Kapitel 11

Kommissar Frost war nach der Zusammenkunft mit dem Ersten Bürgermeister zurück zu den Landungsbrücken gefahren. Noch immer war dort alles großzügig abgesperrt. Nach einigen nervigen Halts und der Beantwortung von Fragen der Sicherungskräfte, die aufgrund seines dänischen Nummernschilds aufkamen, erreichte er endlich mit seinem elektrisch angetriebenen Wagen das Museumsdorf. Jetzt, bei Tageslicht, war das Ausmaß der Explosion noch deutlicher zu erkennen. Die Metallsplitter der U-434 waren bis zum angrenzenden Parkplatz geschleudert worden und es grenzte an ein Wunder, dass es nicht noch mehr Tote gegeben hatte. Sicher lag es am Zeitpunkt der Explosion. Bekanntermaßen waren morgens zwischen drei und vier Uhr die wenigsten Menschen in Hamburg unterwegs.

Noch immer bewegten sich zahlreiche Beamte der Spurensicherung auf dem Gelände. Während der Kommissar sie beobachtete, trat eine Person neben ihn. Eine Frau, wie Frost aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte. Gaffer wurden von den Beamten an den Sperren zurückgewiesen, also konnte es sich nur um eine Kollegin der Polizei handeln. Frost ließ sich nichts anmerken, ignorierte die Person an seiner Seite zunächst. Endlich fing sie an zu sprechen: „Wer tut denn so etwas, ein altes Boot in die Luft sprengen? Für mich klingt das eher nach Dummejungenstreich.“

Frosts Nackenhaare sträubten sich etwas, und das war meistens der Fall, wenn jemand von der Presse etwas von ihm wollte.

Er schaute die Frau mit fragendem Blick an.

„Marlies von Hagen von der Mopo , und Sie sind ...?“

Frost war etwas ungehalten, dass man die Vertreter der Presse so nah an das Szenario ließ, aber das hatten andere zu verantworten.

„Frost!“, antwortete er, sein Blick wanderte wieder in Richtung Elbe.

„Frost? Der dänische Kommissar, der nun die Hamburger Mordkommission leitet?“

„Wie kommen Sie denn darauf, Frau von Hagen?“, wollte Frost, leicht genervt, wissen. „Meinen leichten Dialekt konnten sie nach einem Wort von mir nicht erkannt haben.“

Er schaute sich die Frau genauer an. Sie war keine vierzig, hatte knallrotes, gelocktes Haar und irgendetwas an ihr machte sie extrem attraktiv. Sie trug einen Rollkragenpullover, quer gestreift in bunten Farben, eine enge Jeans und die Pumps an ihren Füßen mussten ihr den Weg über die Pflastersteine nicht gerade einfach gemacht haben.

Frost wies auf ihre Schuhe. „Alle Achtung, ich könnte in solchen Schuhen nicht laufen.“

Die Frau nahm es als Kompliment, denn sie antwortete: „Stimmt, aber mein Job ernährt mich und da muss man auch mal Schmerzen in Kauf nehmen. Was meinen Sie zu meiner These, Herr Kommissar?“

Das Wort Kommissar klang, als es die Frau aussprach, wie eine Melodie. Sofort ging dem Dänen ein Song des längst verstorbenen Sängers Falco durch den Kopf. Er überlegte noch nach dem Titel, meinte dann: „Sie meinen den Streich?“

Sie nickte.

„Nur mal so als Hypothese, warum sollten Jugendliche so viel Energie investieren, um ein altes U-Boot zu versenken?“

„Eine Mutprobe?“

„Als Ersatz für das Klettern auf Zugwaggons und das Springen von Klippen?“

„Klippen gibt es in Hamburg keine.“

Frost nickte zur Bestätigung. Er fand die Konversation mit der Unbekannten nett, andererseits sollte man ihn hier, kurz nach seinem Dienstantritt, nicht schon in Begleitung einer Journalistin antreffen.

„Tut mir leid, Frau von Hagen. Ich kann Ihnen da nicht helfen. Wir sind noch nicht sehr weit, was die Ermittlungen angeht. Es wird sicher bald eine Pressekonferenz geben. Vielleicht sehen wir uns dort wieder.“

Der Leiter Mordkommission schlüpfte unter einem weiteren Trassierband hindurch in Richtung des zerstörten Gebäudes.

„Würde mich sehr freuen, Herr Frost. Danke trotzdem für das informative Gespräch. Und grüßen Sie mir bitte Ihre Kollegin, Kommissarin Sandra Holz“, rief die Journalistin dem Mordermittler nach.

