Kapitel 4

Sandra Holz hatte sich am Wochenende mit Kollegin Emma Meyfeld zum Essen verabredet. Auch die pensionierte Rechtsmedizinerin Traudel Kensbock war dazugestoßen. Aus für beide unerklärlichen Gründen hatte Traudel wohl von dem Treffen erfahren und sich ungefragt eingeklinkt. Zu dritt saßen sie nun beim Italiener an der Langen Reihe . Gerade wurde der bestellte Rotwein gebracht und eingeschenkt.

„Ich freue mich, Sandra, dass es dir wieder gut geht.“

Traudel Kensbock nahm ihr Glas hoch und hielt es, zum Anstoßen bereit, hin.

„Wie kommst du darauf, dass es mir gut geht?“

Sandra bemerkte, wie die Farbe aus Traudels Gesicht verschwand, und ärgerte sich über ihre harte Aussage.

„Ich dachte ... nur ... da du schon ... wieder arbeitest ...!“, stotterte die Frau erschrocken.

Emma lenkte ab, indem sie ihr Glas erst gegen das von Sandra stieß, dann gegen das der Ärztin.

„Ab Montag sitzt Sandra im neuen Büro am Überseering, löst alte Fälle. Ich hätte auch Lust dazu. Kein Blut, keine Gewalttäter, nur Akten. Ich sehe dich schon, Sandra, die Füße auf dem Tisch, den Blick aus dem Fenster und in jeder Sendung ,XY … ungelöst‘ vertreten.“

Sandra griff die Worte Emmas auf und grübelte darüber, wie es sein würde, am Morgen nicht mehr zum Bruno-Georges-Platz zu laufen, sondern zum alten Shell-Haus beim Überseering 35. Schon vor zehn Jahren hatte die Stadt dort zwei Etagen angemietet und diverse Abteilungen des Landeskriminalamts darin untergebracht. Nun war auch sie auf dem Abstellgleis angekommen. Die Kommissarin empfand es als dienstlichen Tiefgang, sozusagen als sozialen Abstieg.

Traudel hatte sich wieder gefangen. Sicher war das von ihr geleerte Glas Rotwein nicht unschuldig daran.

„Du leitest nun ab sofort eine Cold Case -Abteilung? Das ist doch toll. Ich denke, du wirst bestimmt viele alte Kriminalfälle lösen. Dazu Straftäter, die sich noch immer auf freiem Fuß befinden, hinter Schloss und Riegel bringen. Vielleicht schreibst du später auch Kriminalromane darüber? Kommissarin Sandra Holz und der Mord an der Elbe!“

Sandra bemühte sich zu lachen. Es wurde Zeit, dass auch sie sich die geänderte Situation schönredete.

„Ja, endlich Kaffee zu jeder Tageszeit. Aber im Ernst, Emma, weißt du, wer mich ab Montag dort unterstützt?“

Emma Meyfeld legte die Speisekarte aus der Hand. „Tatsächlich habe ich die Bewerbungen dazu eingesehen. Eine Kollegin sowie ein Kollege wurden ausgewählt. Persönlich kenne ich sie nicht, doch ich glaube, sie sind nett und besitzen große Erfahrungen. Die beiden Kommissare deiner künftigen Arbeitsgruppe haben zwei Wochen Vorsprung vor dir. Sicher servieren sie ihrer Chefin die entsprechenden Fälle schon auf dem silbernen Tablett.“

Emma schien über die an den Tisch getretene Kellnerin entzückt zu sein, so konnte Sandra der Fragerei endlich ein Ende bereiten.

„Ich nehme eine Calzone, bitte ohne Eier.“

*

Wie ein Gaul auf dem Weg zur Schlachtbank fühlte sich Sandra, als sie am Montagmorgen die U-Bahn an der Station Alsterdorf verließ und sich auf den Weg in Richtung ihres neuen Arbeitsplatzes machte. Doch sie war nicht allein. Bekannte Gesichter liefen vor ihr, bevor sich die Wege trennten. Während die Kollegen sich weiter zum Bruno-Georges-Platz bewegten, bog sie in Richtung Überseering ab. Eigentlich war das Landeskriminalamt Hamburg nur Gast im Gebäude der Fakultät für Geisteswissenschaften. Schon auf dem Weg über die Brücke glaubte sie, mit neununddreißig Jahren die älteste Frau hier in der Runde zu sein. Im Gebäude loggte sie sich mit ihrer neuen ID-Karte ein und fuhr in den zweiten Stock.

