Tori
»Die Prinzessin kehrt zurück«,
rief Stefan und grinste mich mutwillig an, als ich mich ihm näherte.
Mit hocherhobenem Kopf war ich in den Ballsaal zurückmarschiert, entschlossen, mich dem Heiratsantrag offenen Herzens zu stellen. Und nun stand ich also möglicherweise vor meinem Verlobten und versuchte, sein jetziges Flirten mit der formalen, konventionellen Haltung in Einklang zu bringen, die er an den Tag gelegt hatte, als meine Eltern neben mir gestanden hatten.
Jetzt gefiel er mir besser.
»Ich dachte schon, du wärst durchgebrannt, mit einem Stallburschen oder so«, neckte er mich. »Nicht dass ich dir einen Vorwurf gemacht hätte. Du hast zutiefst geschockt gewirkt. Und ich muss zugeben, die Situation ist …«
»Ich glaube, auf Lateinisch hieße es insanus maximus
, aufs Höchste ungesund«, platzte es aus mir heraus, was ich sofort bedauerte.
Doch Stefan legte nur den Kopf schräg und lachte in derselben vollkehligen, ansteckenden Weise, wie ich es zuvor bereits gesehen hatte. Diesmal fiel ich in sein Lachen ein und als wir uns danach anlächelten, sprang unleugbar ein heißer Funke zwischen uns über. Das war gut. Chemie. Anziehung. Und außerdem hatte er Spaß an meinem lateinischen Witz. Was auch immer vor uns liegen mochte, zumindest das würden wir gemeinsam haben.
»Du bist … nicht so, wie ich es erwartet hatte«, sagte er. »Eine angenehme Überraschung.«
»Und ich hatte etwas in der Art überhaupt nicht erwartet«, gab ich zur Antwort.
Am Ende konnte ich mich glücklich schätzen. Mein Vater hätte auch versuchen können, mich mit jemandem wie dem Kongressabgeordneten Ellis zu verheiraten – wohlhabend, einflussreich, aber mehr als doppelt so alt wie ich. Stattdessen hatte er mir einen jungen, gut aussehenden Mann ausgesucht, mit unverschämt grünen Augen und einem Lachen, das ich bereits liebte.
Trotzdem fühlte es sich nicht real an.
»Ich denke, wir haben das Pferd von der falschen Seite aufgezäumt«, sagte Stefan, als das Orchester einen Walzer anstimmte. »Um noch einmal ganz von vorn zu beginnen, dürfte ich dich um diesen Tanz bitten?«
»Du hast über meinen kauzigen Humor gelacht, daher denke ich, du hast dir einen Tanz verdient«, erwiderte ich lächelnd und nahm seine Hand.
Er war ein guter Tänzer. Ein wunderbarer Tänzer. Als ich mich seinem Rhythmus anpasste und seine Handfläche heiß auf meiner brannte, schien eine Welle elektrischen Stroms zwischen uns hin und her zu zischen.
»Dein Kleid ist umwerfend«, bemerkte er, als wir über den Tanzboden wirbelten. »Du siehst wie eine Märchenprinzessin aus. Wie die Lieblingsprinzessin meiner Schwester Emzee in ihrer Kindheit, glaube ich. Die Mäuse zu Freunden hatte und einen Schuh verlor …«
»Aschenputtel«, murmelte ich, plötzlich wieder schüchtern. Seine Stimme war leise und beruhigend und sein Atem, den er warm in mein Ohr blies, verursachte mir eine Gänsehaut.
»Genau. Sie hatte eine Kutsche aus einem Kürbis. Vollkommen unpraktisch.«
Ich lachte und setzte einen Schritt aus. »Es war tatsächlich ein Kürbis.«
»Ah ja«, sagte er und brachte uns wieder in den Takt mit der Musik. »Kürbisse habe ich immer schon gern gemocht. Sie sind die guten Geister zu Halloween, der einzigen Nacht des Jahres, in der jeder eine Maske trägt.«
»Versteckst du dich oft hinter einer Maske?«, erkundigte ich mich. Ich versuchte, ihn zu necken, doch ich war auch neugierig auf seine Antwort.
»Das tun wir doch alle«, wich er aus. Ich konnte seine Miene nicht deuten und fragte mich, was er hinter seinem gut aussehenden Äußeren verbarg. Dunkelheit? Gefahr? Verlorenheit?
