31.


»Wir können nur warten und hoffen«, sagte Jalina, nachdem Grand den beiden an Bord zurückgebliebenen Unsterblichen und der KI Bericht erstattet hatte.

»Ich verstehe nicht, warum die Doria… äh … das Coniunctional sich so sträubt, uns zu helfen. Für ein solches Gemeinschaftswesen müsste es doch ein Leichtes sein, die Ra´hul zu stoppen«, nörgelte Kranchoor.

»Ich habe genau zugehört und analysiert, was Michael erzählt hat«, sagte Hakera. Die KI nahm in ihrer Avatarform an der Diskussion teil. »Wir befinden uns für das Coniunctional auf einer dimensionalen Ebene, die sehr, sehr weit unterhalb der Sphäre liegt, in der es sich bewegt. Ich will versuchen, euch anhand eines Beispiels zu erklären, was der Grund für das Verhalten des Gemeinschaftsbewusstseins sein könnte.

Michael, stelle dir eine Kolonie halbintelligenter Ameisen auf deinem Planeten vor.« Die anderen blickten den Avatar fragend an. »Eine Kolonie winzig kleiner Insekten, die zu Zehntausenden in einem hügelförmigen Bau leben«, fügte Hakera als Erklärung hinzu. »Nun stelle dir vor, eine Gruppe Ameisen aus einem anderen, weit entfernten Hügel fällt in den Bau einer Kolonie in deinem Garten ein, und die Ameisen bitten dich um Hilfe. Schon die Kommunikation wäre schwierig, da du intellektuell so weit über ihnen stehst, dass es lange dauern könnte, bis du überhaupt begreifen würdest, was sie von dir wollen. Dann würdest du dich fragen, warum du ihnen helfen solltest. Sie sind für dich völlig ohne Belang, und ob sie überleben oder untergehen, ändert an deinem Leben nicht das Geringste. Sie sind irrelevant für dich! Doch sie appellieren an dein Mitgefühl oder führen einen anderen Grund an, warum du dich in die Auseinandersetzung einmischen solltest. Du denkst darüber nach und dann stehst du vor dem nächsten Problem: Wie könntest du eingreifen?

Du bist viel zu groß, um in den Bau schlüpfen und vor Ort helfen zu können. Auch deine überragenden technischen Möglichkeiten sind hierfür nicht geeignet. Jeder Versuch, direkt in der Ameisenkolonie einzugreifen, ist dir verwehrt, selbst wenn du helfen möchtest. Du könntest dabei sogar den gesamten Bau zerstören, wenn du nicht vorsichtig bist. Die Welt der Ameisen ist dir so fremd, dass es für dich so gut wie unmöglich ist, dort direkt aktiv zu werden.

Das ist natürlich nur ein einfacher Vergleich, aber vielleicht versteht ihr, was ich sagen will. Nur weil man außerordentlich überlegen ist, bedeutet das noch lange nicht, dass man diese Überlegenheit auch ohne Weiteres für jeden beliebigen Zweck und an jedem beliebigen Ort einzusetzen vermag.«

Hakeras Beispiel mochte seine Schwächen haben, aber alle verstanden, was die KI zum Ausdruck bringen wollte. Es lief auf etwas ganz Simples hinaus: Das Coniunctional war nicht allmächtig!

»Ich muss außerdem darauf hinweisen, dass uns nicht mehr viel Zeit in diesem Proto-Universum bleibt«, sagte Hakera. »Die Einflüsse auf meine Systeme nehmen immer mehr zu, und es bereitet mir zunehmend Schwierigkeiten, das Schiff dagegen abzuschirmen. Wir müssen in spätestens vier terranischen Stunden von hier verschwinden. Danach kann ich nicht mehr garantieren, dass meine Abschirmung hält.«

Mystery war längst verschwunden und die Rhelina schwebte wieder im völlig leeren Raum – wenn man dieses Kontinuum überhaupt als Raum bezeichnen durfte.

»Wenn wir das Coniunctional nicht überzeugen können, was bleibt uns dann?«, fragte Kranchoor.