Informatives Gespräch? Frost kannte die Medien, aber eher die dänischen. Ob man hier in der Bundesrepublik aus einem ,Guten Tag‘ gleich eine ganze Story machte? Eine, die völlig überzogen und dazu falsch war? Er war sich sicher, er musste noch viel lernen. Vor allem hieß es: Augen auf. Und – woher kannte die Journalistin Sandra?

*

Kurz vor 12 Uhr fand sich Frost wieder im Rathaus ein. Vor dem Gebäude war ein kleiner Parkplatz installiert worden, und als er seinen Wagen dorthin lenkte, winkte man den Wagen des Kommissars in die Absperrung. Es schien, dass er inzwischen an Bekanntheit gewonnen hatte. Schon diverse Fahrzeuge parkten dort. Frost hatte das Gefühl, die kleine Gruppe von heute Morgen war um einiges größer geworden.

Tatsächlich drängte sich ein gutes Dutzend Menschen in den Rathaussaal. Der Bürgermeister kam gleich zur Sache: „Ich habe für diese Besprechung zur Erpressung noch einige Fachleute dazu eingeladen. Wer ihn noch nicht kennt, Timo Schultheis, unser Finanzsenator.“

Peter Rentschler wies auf einen kleinen Herrn im Anzug, der aufstand, nach allen Seiten nickte und sich dann wieder hinsetzte.

„Den neuen Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, Dr. Sebastian Fischer, kennen Sie vielleicht noch nicht. Nach dem erneuten kurzen Gastspiel von Dr. Traudel Kensbock hat er Professor Pellin abgelöst. Fischer wurde frisch und als jüngster Rechtsmediziner der Republik erst letzte Woche zum Professor ernannt.“

Alle Anwesenden klatschten. Auch Frost beteiligte sich. Fischer steckte in einer Jacke, auf deren Rücken das Wort Rechtsmedizin aufgedruckt war. Frost hatte es schon beim Eintreten bemerkt. Fischer winkte und grinste müde.

„Dazugestoßen ist auch Dr. Mühlfeld von der Hamburger Bank. Sollte es zur Überweisung der Summe kommen, wovon wir nicht ausgehen, wird er sich kümmern müssen.“

Mühlfeld, ein Glatzkopf mit freundlichem Lächeln, nickte.

„Sicher ist Ihnen die Presse schon auf den Fersen, meine Herren.“

Frost erinnerte sich sofort an seine Begegnung mit der Mopo -Redakteurin.

„Aber bleiben Sie stark. Wir können uns in der Stadt keine Panik leisten. Alles muss weiterlaufen wie bisher. Wir agieren und entscheiden im Hintergrund. Bis die Sache erledigt ist.“

Die Anwesenden bestätigten die Aussagen des Ersten Bürgermeisters mit kräftigem Nicken.

„Gut, dann bitte ich Professor Fischer, uns ein Update zu geben, was den Toten und die Verletzten angeht. Gerne auch etwas über die DNA, falls es darüber schon Informationen gibt.“

Der Rechtsmediziner erhob sich von seinem Stuhl. „Hallo in die Runde. Tatsächlich erscheint mir diese Explosion wie das Werk von Jugendlichen. Wenn wir nicht einen Toten und drei Verletzte zu beklagen hätten, würde ich dabei bleiben.“

Frost erinnerte sich an die Worte dieser Journalistin. Auch sie hatte von Dummejungenstreich gesprochen.

„Ich mache es kurz. Wir fanden keinerlei DNA. Wo auch? Der Platz selbst und das Gebäude wurden durch die starke Explosion enorm beschädigt. Wir haben zudem die wenigen Überreste eines kleinen Hundes gefunden. Das erklärt wohl, warum sich der tote Rentner dort aufhielt. Ich übergebe nun an meinen neuen Kollegen, Kommissar Frost.“

Christen Jon Frost war etwas überrascht, als er mitten in Gedanken seinen Namen hörte. Er spürte, wie alle Augenpaare sich plötzlich auf ihn richteten und auch er stand auf.