Mir wurde bewusst, dass ich ihn anstarrte, als seine Lippen sich zu einem Lächeln kurvten. »Du studierst mich wie ein Buch, Victoria Lindsey.«
»Entschuldige.« Ich senkte den Blick. Plötzlich brannten meine Wangen.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich wurde gewarnt, dass du eine Akademikerin bist. Ein wissbegieriger Geist ist nichts, wofür man sich schämen muss. Aber erinnere dich daran, was über neugierige Katzen gesagt wird.«
Jedes Wort aus seinem Mund klang erotisch. Ich heftete den Blick auf seine Füße und den Saum meines Kleides am Boden und holte mehrmals tief Luft, um mich zu beruhigen, bevor ich wieder das Wort ergriff.
»Bitte nenne mich Tori. Niemand sagt Victoria zu mir, außer ich stecke in Schwierigkeiten.«
»Vielleicht steckst du ja in Schwierigkeiten.«
Er lächelte und ich musste schon wieder den Blick abwenden. Seine Flirterei war wirklich etwas übertrieben, verfehlte jedoch nicht ihre Wirkung. Tat er das mit Absicht, um mich einzuwickeln? Und wenn es so wäre, machte es mir wirklich etwas aus?
Seien Hand lag fest auf meinem Rücken, als wir nahe am Orchester vorbeitanzten. Mit nur geringem Druck dirigierte er mich in jede beliebige Richtung. Mit ihm zu tanzen war wie ein Traum.
Diese ganze Geschichte war wie ein Traum.
Trotzdem ging es hier immer noch um eine Hochzeit
. Ich tanzte mit dem Mann, mit dem ich vielleicht den Rest meines Lebens zubringen würde, und er war theoretisch ein Fremder.
Nicht theoretisch, sondern buchstäblich. Ich wusste nichts über ihn.
»Wie alt bist du?«, erkundigte ich mich.
»Sechsundzwanzig«, erwiderte er bereitwillig und verzog leicht den Mund dabei.
Er fragte mich nicht nach meinem Alter. Es schien, als hätte er bereits genügend Informationen über mich bekommen. Ich hätte wetten können, dass er vorgewarnt worden war, dass ich dazu neigte, mit prekären, unerwarteten Tatsachen über die Herkunft gewisser Wörter und Sprachen herauszuplatzen. Doch auch wenn er vielleicht Tipps und Ratschläge erhalten hatte, wie man mit mir reden oder flirten musste, so schien doch eine Chemie zwischen uns zu herrschen, die man nicht vortäuschen konnte.
»Du hast eine Schwester erwähnt«, bohrte ich weiter. »Emzee?«
»Ja. Sie ist Fotografin. Mara Zoric. Sie arbeitet eng mit unserer Agentur zusammen.«
»Oh, natürlich! Ich habe schon Arbeiten von ihr gesehen. Nicht nur aus der Modebranche. Ich denke, es war im National Geographic, die Mosaikgräber in Marrakesch?«
Er wirkte überrascht. »Ja. Sie war so stolz auf diesen Auftrag.«
Ich lächelte. »Ihr seid alle so leistungsstark. Bist du der älteste von deinen Geschwistern?«
Stefan nickte und erzählte mir von seinem jüngeren Bruder Luka, der den Traum aller Fünfundzwanzigjährigen lebte, seine finanziellen Mittel anzapfte und den Models der Agentur ein wenig zu nahekam. Doch er versicherte mir, Luka wäre ein kluger Kerl, der einen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre und ein gutes Herz hätte. Er müsste lediglich noch erwachsen werden.
Als wir uns weiter in unsere Unterhaltung vertieften, beruhigten sich meine Nerven und Stück für Stück erinnerte ich mich an einiges Wissenswertes bezüglich Stefans Familie.
KZ Modeling tauchte oft genug in den Nachrichten auf, sodass ich mir einige Artikel ins Gedächtnis rufen konnte, die von der Firma, den Models und Stefans Familie handelten. Ihre Namen erschienen sowohl in den Schlagzeilen von BuzzFeed
als auch im Wall Street Journal
.
»Und was macht deine Mutter?«, fragte ich, doch im selben Moment erinnerte ich mich an das, was ich gelesen hatte. Und auch an meine Gefühle während des Lesens erinnerte ich mich. Als teilten wir ein Schicksal.