*

Der lange Flur und die seitlich liegenden Büros ähnelten ihrem alten Arbeitsplatz beim LKA 41. Nur waren im Gegensatz dazu hier alle Bürotüren geschlossen. Entweder standen viele Räume leer oder aber die Kollegen darin legten besonderen Wert auf Ruhe und Anonymität. Es schauderte die Kommissarin, als sie vor dem Büro angekommen war, das man dem Ermittlerteam zugewiesen hatte.

Abteilung 41, AG UKF stand auf dem Schild. Da­runter die Namen der Ermittler:

1. HK Sandra Holz

HK Oliver Rouven Liebknecht

K Marie-Therese Porceddu.

Die beiden Namen ihrer zukünftigen Kollegen sagten ihr nichts. Wie auch, bei Hunderten von Kommissaren im Landeskriminalamt. Also: Liebknecht und Porceddu. Das würde sie sich nicht merken können. Da musste gleich das DU her. Erst wollte Sandra klopfen, dann drückte sie die Klinke hinunter und schob vorsichtig die Tür auf.

Der erste Eindruck war überaus positiv: Ein heller Raum, große Fensterfront, jede Menge Platz. Mittig hatte man drei Schreibtische aneinandergeschoben. Darüber hingen helle Leuchten. Sandra suchte nach Türen zu weiteren Büros. Da war noch eine kleine Tür. In der Hoffnung, dort ihren eigenen Schreibtisch zu finden, spazierte sie in die Richtung. Die Tür stand offen. In dem kleinen dunklen Raum befanden sich zwei Personen neben einer Kaffeemaschine und schoben sich gerade je einen Berliner in den Mund. Bei einer handelte es sich um eine Frau im Rollstuhl.

„Guten Morgen!“, rief Sandra. Die beiden blickten erschrocken und wie ertappt zu ihr.

„Keine Angst, ich bin es nur, die Chefin!“, lachte sie.

Schnell schluckten sie ihre Bissen hinunter und hielten Sandra die Hand hin. Sie schlug ein in der Hoffnung, nicht auf Marmeladenreste zu treffen.

„Willkommen, Frau Kommissarin!“, brummelte Liebknecht. Die junge Kommissarin, die neben dem Mann im Rolli saß, mochte keine 30 Jahre alt sein. Sie wischte sich verstohlen mit einem Papiertaschentuch über den Mund.

„Nur nicht so förmlich. Wenn es euch nicht stört, ich bin die Sandra.“

„Oliver!“

„Marie-Therese!“

„Gut, ihr seid ja schon einige Tage länger hier als ich. Bitte bringt mich auf den aktuellen Stand.“

„Gerne“, übernahm Liebknecht diese Aufgabe. „Marie-Therese und ich haben die ersten Tage im Archiv verbracht, Akten gewälzt. Undankbare Arbeit, so im Dunkel rumzuwuseln. Unsere Funktion war, für den Einstieg in unsere gemeinsamen Ermittlungen zu sorgen.“

Er warf einen Blick zur Kollegin und Kommissarin Porceddu nickte.

„Dort unten liegen zahlreiche alte Kriminalfälle. Es erwies sich tatsächlich als schwierig, etwas herauszusuchen, mit dem wir beginnen wollen.“

„Hat man euch vonseiten der Führung keinerlei Instruktionen oder Forderungen, was die Auswahl der Fälle betrifft, erteilt?“

„Nein, keineswegs. Oberkriminalrat Jensen hat uns hier kurz begrüßt, uns erklärt, dass du zu uns stoßen wirst, und noch eine gute Zeit gewünscht.“

„Wie viele Fälle habt ihr ausgewählt?“

„Drei!“

„Wie, nur drei?“ Sandra war etwas enttäuscht. Sie hatte gehofft, sich aus einer größeren Anzahl von ungelösten Kriminalfällen etwas Passendes heraussuchen zu können.