»Wie ich es sehe, haben wir dann nur noch zwei Möglichkeiten«, sagte Poggy. »Entweder kehren wir in die Milchstraße zurück und beteiligen uns am Kampf gegen die Rah´hul, bei dem wir mit Sicherheit draufgehen werden. Spätestens, wenn sie ihren Plan umsetzen und die gesamte Lokale Gruppe in Trümmer legen. Oder wir hauen so weit wie möglich von dort ab und suchen uns ein Plätzchen irgendwo in einer weit entfernten Galaxis, wo wir den Rest unserer endlosen Tage in Einsamkeit verbringen. Die jeweils letzten Überlebenden unserer fünf Spezies. Beides keine besonders attraktiven Optionen.«

»Noch besteht Hoffnung«, versuchte Grand seinen Kameraden Mut zuzusprechen. »Ich kann und will nicht glauben, dass eine Spezies, die sich einst der Verbreitung des Lebens verschrieben hat, nun vom Schutz des Lebens nichts hören will. Die Dorianer können sich auch als Gemeinschaftsbewusstsein nicht gänzlich von ihren Idealen gelöst haben.«

»Auch ich kann mir nicht vorstellen, dass sich meine Erbauer so sehr verändert haben sollen«, stimmte die KI zu.

Eine weitere Stunde verstrich, ohne dass sich etwas tat. Weder Tiberius nach das Coninuctional ließen sich blicken, und Grand begann zu zweifeln, ob sein Optimismus angebracht gewesen war. Dann informierte Hakera die Besatzung der Rhelina , dass sie bestenfalls noch eine weitere Stunde in dieser Umgebung würden verbringen können.

»Die geheimnisvollen Kräfte, die auf meine Abschirmung einwirken, werden immer stärker. Es tut mir leid, aber wir können nicht mehr viel länger auf eine Antwort warten«, sagte sie.

»Mir tut es leid, dass ich euch diese Mission eingeredet habe«, begann Grand. »Aber ich hielt es wirklich …«

In diesem Moment bildete sich ein Schemen in der Zentrale der Rhelina . Grand unterbrach sich mitten im Satz und fuhr herum. Der Schemen verdichtete sich schnell, bis er die Gestalt eines Mannes annahm. Tiberius stand lächelnd vor ihnen.

»Ich spreche im Namen des Coniunctionals «, sagte er, ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Ich bin bereit, euch zu helfen, die Ra´hul aufzuhalten. Ich werde die Stringmelodien so manipulieren, dass die Ra´hul kein Branenportal mehr öffnen können. Damit ist die Versetzung ihrer Galaxiengruppe in euer Universum nicht mehr möglich und die Lokale Gruppe vor der Vernichtung bewahrt. Obwohl ich bisher vor solch massiven Störungen der Symphonie des Multiversums zurückgeschreckt bin, halte ich es angesichts der Umstände für vertretbar. Allerdings muss ich sehr vorsichtig vorgehen, um keine noch größere Katastrophe auszulösen. Solche Eingriffe in dieses komplexe System sind nicht ungefährlich. Doch dafür verlange ich einen Tribut.«

»Was meinst du damit?«, Grand war überrascht. Was hatten sie einer Intelligenz zu bieten, die das Multiversum manipulieren konnte? »Was für einen Tribut?«

»Darüber sollten wir erst reden, wenn ihr wisst, was ich für euch tun kann.«

»Uns läuft die Zeit davon«, sagte Grand. »In zweierlei Hinsicht. Zum einen können wir in dieser Umgebung nicht viel länger bleiben und müssen schnellstmöglich hier verschwinden. Für lange Diskussionen bleibt keine Zeit. Zum anderen ist die riesige Invasionsflotte der Ra´hul bereits in Richtung Milchstraße unterwegs. Wenn sie ihr Ziel erreicht, ist unsere Galaxis verloren. Billiarden Leben werden vernichtet werden.«

»Gegen den Überfall auf eure Galaxis kann ich leider nichts tun. Ich verfüge weder über eine Flotte noch über Waffen. Meine Waffe ist der Geist, mit dem ich kosmische Strings und Branen manipulieren kann. Ich sehe nicht, wie das im Kampf gegen eine Invasionsflotte von Nutzen sein könnte.«