»Sie ist gestorben«, erklärte Stefan. »Als ich sechs Jahre alt war.«
»Das tut mir leid«, erwiderte ich. »Meine auch. Ich war zwei Jahre alt.«
»Sie war wunderschön«, schwärmte er. »Sie malte gern.«
Ich lächelte. »Mir sind lediglich Fotos geblieben. Ich wünschte, ich könnte mich an meine Mutter erinnern.«
Er sagte nichts. Das brauchte er auch nicht. Zumindest in dieser einen Sache verstanden wir einander.
»Mir ist aufgefallen, dass dein Familienname slawische Wurzeln hat«, sagte ich schließlich, um das Gespräch in seichtere Gewässer zu steuern. »Woher stammt deine Familie ursprünglich?«
»Aus Serbien. Doch ich bin hier geboren und aufgewachsen«, erklärte er. »Meine Großmutter stellte großartiges Gebäck her, doch das ist schon alles, was ich über meine Vorfahren weiß. Magst du Gebäck?«
»Ich liebe es«, gab ich zu. »Ich wollte immer schon auf den Balkan reisen. Hauptsächlich um die lebendigen Sprachen zu hören. Das kyrillische Alphabet ist so interessant.«
»Ich bin mir sicher, dass wir eine Reise dorthin arrangieren können«, meinte er. Er ließ seine Hand aufwärts gleiten, bis sie genau unterhalb der Schulterblätter auf meiner Wirbelsäule zur Ruhe kam. »Vielleicht in naher Zukunft.«
»Dafür wäre ich empfänglich«, erwiderte ich.
Er legte den Kopf schräg. »Empfänglich.« Er lächelte. »Nicht gerade ein Wort, das ich oft höre.«
»Ein großartiges Wort«, erklärte ich begeistert. »Ähnlich wie geneigt sein.«
Stefan wurde still. Ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen.
Mein Vater hatte recht. Männer hatten kein Interesse an klugen Frauen, besonders nicht an solchen, die sich über die Herkunft von Wörtern ausließen, während sie eigentlich Walzer tanzen und flirten sollten.
»Ach, jetzt ist es mir schon wieder passiert.« Ich spürte, dass meine Wangen brannten. »Aber keine Sorge. Ich halte nicht ständig Vorträge über Wörter und deren Bedeutung …«
Wie ich lügen konnte! Halt den Mund, Tori
, sagte ich mir insgeheim. Männer lieben geheimnisvolle Frauen. Sei geheimnisvoll.
»Ich weiß nichts über die Herkunft von Wörtern«, unterbrach Stefan mich, »aber ich kenne viele wunderbare moderne Wörter. Fügsam.« Elegant drehte er mich unter seinem Arm hindurch. »Biegsam.« Er zog mich zurück in seine Arme. »Erregend.«
Das letzte Wort hatte er mit heiserer Stimme geflüstert.
Oh.
Schon immer hatte ich die Meinung vertreten, dass Sprache ihre eigene Sinnlichkeit entwickeln kann. Doch niemals hätte ich mir vorstellen können, welche Macht Wörter haben konnten, wenn sie aus dem Mund eines Mannes wie Stefan kamen.
Erregend.
In seinen Armen fühlte ich mich erregt. Sehr erregt.
Seine Hand brannte auf meinem Rücken wie Feuer, dessen Hitze bis in meinen Unterleib ausstrahlte. Zum ersten Mal, seitdem mein Vater mir verkündet hatte, dass ich diesen Mann heiraten würde, erlaubte ich mir, mir vorzustellen, wie das wäre. Was würde es bedeuten, in jeder Hinsicht Mann und Frau zu sein?
Wieder schauderte ich.
Ohne Zweifel wäre ein Mann wie Stefan, der sich selbstbewusst und beherrscht auf dem Tanzboden bewegte, im Schlafzimmer ebenso befähigt. Der heiße, harte Knoten zwischen meinen Beinen verdichtete sich noch mehr. Ich konnte nicht anders, ich näherte mich ihm ein wenig mehr und hob den Blick, um ihm in die Augen zu schauen. Er sah mich an. Intensiv.
»Warum schnappen wir nicht etwas frische Luft?«, fragte er leise.