„Ja, hallo hier im Kreis. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und mich denen, die mich noch nicht kennen, vorstellen. Mein Name ist Christen Jon Frost, ich bin dänischer Staatsbürger. Ich leite seit letzter Woche die Abteilung 41 im Landeskriminalamt, die Mordkommission. Dieser Fall ist sehr schwierig zu beurteilen und der Vergleich mit dem Streich von Jugendlichen bietet sich eigentlich an, wenn wir nicht von der Erpressung und den Terroristen wüssten. Der Tote ist ein verrenteter Bergarbeiter aus Bottrop. Er hatte für heute Morgen eine Fähre gebucht. Nach den Angaben seiner Frau wollte das Paar, plus Hund, am frühen Morgen nach Travemünde aufbrechen. Es liegt nahe zu glauben, dass der Hund ausgerissen, der Rentner ihn gesucht und dabei in den Bereich der Explosion geraten ist. Zwei Verletzte schliefen in einem VW-Bus, der durch die schwere Druckwelle auf die Seite gelegt wurde. Weitere Fahrzeuge wurden im Umfeld mittel bis schwer beschädigt. Die ersten Ergebnisse der Kfz-Kennzeichen deuten darauf hin, dass es sich um parkende Touristen, dazu um einen Anwohner handelt. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann.“

Oberkriminalrat Jensen warf Frost einen dankbaren, anerkennenden Blick zu.

„Danke, Kommissar Frost.“ Der Innensenator hatte die weitere Leitung der Besprechung übernommen. „Herr Mühlfeld, wie lange kann es dauern, bis einhundert Bitcoins überwiesen sind?“

Bankverantwortlicher Mühlfeld antwortete im Sitzen. „Da es sich um digitale Währung handelt, geht das relativ fix.“

„Und was genau verstehen Sie unter relativ fix?“

In der Tonlage des Senators spürte man Verärgerung über die unkorrekte Aussage.

„Fünfzehn Minuten!“, ergänzte Mühlfeld seine Aussage.

„Gut, das ist angekommen. Oberkriminalrat Jensen, gibt es von Ihrer Seite, als Vertreter des Polizeipräsidenten, noch Anmerkungen?“

Jensen war aufgestanden. Er wirkte wie immer etwas nervös und knetete seine Hände. „Zusammen mit dem Staatsschutz haben wir uns alle geplanten und aktuell angelaufenen Veranstaltungen angeschaut. Das Polizeiaufgebot wurde erhöht. Natürlich nur, soweit es in unserer Macht steht, und so, dass niemand der Sportler bzw. der Feiernden Verdacht schöpft. Wenn Fragen dazu gestellt werden, wird es auf die generelle Krisenlage geschoben. Doch niemand hat sich bisher übermäßig beschwert. So werden alle morgen stattfindenden Veranstaltungen bzw. Märkte gut bewacht sein. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass die Terroristen mit einem Transporter voller Sprengstoff auf einem gut besuchten Flohmarkt auftauchen und ihn ... doch vielleicht sollte dazu der Verantwortliche vom Staatsschutz Stellung nehmen.“

Jensen nahm wieder Platz.

Kriminalrat Eggling war aufgesprungen. Man sah ihm seine Freude an der Aufgabe im Gesicht an.

„Danke, Kollege Jensen. Wie bei vielen terroristischen Anschlägen bisher, gibt es nur Vermutungen und Modelle, wo, aber auch wie solch ein Terrorakt stattfinden könnte. Meine Abteilung hat alle Kanäle aktiviert, V-Leute befragt und auch im Ausland nach terroristischen Aktivitäten hier in Hamburg geforscht. Leider ergebnislos. Seit 9/11 sind auch die Terroristen schlauer geworden. Sie halten ihre Planung, was Anschläge angeht, noch bedeckter. Wir vom Staatsschutz schlagen vor, die Summe vorab zu überweisen und uns anschließend die Täter zu schnappen. Das würde uns Zeit geben und schlimme Schlagzeilen ersparen.“

Sichtlich zufrieden über seine Worte setzte sich Peer Eggling wieder.

Der Erste Bürgermeister Peter Rentschler war aufgestanden.

„Danke, meine Herren. Insgesamt sind die Ermittlungsergebnisse und damit die Planungen, die zur Verhinderung eines blutigen Anschlags auf die Bevölkerung der Hansestadt verbunden sind, schwach bis gering. Aber auch das müssen wir hinnehmen. Es darf jedoch nicht dazu führen, dass wir aufgeben und resignieren. Wir haben noch genügend Zeit zur geforderten Geldübergabe heute Nacht. Erst dann erwarten die Erpresser die Zahlung. Ermitteln Sie bitte weiter. Alles was Ihnen einfällt, ist vielleicht nützlich. Sie haben von mir in dieser Sache jegliche Befugnis und vor allem meine vollständige Rückendeckung. Wir treffen uns hier um … zwanzig Uhr. Ich danke Ihnen.“