„Wie gesagt, es war äußerst schwierig.“

Porceddu mischte sich ein. „Ich habe die Krimis vom Cold Case – Dezernat Q gelesen, so einfach, wie sie Jussi Adler-Olsen im Buch darstellt, ist die Sache nicht.“

„Gut, aber wie seid ihr bei der Auswahl vorgegangen?“ Die Kommissarin war zur Tür getreten und schaute sich nach dicken Akten auf den Schreibtischen um.

„Wenn du riesige Aktenberge suchst, dann vergeblich“, erklärte Kommissarin Porceddu weiter.

„Wir haben nur die Hauptakte mitgenommen. Vieles, wie die Zeugenaussagen, liegt noch im Archiv. Zum Teil sind sie jedoch schon digitalisiert. Die Asservate zu den Fällen befinden sich oftmals bei der Staatsanwaltschaft.“

„Dort müssen wir sie gegebenenfalls anfordern“, warf Liebknecht ein.

„Falls es überhaupt welche gibt!“

„Richtig, wir haben Fälle aus den 80er- und 90er-Jahren ausgewählt. Das heißt, die genetische Forensik war zu dieser Zeit noch nicht so weit fortgeschritten.“

„Ja, erst der Biochemiker Alec John Jeffreys entdeckte 1984 durch Zufall eine Methode, mit dem sich das Erbmaterial verschiedener Menschen relativ schnell vergleichen ließ. Er überführte damit 1987 anhand eines genetischen Fingerabdrucks den ersten Täter.“ Die Kommissarin im Rollstuhl schien sich auszukennen.

Sandra fand dieses Hin-und-her-Gehopse von Bemerkungen äußerst anstrengend. Sie schaute auf die Uhr. Es war schon kurz vor zehn. Um zwölf hatte sie Feierabend. Noch knapp zwei Stunden. So ein Halbtagsjob konnte auch anstrengend werden. Vor allem mit zwei neuen Kollegen.

Aber sie blieb ruhig, musste während der ersten Tage erst einmal einen Überblick bekommen, bevor sie Anweisungen erteilte.

„Habt ihr beide auch einen Halbtagsjob?“, wollte Sandra wissen.

„Schön wäre es. Wenn Sie ... äh, wenn du heimgehst, haben wir noch einige Stunden!“, bemerkte die neue Kollegin.

Das wiederum empfand Sandra als positiv. Sie nahm sich vor, wenn sie das Büro verließ, würde sie die beiden noch mit Arbeit eindecken.

„Ist dein Nachfolger schon eingetroffen?“, wollte Kommissarin Porceddu wissen.

Sandra war mit der Frage überfordert. „Also, mich dürft ihr nicht fragen. Sicher wisst ihr bedeutend mehr als ich.“

„Nur dass der Kollege aus Dänemark kommt“, erklärte Liebknecht.

„Ein Däne wird neuer Leiter der Mordkommission? Du machst Witze, Oliver.“

„Nein, echt, es stand vor einigen Tagen im Hamburger Abendblatt . Da hat sich wohl der Innensenator mit dem dänischen Kollegen kurzgeschlossen. Erst wollten sie eine deutsch-dänische Taskforce bilden, dann hat man die Finanzen nicht freigegeben. So blieb nur der Austausch von Posten.“

„Und meinen Ex-Kollegen Soko hat man ausgetauscht.“ Sandra wusste Bescheid.

„Ja, Sokolowski ermittelt, nach meinem Kenntnisstand, bald in Sønderborg bei den Dänen“, erklärte Liebknecht weiter.

„Ja, ja, Soko bei den Dänen!“ Sandra verstand die Welt nicht mehr.

„Nein, Sandra, sie haben Sokolowski mit dem Tag der Versetzung zum Hauptkommissar befördert.“

Porceddu meldete sich: „Ist Sokolowski nicht der Typ mit dem T-Shirt-Verkaufsshop?“

Sandra erschrak. Auch das hatte sich rumgesprochen.