»Ja, warum nicht«, stimmte ich atemlos zu. »Es ist viel zu warm hier.«
Ich ließ mich von ihm auf den Balkon führen. Dort draußen herrschte Stille, abgesehen von den gedämpften Geräuschen der Party hinter den geschlossenen Türen. Wir waren allein.
Ohne seine Arme um mich herum traf mich die kühle Luft mit voller Wucht und ich rieb meine Arme, um sie etwas aufzuwärmen. Plötzlich wurde eine Jacke – Stefans Jacke – über meine Schultern gehängt, die mich in die Restwärme seines Körpers und seinen männlichen Duft hüllte.
Als das seidige Innenfutter der Jacke über meine nackte Haut glitt, spürte ich den bereits vertrauten Stich in meinem Unterleib. Was sollte das? Ich kannte den Mann doch kaum, doch ich konnte nicht leugnen, dass er gewisse Reaktionen bei mir hervorrief.
Wie viel von all dem war Schauspielerei? Wenn wir lediglich zwei Menschen gewesen wären, die sich auf einer Party begegneten, hätte er mir überhaupt einen zweiten Blick geschenkt?
Mein Gott, wie gut seine Jacke roch! Wie teures, nach Wald duftendes Eau de Cologne und ein Hauch süßer Zigarrenrauch. Wie gern hätte ich diesen Duft tief eingeatmet. Ich musste mich zusammenreißen. Direkt sein.
»Was hältst du von dem Arrangement, das unsere Väter in Szene gesetzt haben?«, erkundigte ich mich.
»Die Abmachung war keine Überraschung für mich. Ich bin mir aber sicher, dass sie für jemanden deines Alters merkwürdig aussehen muss.«
»Merkwürdig wäre untertrieben«, erwiderte ich. »Dich hatte ich nicht als Geburtstagsgeschenk erwartet.«
Er schenkte mir ein halbherziges, schiefes Lächeln.
»Nicht dass ich enttäuscht wäre«, beteuerte ich rasch. Meine Wangen röteten sich. »Ich meine, du bist eigentlich ein schönes Geburtstagsgeschenk.« Ich redete dummes Zeug, aber ich konnte mich nicht stoppen. »Wow. Ich meine damit nicht, dass ich dich wie ein Objekt betrachte – obwohl, ich meine, du bist wirklich eine Art Geschenk, weil du so nett anzusehen bist, aber das ist eher aufwertend als abwertend gemeint und diese ganze Sache ist insgesamt recht abwegig, weil, ich meine, wer arrangiert heute noch Hochzeiten, weißt du?«
Ich war außer Atem. Er zog eine Braue in die Höhe.
»Du findest, ich sehe gut aus?«, fragte er mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der genau wusste, wie attraktiv er war.
Ich nickte. Diesmal war ich mir ziemlich sicher, dass ich einen hochroten Kopf hatte und nicht nur leicht errötet war.
»Es überrascht mich, dass du noch keinen festen Freund hast«, sagte er. »Dein Vater hat mir erzählt, dass du noch nicht einmal mit jemandem ausgehst.«
Ich hielt meine Zunge im Zaum, denn ich wollte nicht gern über meinen Mangel an Erfahrung bezüglich Männern reden. »Ich habe versucht, mich auf meine Ausbildung zu konzentrieren«, erklärte ich deshalb, was zumindest zur Hälfte der Wahrheit entsprach. »Und ganz ehrlich, ich habe bemerkt, dass die meisten Männer meinen ständigen Wortausstoß nicht mögen.«
Jetzt bist du wieder zu weit gegangen
, schalt ich mich.
Doch Stefan lachte nur. »Du bist lustig.«
Er trat näher an mich heran und rückte das Revers seiner Jacke an meinem Hals zurecht. Mir blieb die Luft weg.
»Und wunderschön.« Er streckte die Hand aus und steckte eine lose Haarsträhne hinter mein Ohr, während er mir tief in die Augen blickte.
»Und viel intelligenter, als es den Anschein macht.«
In diesem Augenblick wusste ich, dass ich mit diesem Mann Sex haben könnte. Es wäre guter Sex, dessen war ich mir sicher. Er wäre sehr gut.
»Es geschieht alles sehr schnell«, fuhr Stefan fort und trat einen Schritt zurück. »Aber es muss auch nicht für immer sein. Unsere Väter verlangen lediglich, dass wir heiraten. Sobald das geschehen ist, können wir tun und lassen, was wir wollen, und unsere eigenen Regeln aufstellen. Was erwartest du von dieser Abmachung?«
»Einen akademischen Abschluss«, platzte ich heraus.
