Kapitel 19
Sandra Holz saß mit Emma Meyfeld in einem Café auf St. Pauli. Sie ließ sich ein großes Stück Kuchen kommen; dazu einen riesigen Pott Milchkaffee. Die Medaille für den absolvierten Marathon hing um ihren Hals und sie ließ sie stolz durch Kopfwippen baumeln. Die Urkunde selbst hatte ihre Kollegin verstaut.
„Emma, ich habe das noch immer nicht verstanden, warum warst du eigentlich wirklich unten im Tunnel?“
Kommissarin Meyfeld schaute sich um, doch niemand befand sich in ihrer unmittelbaren Nähe. Die nächsten Gäste, zwei Omis, vor sich Torte, saßen an einem Tisch außer Hörweite.
Sie nickte. „Frost hat versucht, dich anzurufen.“
Sandra legte mürrisch die Gabel zur Seite.
„Und?“
„Er wusste wohl nichts von deinem Lauf heute?“
„Nein, natürlich nicht. Warum sollte ihn das interessieren? Er war doch mit der Explosion bei den Landungsbrücken beschäftigt, und eigentlich wollte ich auch nicht, dass er davon erfuhr.“
„Bist du denn schon wieder …“, Emma zögerte etwas, bevor sie weiterredete, „… völlig hergestellt?“
Sandra zuckte mit den Schultern und steckte dabei ein Stück Kuchen in den Mund.
„Weißt du, Sandra, das ist deine Sache. Aber unter uns, die Zerstörung der U-434 war nur der Anfang der Erpressung.“
Erneut stoppte Sandra, die Kuchengabel mit den Leckereien kurz vor den Lippen. „Welche Erpressung?“
„Du weißt nichts davon?“
Sandra sah Emma an, dass sie ein schlechtes Gewissen bekommen hatte.
„Los, erzähle mir alles.“
„Gut!“, Emma beugte sich zu ihr rüber. „Terroristen erpressen die Hansestadt. Sie fordern fünf Millionen Euro in digitaler Währung. Also diese Bitcoins. Sie drohten damit, … die Röhren des Alten Elbtunnels zu sprengen und zu fluten.“
Emma setzte das Glas mit Mineralwasser an den Mund.
„Du machst Scherze!“ Sandra prustete und kleine Kuchenbrocken flogen wie Projektile umher.
„Nein, tatsächlich.“
Die junge Kommissarin hatte fertig getrunken und fuhr fort: „Die Erpresser hatten erst nicht preisgegeben, bei welcher Veranstaltung sie einen Terroranschlag planten. Man konnte sich infolgedessen nicht vorbereiten. Dann gab es irgendwie Schwierigkeiten, das geforderte Geld aufzutreiben oder zu überweisen. Ich weiß es nicht genau.“
Sandra machte ein Gesicht, als habe man ihr gerade mitgeteilt, ihr Auto sei abgeschleppt worden. Nur langsam wurde ihr erschrockener Blick wieder klarer.
„Aber ... aber warum hat man den Lauf nicht gestoppt und uns alle aus dem Tunnel geholt? Da können wir ja von Glück sagen ...!“ Schon nach Beendigung des Satzes hatte sich Sandra selbst die Antwort gegeben. „Angst vor Panik, stimmt es?“
Emma nickte.
„Jetzt haben sie gezahlt, doch wurde die Gefahr auch abgewendet? Noch immer befinden sich zahlreiche Personen dort unten.“
„Ja, ja! Ich glaube, alles ist gut. Gefahr besteht nicht mehr. Den Rest muss dir Jon Frost erzählen. Ich bin erst einmal froh, dass du gesund bist.“
Emma nahm Sandra sanft in den Arm und sie ließ es zu.
*
Auch die Nacht zum Montag musste Sandra allein und in ihrer eigenen Wohnung verbringen. Freund Jon hatte sie am späten Sonntagnachmittag angerufen, allerdings wenig vom aktuellen Fall erzählt. Er wollte nicht über das Telefon Details bekannt geben, entschuldigte er sich. Sandra war es recht. Er sprach sich jedoch anerkennend zu ihrer sportlichen Leistung aus und erneut empfand sie es als große Freude, diesen so positiv eingestellten Dänen kennengelernt zu haben.
Gegen acht Uhr betrat Sandra das Büro am Überseering, und gerade als sie die Lederjacke an den Haken hängen wollte, schrieb ihr Jochen Andres eine kurze Nachricht. Er wolle sich mit ihr um 15 Uhr in seiner alten Wohnung treffen. Sandra sagte sofort zu. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Der Kauf einer Wohnung hier in Hamburg war ihr bisher nicht vergönnt. Doch sie hatte auch nicht vor, die Kollegen zu fragen, ob es Besonderheiten beim Kauf gebe und was zu beachten sei.
Sie nahm sich eine Tasse Kaffee und rief alle zusammen. Dann berichtete sie von ihrem Gespräch mit dem ehemaligen Polizeipräsidenten.