„Ja, Marie-Therese. Ich persönlich glaube, man wollte den Kollegen nur aus der Schusslinie nehmen. Der hatte doch in den letzten Wochen großen Ärger mit den HSV-Ultras. Wie gesagt, das ist nur meine persönliche Sicht auf die Geschehnisse.“

Sandra mischte sich wieder ein. „Wann soll der Neue meine alte Abteilung übernehmen?“

„Ich glaube, der Däne hat, wie du, heute seinen ersten Tag!“

„Prima, dann werde ich jetzt rüberlaufen zum Polizeipräsidium und ihn mir anschauen“, erklärte Sandra. „Legt mir die Akten bitte auf den Schreibtisch. Wir sehen uns morgen.“

Schon hatte die Erste Hauptkommissarin das Büro in Richtung Treppenhaus verlassen.

*

Das war doch unmöglich, welch ein Durcheinander. Kaum war sie außer Gefecht, verhökerte die Politik ihre Abteilung an die Dänen. Sandra spürte, wie ihr Kreislauf in die Tiefe ging. Sie fühlte sich sofort unwohl. Beim Kiosk kaufte sie sich eine Butterbrezel und eine kleine Flasche Mineralwasser, um den Blutzucker zu stabilisieren. Was regte sie sich auf? Ihre Zeit als echte Mordermittlerin war vorbei. Sollten sich doch andere kümmern. Ihr tat nur Emma Meyfeld leid, die sich nun mit dem neuen Vorgesetzten rumschlagen musste. War sie vielleicht eifersüchtig auf den Neuen?, fragte sich Sandra. Nein, sie hatte zehn Jahre Freude an ihrer Arbeit im Landeskriminalamt 41. Davon viele Monate als Interims-Abteilungsleiterin. Sie hatte den Job gut gemacht, fand sie, aber auch Federn gelassen. Nun war es an der Zeit, etwas anderes zu tun. Ihre Halbtagstätigkeit fiel ihr ein. Was könnte sie bloß mit den frei gewordenen Stunden anfangen? Einem Strick­verein beitreten oder ehrenamtlich etwas tun, wie Traudel Kensbock, die nachts als Ärztin kranke Obdachlose heilte? Irgendetwas würde ihr schon einfallen. Sandra Holz lief zum Fußgängerüberweg und wartete geduldig auf die Grünphase.

*

Emma Meyfeld saß in Sandras ehemaligem Büro und tippte auf der Tastatur. Sie grinste, als Sandra eintrat.

„Na du, schon Heimweh nach deinen alten Kollegen?“

„Guten Morgen, Emma. Meinen Namen haben sie an der Tür entfernt, aber den neuen Namen noch nicht angeschrieben“, erklärte Sandra zur Begrüßung.

„Ja, ja, das dauert hier etwas. Der Neue hat ja erst heute seinen Job begonnen. Den ganzen Vormittag hat ihn der Polizeipräsident in die hanseatischen Gepflogenheiten eingewiesen“, lachte sie. „Seit etwa einer Stunde sitzt er mit Jensen und den Abteilungsleitern im Besprechungsraum.“

Sandra stützte sich auf ihrem alten Arbeitsplatz ab und beugte sich vor zu Emma. Beide hatten nicht bemerkt, dass hinter ihr eine Person in den Raum getreten war.

„Sag, was macht der Typ so für einen Eindruck?“

„Nett! Wenn ich nicht auf Mädels stehen würde ...!“

„Und, wie sieht er aus, der dämliche, entschuldige, dänische Hauptkommissar? Klein, dick, mit Glatze?“

In dem Moment registrierte Sandra den erschrockenen Blick Emmas, die an ihr vorbeischaute. Dann wurde das Gesicht der Kollegin kalkweiß. Sandra versteifte sich etwas und drehte, wie in Zeitlupe, ihren Kopf. Hinter ihr stand, über das ganze Gesicht grinsend, Christen Jon Frost.

Sandras Beine zitterten. Sie musste sich am Tisch festhalten, sonst wäre sie umgekippt.

„Aber ...!“

„Hallo Sandra, ja, ich bin der dämliche Hauptkommissar!“