Wieder hob Stefan eine Braue.
»Ich habe bereits eine Zusage von der Universität von Chicago für ein Linguistikstudium«, erklärte ich. »Ich möchte gern meinen Master machen, vielleicht sogar den Doktor. Doch mein Stipendium deckt nicht die gesamten Studiengebühren. Wenn wir verheiratet sind, könnte ich vielleicht …« Meine Stimme brach hoffnungsvoll ab. »Ich meine, ich würde es zurückzahlen. Es wird eine Weile dauern, aber –«
»Dein Vater unterstützt dich nicht?«, unterbrach er mich.
»Nein.« Ich lächelte bitter. »Ich habe versucht, ihn zu überreden, mir die Erlaubnis zu geben, das Geld zu borgen … ich hatte mir sogar von seiner Sekretärin einen Termin geben lassen – einen Termin bei meinem eigenen Vater – und bin bei ihm mit einer schriftlichen Kreditvereinbarung und einer PowerPoint-Präsentation aufgetaucht, überzeugt, seine Zustimmung in der Tasche zu haben.«
»Und was geschah?«
»Er erklärte mir, das Studium wäre eine Verschwendung von meiner Zeit und seinem Geld. Und außerdem wären Männer nicht an Frauen mit snobistischen akademischen Titeln interessiert.«
»Tori.«
»Gott, es tut mir leid. Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Ich hätte nicht mit dir darüber reden sollen. Es ist nur … es ist mein Traum.« Bei dem letzten Wort brach meine Stimme und ich musste den Blick abwenden.
Er drehte mein Gesicht wieder zu sich herum und suchte meinen Blick. »Im Leben ist nichts wichtiger«, sagte er schließlich mit tiefer, gemessener Stimme, »als deinem eigenen Weg zu folgen. Deine eigene Wahl zu treffen. Du musst für dich, nicht für deinen Vater leben.« Seine Miene wurde hart. »Nicht jeder hat die Freiheit oder das Privileg, das zu tun.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, spottete ich. »Lebst du etwa für dich? Schließlich haben unsere Väter diese … ganze Geschichte arrangiert. Eine Hochzeit, die den Rest unseres Lebens vorherbestimmt. Wie kannst du das deinen eigenen Weg nennen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bekomme genau das, was ich will.«
»Und was ist das?«, hakte ich nach.
Etwas in Stefans Haltung änderte sich. Es schien, als könnte ich zusehen, wie eine Tür vor mir ins Schloss fiel und mich ausgrenzte. Da erkannte ich, dass sich hinter der charmanten, lächelnden, flirtenden Fassade mehr verbarg. Auf was ließ ich mich da ein?
»Du wirst diese Universität besuchen«, erklärte er. »Gleich am Montag werde ich dort in der Finanzabteilung anrufen.«
Mein Herz hüpfte vor Freude, doch so leicht ließ ich mich nicht ablenken.
»Sag mir, warum du diesem Deal zugestimmt hast. Bitte. Ich habe dir meine Gründe bereits verraten«, drängte ich. »Bevor wir zu tief in diese Geschichte hineingeraten, muss ich deine Beweggründe verstehen.«
Stefan schwieg lange und starrte in die kühle, duftende Nacht hinaus. Es schien, als kämpfte er mit sich selbst, unsicher, was er mir sagen sollte. Oder wie viel er preisgeben wollte. Schließlich nickte er.
»Ich möchte KZM übernehmen«, sagte er. »Ich bin zwar die rechte Hand meines Vaters, doch er führt die Agentur immer noch. Eines Tages wird er sich zur Ruhe setzen. Allerdings wird er mir die Firma nicht übergeben, wenn ich nicht verheiratet bin.« Er schenkte mir ein halbherziges Lächeln. »In dieser Hinsicht gehört er der alten Schule an. Er vertraut niemandem, der sich nicht häuslich niedergelassen hat.«
In diesem Augenblick fühlte ich eine gewisse Verwandtschaft mit Stefan. An der Geschichte musste mehr dran sein, etwas, das er mir noch nicht erzählen wollte. Doch fürs Erste wusste ich genug. Am Ende benutzten wir beide diese Heirat, um uns der Kontrolle unserer Väter zu entziehen und zu bekommen, was wir wollten. Das machte Sinn.
