten, anstatt sie zu fällen.
Die Halunkenreiter wussten nicht nur, wie man die Gruben für die Bestrafung der Drachen anlegte und die Türme um die Insel herum errichtete, sondern hatten auch Waffen gebaut oder auf ihre Art ›erworben‹. Ein großes Katapult stand im hinteren Teil der Insel und war direkt auf die Stelle gerichtet, an der die Drachenelite das Gelände betrat. Sophia musste es dem Anführer lassen. Er hatte genau erraten, woher eine Invasion kommen würde.
Neben dem Katapult stand eine große Kanone, die die Halunkenreiter zweifellos gestohlen hatten, sowie ein Panzer. Das waren nicht die Waffen von Engelsdrachenreitern. Sie benutzten ihre Schwerter und ihre Hände, aber noch wichtiger waren ihr Verstand und ihre Worte. Waffen waren für Feiglinge, wie Hiker schon oft gesagt hatte.
›Wenn du einen Menschen töten willst, musst du wissen, was du tust – du musst die ganze Tragweite spüren‹, sagte Hiker einmal zu Sophia. ›Wenn du einfach den Abzug drückst, musst du dich mit dem Tod nicht auseinandersetzen. Aber wenn du einem Mann ein Schwert in die Brust bohrst, dann weißt du, dass du etwas tust, das nicht mehr rückgängig zu machen ist. Du nimmst den Tod in Kauf und hoffentlich hast du dafür einen guten Grund und keine anderen Möglichkeiten.‹
Sophia beobachtete das Chaos, als sich die Nachricht verbreitete, dass die Drachenelite durch die Barriere auf die Insel gelangt war. Die dämonischen Drachen erhoben sich in die Luft, bevor sie wieder zu Boden stürzten, weil sie mit Ketten an den Boden gefesselt waren. Bei diesem Anblick knurrte Sophia vor Abscheu. Drachen waren keine Haustiere, die man an der Leine halten konnte. Sie waren die andere Hälfte eines Reiters. Sie waren gleichberechtigt.
Sophia schwebte auf Lunis neben Hiker und Ainsley. Die anderen Drachenreiter taten das Gleiche und sahen sich die Umgebung an, wobei sie zweifellos den gleichen Ekel empfanden wie Sophia.
Die Missbilligung stand Hiker deutlich ins Gesicht geschrieben. »Es ist schlimmer, als ich dachte. Ich habe schon viel von dämonischen Drachenreitern gesehen, aber das ist abscheulich.«
Sophia stimmte mit einem ernsten Nicken zu. »Der Anführer der Halunkenreiter war schlau genug, eine Gruppe zu gründen, die die kriminelle Welt regiert und gleichzeitig das Chaos fördert und zulässt.«
»Das erinnert mich an Thad.« Hikers Worte klangen erregt. »Völlig respektlos gegenüber Autorität, Ritterlichkeit oder Ordnung, aber selbst er wusste, dass er seinen Drachen nicht anketten oder misshandeln durfte. Das ist, als würde man sich selbst quälen.«
»Diese Generation kommt aus der modernen Welt«, bemerkte Sophia. »Sie hat eine andere Art von Dämonendrachenreitern hervorgebracht.«
Hiker schüttelte den Kopf. »Sie kennen nur sofortige Befriedigung und glauben, dass die Welt so einfach ist wie ein Neustart des Videospiels.«
Sophia war beeindruckt. Derselbe Mann, der vor einem Jahr noch nie Elektrizität benutzt hatte, stellte einen Bezug zu einem modernen Videospiel her. Das neue Wissen und der veränderte Lebensstil hatten jedoch nichts an der Art und Weise geändert, wie Hiker Wallace sich verhielt. Er glaubte immer noch an die alten Methoden – und die waren nicht nur schlecht. Es gab eine Zeit und einen Ort für sie. Wenn man sie mit Sophias modernem Denken kombinierte, funktionierten sie oft gut.
Ein Schiff materialisierte sich auf dem Meer und fuhr durch die Barriere. Sophia erkannte es als das Boot von König Rudolf Sweetwater, aber der Fae war nicht an Bord. Er hatte im Moment alle Hände voll zu tun, aber er war so nett gewesen, Liv und Stefan das Schiff zu leihen, damit sie eine Möglichkeit hatten, die Barriere zu passieren. Jetzt waren sie hier und bereit, der Drachenelite zu helfen.
Sophia nickte Hiker zu. Er hatte die Ankunft der Krieger für das Haus der Vierzehn wahrgenommen. Er erwiderte die Geste und wortlos lenkten sie ihre Drachen zum Ufer, wo sie den nächsten Teil des Plans in Angriff nehmen wollten.