„Wow! Andres kommt extra nach Hamburg, um uns zu unterstützen? Ich selbst habe ihn nie kennengelernt. Bist du ihm vorher oft begegnet, Sandra?“, fragte Marie-Therese.
Sandra fiel wieder die Geschichte mit dem rosa Tutu und die Nacht auf Andres’ Couch ein. Aber bisher hatte sie Wort gehalten und nichts darüber verlauten lassen. Dabei würde es auch bleiben.
„Ja, ich kenne Jochen Andres recht gut. Ein feiner Kerl und ein guter Kriminalbeamter.“
„Ich hatte mal Ärger mit ihm“, warf Hauptkommissar Liebknecht ein.
„Wie dem auch sei, Kollegen. Lasst uns mit dem Spärlichen, was wir vorzuweisen haben, beginnen. Ich selbst glaube, nach der Lederjacke wurde nicht genügend gesucht. Mit den Ermittlungen zur Jacke sollten wir beginnen.“
„Was meinst du, wollen wir einen Aufruf in die Tagespresse bringen?“
Sandra überlegte kurz. Die Idee von Kollegin Marie-Therese fand sie nicht schlecht. Das würde zwar dazu führen, dass anschließend ganz Hamburg darüber informiert war, dass der Fall neu aufgerollt wurde. Andererseits bekam die Arbeitsgruppe ein echtes Profil gegenüber Presse und Bevölkerung.
„Super Idee, könntest du das übernehmen, Oliver? Hast du Beziehungen zur Mopo ?“
Liebknecht zuckte mit den Schultern. Der Kollege setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. Dann erklärte er kurz und bündig: „Eher nicht!“
Sandra überlegte. War die ehemalige Sensationsreporterin Marlies von Hagen nicht inzwischen bei der Mopo ? Jensen hatte es mal erwähnt.
„Kein Problem, ich gebe dir die Telefonnummer einer Journalistin, Marlies von Hagen. Berufe dich auf mich. Sie wird sich sicher kümmern. Und denke daran, das bemalte Futter der pinkfarbenen Lederjacke ist der entscheidende Hinweis zum Auffinden des Kleidungsstücks.“
Liebknecht versprach es.
Kommissarin Porceddu kam an Sandras Seite gerollt. „Nicht dass du glaubst, ich könne wegen dem da ...“, sie boxte fest auf die Lehne ihres Rollstuhles, „... nur Büroarbeiten ausführen. Nein, da täuschst du dich gewaltig. Ich komme in alle Außenbereiche der Stadt und manchmal …“, sie griente, „… hat dieser Sitzplatz tatsächlich auch im Dienst seine Vorteile.“
*
Pensionär Jochen Andres stand vor dem Wohngebäude. Sandra hatte ihn schon wahrgenommen. Sie begrüßten sich freundlich und Andres fragte nach dem Marathon.
„Alles lief gut, mit der Zeit kann ich zufrieden sein. Meine heutigen körperlichen Probleme belaufen sich ausschließlich auf die Beinmuskulatur.“
„Prima, wir nehmen den Aufzug in die Wohnung. Ich bin ein alter Mann und nun habe ich endlich einen echten Grund, die Treppe zu meiden“, lachte er.
Vergnügt bestiegen sie eine Minute später einen Aufzug. Andres steckte den Schlüssel in einen Schließzylinder nahe den Knöpfen. Schon fuhr der Aufzug an. Er stoppte mit der Zahl Vier im Display und öffnete sich automatisch.
„Simsalabim!“, rief der ehemalige Polizeipräsident und machte eine einladende Handbewegung. Sandra war verblüfft, sie stand in einem Raum mit Blick auf eine geräumige Küchenzeile. Erst jetzt wurde ihr klar, der Aufzug fuhr hinauf bis in Andres’ Wohnung. So etwas kannte sie, aber erlebt hatte sie das noch nicht.
„Gab es den Aufzug schon … du weißt … damals?“
„Natürlich! Wahrscheinlich hast du mich in der Nacht über den Treppenzugang in die Wohnung gebracht.“ Andres grinste verschmitzt.
„Diese Wohnung muss ich haben, Jochen!“, rief sie begeistert.
„Das hättest du nicht sagen sollen. Da werde ich gleich noch 100.000 Euro auf die Kaufsumme draufschlagen.“
Die Worte sprudelten so aus ihm heraus, dass Sandra ihn skeptisch anschaute.
„Das meinst du doch nicht ernst, Jochen? Nach allem, was ich für dich getan habe!“
Andres grinste immer noch und lief durch die Küche in das angrenzende Zimmer.
„Die Küche hast du gesehen. Die Schränke sind nicht mehr auf aktuellem Stand. Jessica hat sie damals beim Einzug einbauen lassen. Aber inzwischen haben die Nachmieter sie ... aufgebraucht!“
Sandra warf einen Blick zurück. Sie fand keine großen Mängel am schlichten Weiß der Küchenfront. Elektrogeräte konnte man ja schnell und preiswert austauschen.