So sehr sich Grand auch darüber freute, dass das Coniunctional grundsätzlich zu helfen bereit war, so löste das nicht ihr dringendstes Problem. Selbst wenn verhindert werden konnte, dass die Ra´hul mittels ihrer Kuben ein riesiges Branenportal errichten würden, brachte dies keine Rettung für die Milchstraße und die anderen überfallenen Galaxien. Die Invasionsflotte der Ra´hul würde nach wie vor Tod und Verderben in die Galaxien der Lokalen Gruppe tragen. Insbesondere, wenn sie von ihrem Heimatuniversum abgeschnitten wären. Es wunderte Grand deshalb nicht, dass auch die anderen nicht in Jubel ausbrachen. Auch blieb die Frage nach dem ominösen Preis, der für die Hilfe zu entrichten sein würde.

»Wir können unsere Heimat nicht einfach in die Hände des Feindes fallen lassen!«, protestierte Jalina.

»Und meinen Planeten willst du einfach opfern und den Ra´hul überlassen?« Auch Brolon war sichtlich aufgebracht.

»Das ist nicht genug«, stimmte Kranchoor in den Chor der Entrüstung ein.

Poggy schüttelte nur den Kopf und blieb stumm. Robby, der bisher schweigend den Diskussionen gefolgt war, trat einen Schritt nach vorn, was bei dem fast drei Meter großen Roboterhünen bedrohlich wirkte.

»Uns BEWAHRERN wird es unter diesen Umständen nicht möglich sein, in der Milchstraße zu bleiben. Wir sind den Ra´hul unterlegen und würden von ihnen ausgerottet werden.«

»Natürlich sind wir alle erleichtert, dass die Lokale Gruppe nicht untergehen wird und damit unvorstellbares Leid verhindert werden kann«, versuchte Grand, die Aufregung zu beschwichtigen. »Aber wenn die Ra´hul mit ihrer riesigen Flotte weiterhin ungehindert wüten können, müssen trotzdem unzählige Lebewesen sterben. Das ist inakzeptabel! Es muss eine Möglichkeit geben, wie du das verhindern kannst.«

»Es tut mir leid, Michael Cordwainer Grand«, sagte Tiberius, und es klang aufrichtig.

»Es muss uns etwas einfallen«, beharrte Grand. »Aber jetzt will ich erst einmal wissen: Was ist der Preis für deine Hilfe?«

»Der Devorator ist dazu übergegangen, sich Hilfstruppen auf der dimensionalen Ebene zu beschaffen, auf der er nicht selbst agieren kann. Das Branenportal der Ra´hul ist der erste Beweis hierfür. Es gibt einen Hinweis, dass er dies vor Kurzem erneut getan hat. Innerhalb meiner Sphäre kann ich ihn noch im Zaum halten, doch gegen Manipulationen in eurem Raumzeit-Kontinuum bin ich nahezu machtlos. Deshalb benötige auch ich einen Agenten, der für mich dort tätig sein kann. Als Preis für meine Hilfe verlange ich, dass du, Michael, dich mir zur Verfügung stellst. Du wirst dort für mich aktiv werden, wo ich es nicht kann. Dort, wo der Devorator seine Agenten einsetzt, werde ich dich einsetzen, um ihn zu bekämpfen. Bist du dazu bereit?«

»Aber … ich … was genau bedeutet das? Wir müssen die Liga der Unsterblichen wieder aufbauen. Es sind nur noch fünf von uns übrig. Ich werde dabei gebraucht!« Grand war verwirrt. Falls es doch noch gelingen würde, die Milchstraße zu retten, musste die Liga aus den Trümmern neu errichtet werden. Mutter musste wiederhergestellt, der Hort repariert und neue Unsterbliche angeworben werden. Dies war eine Aufgabe, die all ihre Kräfte beanspruchen würde. Besonders jetzt, nachdem die BEWAHRER ihre Zusammenarbeit aufgekündigt hatten, war eine Gruppe, die sich für das Wohl aller Lebewesen der Galaxis einsetzte, notwendiger denn je. Außerdem konnte er sich nichts unter dem Titel 'Agent des Coniunctionals' vorstellen.

»Es betrübt mich, euch mitteilen zu müssen, dass der Hort zusammen mit der KI, die ihr Mutter nennt, endgültig zerstört wurde«, sagte Tiberius.

