Kapitel 3
Christen Jon Frost winkte, mehr aus Gewohnheit, dem kleinen Möbelwagen hinterher, der gerade die Kurve der Straße Kvaglundparken in der dänischen Stadt Esbjerg nahm und verschwand. Die letzten Stunden hatten Umzugshelfer diverse Möbel und Gegenstände aus Frosts Eigentumswohnung geschleppt und alles in ihrem Transporter verstaut. Wichtig war ihm vor allem seine Schallplattensammlung. Auch die teuren Whiskeygläser. Doch alles Wertvolle war gut gepolstert und geschützt im Transporter gelandet. Nun musste nur noch die Fahrt in die Hansestadt unfallfrei verlaufen.
Als der dänische Hauptkommissar Frost Ende letzten Jahres die Anfrage über eine Versetzung zur deutschen Kriminalpolizei in Hamburg erhalten hatte, war sein erster Gedanke eher ablehnend. Nicht dass er sich in der Esbjerger Mordkommission unwohl gefühlt hätte. Nein, doch nach über zehn Jahren dort, inzwischen als stellvertretender Leiter der Mordkommission tätig, gab es viel Routine und vieles lief automatisch, fast schon vorhersehbar. Am Anfang, als er, der junge, unerfahrene Kriminalist, von Sønderborg nach Esbjerg zur Mordkommission wechselte, waren die ermittlungstechnischen Herausforderungen für ihn größer, glaubte er. Doch nach und nach schien auch dem Verbrechen die Luft auszugehen. Heute waren Morde und Tötungsdelikte seltener geworden. Wenn sie stattfanden, waren die Motive oft sehr nah beieinander, die Aufklärung schon fast ein Kinderspiel. So hatte er die geplante Versetzung als einmalige Fluchtchance gesehen und letztendlich zugesagt. Frost wusste nicht, was ihn erwartete bei der Hamburger Kriminalpolizei, aber sicher würde alles genauso ablaufen wie hier in Esbjerg . Nur dass seinem neuen Dienstort schon ein Ruf vorausging, der mit Großstädten in Dänemark nicht mithalten konnte. Er sah es als Chance, weiter aufzusteigen. Nach der Scheidung von seiner Frau vor zwei Jahren war auch eine Standortveränderung für ihn kein Thema mehr. Er hatte schon im Frühjahr Hamburg besucht, ein kleines, von seiner neuen Dienststelle angebotenes Appartement angeschaut und sofort zugesagt. Im 14. Stock eines Wohnblocks an der Palmaille in Altona , mit Blick über Hamburg, das hatte schon etwas. Wenn der Platz in der neuen Unterkunft auch etwas beschränkt war. Eigentlich kannte er Hochhäuser in seinem Land eher als Brennpunkte, doch eine riesige Auswahl an bezahlbarem Wohnraum schien es in der Hansestadt nicht zu geben.
Jon Christen Frost spazierte noch einmal hinauf in seine Wohnung. Er stellte das Wasser ab, überprüfte die Fenster auf Verschluss, verriegelte anschließend die Haustür. Ab sofort war er sozusagen ein Hamburger. Er freute sich nun doch darauf.
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Seine Begegnung mit der jungen Retterin Sandra ließ ihn nicht los. Noch während er den elektrischen Hyundai Kona aus der Tiefgarage steuerte, waren seine Gedanken bei der gemeinsamen Nacht und dem morgendlichen Frühstück. Was hatte diese Frau zu verbergen? In den letzten zwei Jahren hatte er einige Treffen mit Frauen erlebt. Vor allem über sogenannte Dating-Apps. Alle, die er traf, waren gepflegt, bildschön, jedoch man konnte kaum ein vernünftiges Wort mit ihnen reden. Sie hielten stets ihre Handys in der Hand und waren oft nicht richtig bei der Sache. Sandra war da anders. Das hatte er schon gespürt, als er sie zum ersten Mal, verlassen und erschöpft, in feuchten Laufklamotten im Krankenhaus erblickt hatte. Sie wirkte einerseits zart und verletzlich. Doch andererseits auch selbstständig und unabhängig. Bei ihrem kurzen Gespräch war ihm bewusst geworden, sie war nicht verschlagen, aber schlau. Frost war das Ganze als eine Art Herausforderung angegangen. Dann hatte sie ihn nach der gemeinsamen Liebesnacht am Morgen regelrecht abserviert. Das passte nicht zum Bild einer Frau, die, um ein Leben zu retten, ihr eigenes aufs Spiel setzte. Obwohl er inzwischen schon mehrfach versucht hatte, Sandra zu kontaktieren, war sie telefonisch nicht zu erreichen. Erst wollte er im Gasthof auf Fanø nach ihrer Adresse fragen. Er war sich allerdings nicht sicher, ob die Inhaberin sie überhaupt herausgerückt hätte. Den Schutz von persönlichen Daten sah man auch in seiner Heimat als besonders hohes Gut an, und seine Dienstmarke als Ermittler dafür einzusetzen, das war ihm zu gefährlich gewesen. Frost glaubte, Sandra wolle die begonnene Affäre einfach nicht fortsetzen. Punkt!
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Während sich der dänische Kommissar auf die Europastraße 20 in Richtung Kolding einfädelte, hakte er „diese Sache“ ab. Doch schon nach wenigen Minuten hatte Frost erneut das Bild der Frau vor seinen Augen. Sicher war Sandra verheiratet. Lebte mit Mann und Kindern in einem kleinen Reihenhaus in Deutschland. Die Frau hatte den Seitensprung genossen, das konnte er hautnah miterleben, doch inzwischen war sie bestimmt zu Hause, lag bereits in den Armen ihres Partners.
„Pech gehabt, Jon!“, rief er laut, „Sandra war noch nicht die Richtige!“