„Das Wohnzimmer!“ Andres’ Hand und Arm schlugen einen 180-Grad-Bogen.
„Es gibt hier keinen Balkon.“
Er hatte Sandras suchende Blicke richtig gedeutet. „Dafür oben eine kleine Terrasse. Dahinten ist das Bad, dort ein mini Gäste-WC. Eigentlich war die Wohnung etwas klein für drei Personen. Doch der Aufzug in die Küche und die großzügige Terrasse oben hatten Jessica damals überzeugt. Ich selbst war ja oft außer Haus.“
Sandra öffnete die Tür, an der ein verblichenes Porzellanschild auf das Bad hinwies.
Sie beobachtete, wie der Mann das Schild anschaute und gedanklich etwas abdriftete. „Das Schild hat Stef damals ausgesucht. Ja, das war noch vor dem Beginn ihrer Pubertät.“
Andres lief die Wendeltreppe voraus nach oben und die Kommissarin folgte ihm. Oben befand sich ein offener Flur, von dem drei Türen abgingen.
„Links befindet sich das Elternschlafzimmer, rechts das ... Kinderzimmer, in der Mitte eine Dusche. Aber nix für Dicke“, lachte Jochen Andres und klopfte sich auf seinen Bauch. In Sandras Ohren klang es nach Verlegenheit.
Die ebenerdige Dusche war tatsächlich nicht sehr geräumig. Darin befanden sich ein winziges Waschbecken und ein Toilettensitz. Das Schlafzimmer hatte die übliche Größe; sogar ein deckenhoher Schrank war eingebaut. Das Kinderzimmer war klein geraten. Was beiden Räumen jedoch die Würze gab, war deren Anbindung an die Terrasse. Sandra öffnete umständlich die Schiebetür und trat heraus. Ein toller Ausblick erwartete sie. Wie damals auf der Elbphilharmonie; nur nicht so hoch, dachte sie. Seitlich lag der Hafen, dazu die Elbe. Ihr Blick führte in Richtung Reeperbahn. Zu den DOM-Zeiten würde sie sicher von hier auf das Riesenrad beim Millerntor blicken können.
„Unten gibt es einen Keller und zur Wohnung gehört ein Stellplatz in der Tiefgarage. Wollen wir noch nach unten ...?“
„Ich weiß nicht, Jochen, hast du denn genügend Zeit?“
„Selbstverständlich! Bevor ich tagelang mit einem Makler hier rumrenne und mich ärgern lasse, mache ich die Wohnung doch besser dir schmackhaft.“
Lachend lief er vor ihr die Wendeltreppe nach unten. Mit dem Aufzug fuhren sie in die Tiefgarage. Der Stellplatz war gewöhnlich und beim angekündigten Keller handelte es sich eher um einen mittelgroßen Verschlag. Aber beides war sauber.
„Hatte Stefanie hier ihr Fahrrad abgestellt?“
Jochen Andres erschrak regelrecht, als Sandra das Thema auf die verschwundene Tochter lenkte. Er benötigte einen Moment, um zu antworten. Sandra bemerkte, wie er sich an der weiß gekalkten Wand abstützte und sie bekam sofort Gewissensbisse.
„Nein, es gibt neben der Tiefgarage noch einen Fahrradkeller. Dort stand das Rad.“
„Kann ich ...!“
Andres brachte sie durch eine Tür zurück. Von dort ging es über einen weiteren Durchgang in einen Raum, den der Wohnungsbesitzer mit einem separaten Schlüssel aufschloss. Drinnen lehnten diverse Fahrräder an der Wand, und sogar ein altes Mofa stand seitlich auf seinem Ständer.
„Das Mofa hat hier überhaupt nichts verloren. Diese Mieter ...!“, schimpfte Andres los.
„Kein Problem, ich werde es ihnen abkaufen und
damit zur Arbeit fahren“, flachste die Kommissarin. Andres entspannte sich wieder.
Der ehemalige Hamburger Polizeipräsident war zu einem verstaubten Damenrad getreten. „Dieses Rad gehört Jessica. Sie ist keine Bikerin, hatte immer Angst, in Hamburg aufs Rad zu steigen. Trotzdem habe ich es ihr gekauft. Gehört natürlich zur Wohnung!“, grinste er.
Sandra nickte verständnisvoll. „Also, Jochen, die Wohnung ist ideal für mich. Ihr habt sogar zu dritt darin gewohnt, dann ist sie für mich allein schon fast etwas dekadent. Aber wenn du einverstanden bist, werde ich die Wohnung zu deinen Konditionen kaufen.“
Andres schien etwas überrascht. „Wie, du möchtest nicht handeln?“
„Gibt es denn Spielraum zum Runterhandeln?“, wollte Sandra wissen.
„Nein, natürlich nicht!“, scherzte Andres. Vergnügt beschlossen sie, anschließend zusammen zu essen und mit Sekt auf das Geschäft anzustoßen.