Stefan nahm meine Hände in seine. Sie waren warm, sein Griff stark und sicher.
»Heirate mich«, sagte er und mein Herz sank mir in die Hose. »Wir werden so leben, wie wir wollen. Unsere eigenen Entscheidungen treffen.«
Das Angebot war verlockend. So verlockend.
Dann griff er in die Tasche seiner Jacke, die über meinen Schultern hing, und holte eine türkisfarbene Schmuckschatulle hervor, deren Vorhandensein ich nicht einmal bemerkt hatte. Als er sie öffnete, glitzerte mir im Licht, das vom Inneren des Hauses nach draußen fiel, ein großer Diamantring im Prinzess-Schliff entgegen.
Dieser Abend raubte mir einmal mehr die Sprache.
»Dein Vater hat mir gesagt, einen Ring mit mehr als fünf Karat würdest du nicht tragen«, erklärte Stefan. »Aber ich kann ihn umtauschen, falls du –«
»Er ist wunderschön«, unterbrach ich ihn und stieß den Atem aus, den ich angehalten hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass dies alles wirklich geschieht.«
»Also – gilt die Abmachung?«, wollte Stefan wissen.
Ich blickte erst auf den Ring, dann zu ihm.
Dies war nicht das, was ich mir vom Leben erwartet hatte. Ich hatte vorgehabt, mich von der Diktatur meines Vaters zu befreien, nicht mich noch tiefer in die Falle locken zu lassen. Doch vielleicht hatte ich immer noch die Chance.
»Abgemacht«, sagte ich.
Lächelnd nahm er den Ring und steckte ihn mir an den Finger. Er war schwerer als erwartet. Der Stein war so breit wie mein Finger, doch er gab mir ein gutes Gefühl. Ich fühlte mich … sicher.
»Wenn du meine Frau wirst«, begann er mit gesenkter Stimme und beugte sich zu mir, »solltest du als Erstes wissen, dass ich mir nehme, was ich haben will.«
Bevor ich antworten konnte, umfasste er mein Gesicht und brachte meinen Mund nahe an seinen. Im selben Augenblick, in dem unsere Lippen sich berührten, schien die Welt um uns herum zu verschwinden.
Ich gab mich ihm vollkommen hin und folgte seiner Führung, als er den Kuss vertiefte. Er drückte meinen Mund auf und strich mit der Zunge langsam über meine, bis mir die Knie weich wurden.
Sofort ließ er die Hände auf meine Taille sinken und hielt mich fest an sich gepresst. Ich stöhnte leise. Der Kuss war elektrisch geladen. Ich konnte beinahe spüren, wie die Funken zwischen uns übersprangen. Mein Inneres floss dahin. Keiner der heimlichen Küsse, die ich im Laufe der Jahre mit Jungs ausgetauscht hatte, konnten diesem das Wasser reichen. Denn Stefan war ein Mann. Ein Mann, der wusste, wie man küsst.
Ich wünschte mir, der Kuss nähme kein Ende, doch schließlich war es so weit.
Mein Herz klopfte wie wild, als er mich freigab. Er trat einen Schritt zurück und ich sah, wie er wieder seine Maske aufsetzte. Ich konnte den wachsamen Ausdruck seiner Augen nicht deuten.
»Wir sollten zur Party zurückkehren«, erklärte er, ergriff meine Hand – diejenige, an der der riesige Diamant funkelte – und schob sie unter seinen Oberarm. Seinen festen, muskulösen Oberarm.
Dies war zwar nicht das Geburtstagsgeschenk, das ich mir gewünscht hatte, doch vielleicht war dies sogar ein besseres.
Als wir uns herumdrehten, um wieder hineinzugehen, bemerkte ich meinen Vater. Er stand in der Nähe der Glastür, die auf den Balkon führte, gerade in Sichtweite von Stefan und mir. Und er war nicht allein. Neben ihm stand der Mann, den ich früher am Abend im Gespräch mit Stefan gesehen hatte. Der Mann, den ich für seinen Vater hielt. Hatten sie alles mit angesehen?
In meinem Magen bildete sich ein harter Knoten, als ich zu meinem neuen Verlobten blickte. Er sah stur geradeaus. Wie viel von seinem Verhalten war echte Zuneigung für mich?
Und wie viel war nur Show gewesen?