Jalina schrie entsetzt auf und auch Kranchoor und Poggy reagierten fassungslos. Grand wurde ärgerlich.

»Und das sagst du uns erst jetzt? Ich habe die Nase voll davon, die wichtigen Informationen nur häppchenweise zu bekommen. Was ist passiert?«

»Wie ich bereits sagte, hat der Devorator erneut mithilfe eines niederen Wesens auf eurer Ebene eingegriffen. Der Unsterbliche, den ihr Rigoran nennt, wurde von ihm übernommen. Er hat ihn zu seinem Diener gemacht und ihn damit beauftragt, den Hort zu zerstören. Ich konnte es selbst beobachten.«

»Rigoran arbeitet für unseren Feind?« Jalina konnte es nicht glauben.

»Der Rigoran, den ihr gekannt habt, existiert nicht mehr«, sagte Tiberius. »Sein Körper wurde vernichtet und sein Geist versklavt. Der Devorator hat Rigorans Wissen und seine Erinnerungen übernommen und daraus ein neues Wesen erschaffen, das auch in den niederen Dimensionen über mächtige Fähigkeiten verfügt. Deshalb benötige auch ich einen Agenten, um diesem Diener des Devorators Einhalt gebieten zu können.«

Grand sank erschüttert in seinen Sessel zurück. Wenn Mutter und der Hort nicht mehr existierten, gab es keine Möglichkeit mehr, die Liga neu entstehen zu lassen. Ohne die LifeCell würde es keine weiteren Unsterblichen geben. Die Lage wurde immer aussichtsloser.

Jalina schlug ob dieser schlimmen Nachricht die Hände vors Gesicht. Kranchoor ließ den Kopf hängen und enthielt sich jeglichen Kommentars, was bei dem ansonsten redseligen Xhenthel ein sicheres Anzeichen seines inneren Aufruhrs war. Poggy sackte noch mehr in sich zusammen und selbst Brolon, der die Liga der Unsterblichen und Rigoran nur aus Erzählungen kannte, erfasste sofort den Ernst der Situation.

»Wenn du glaubst, ich würde mich von dir ebenfalls übernehmen und versklaven lassen, hast du dich getäuscht«, raunzte Grand den Coniunctanten an.

»Das ist nicht meine Absicht, Michael Cordwainer Grand. Du wirst selbstverständlich ein eigenständiges Wesen bleiben. Ich bin nicht der Devorator . Ich achte das Leben! Ich brauche nur jemanden, der in meinem Interesse handelt. Das ist der Preis, den ich für meine Hilfe verlange.«

»Michael, es bleiben uns nur noch wenige Minuten, dann bricht meine Abschirmung zusammen«, warnte Hakera.

In Grand tobten widerstreitende Gefühle. Einerseits sah er es als seine Pflicht an, alles dafür zu tun, die Gefahr von den unzähligen Zivilisationen und Lebewesen abzuwenden, andererseits widerstrebte es ihm, sich auf Gedeih und Verderb einem Geisteswesen zu verpflichten, über dessen wahre Motive er so gut wie nichts wusste. Zudem fragte er sich, was dies für seine gerade begonnene Beziehung zu Jalina bedeuten mochte. Wie er im nächsten Augenblick erfuhr, ging auch ihr dieser Gedanke durch den Kopf.

»Wenn du Mike willst, musst du auch mich nehmen«, sagte sie erstaunlich ruhig. »Wie es aussieht, ist uns außer unserer kleinen Gruppe nichts mehr geblieben. Keine Liga, kein Hort und wahrscheinlich auch keine Heimat, falls es uns nicht doch noch gelingt, die Flotte der Ra´hul zu stoppen. Ich will, dass wir zusammenbleiben!«

Mike lächelte sie an und griff nach ihrer Hand.

»Ja, uns beide oder keinen«, sagte er zu Tiberius.

Der Coniunctant lächelte ihn an.

»Ich bin sogar sehr gerne bereit, euch beide zu akzeptieren. Und vielleicht gibt es sogar einen Weg, wie ich helfen kann, die Liga der Unsterblichen wieder auferstehen zu lassen. Doch dazu später, jetzt müssen wir von hier verschwinden.«

»Wir?«, fragte Grand.

»Ich werde euch begleiten«, sagte Tiberius.