Kapitel 22

Schon zigmal musste Sandra früher an diesem Kilo-­Shop vorbeigelaufen sein. Doch irgendwie hatte sie das Geschäft nie wahrgenommen. Kollegin Porceddu hatte gebeten, mit nach Altona fahren zu können, und gemeinsam waren sie mit U-Bahn, aber auch S-Bahn dorthin gefahren. Die Barrierefreiheit für die Rollstuhlfahrerin war ständig gewährleistet, musste Sandra zugeben. Überall in den Bahnhöfen befanden sich Aufzüge. So schnell wie sie als Fußgängerin rollte Marie-­Therese neben ihrer Vorgesetzten durch die Neue Große Bergstraße. Der Shop selbst öffnete um 10 Uhr, doch schon jetzt, einige Minuten zuvor, warteten zahlreiche Personen vor dem Eingang. Erst plante Sandra, sich hintanzustellen, dann dauerte ihr das zu lange und sie spazierte zur Tür. Rufe der Umstehenden wehrte sie mit den Worten ,Kriminalpolizei‘ ab.

„Und die?“, rief einer. Er zeigte mit dem Finger auf die Frau im Rolli, die hinter Sandra zur Schlangenspitze gerollt war.

„Das ist die Polizeipräsidentin!“, grinste Sandra, und zum Glück fand es auch ihre Kollegin lustig. Die Menge blickte noch eine Weile stumm auf das ungleiche Paar, dann wurde die Tür des Kilo-Shops aufgeschlossen. Sandra und Marie-Therese zwängten sich als Erste in das Innere. Es roch muffig nach alten Kleidern, aber das war offenbar nicht zu ändern, wenn man Gebrauchtes verkaufte, war sich die Kommissarin sicher. Sandra zeigte ihren Dienstausweis, erklärte, die Kollegin sei Kommissarin Porceddu und sie seien wegen der pinkfarbenen Lederjacke gekommen. Eine kräftige Frau in den Fünfzigern kam mit aufgeregt rotem Gesicht angerannt.

„Oh Gott, wenn der Fall jetzt durch meine Mithilfe aufgeklärt wird! Mein Ewald ist schon ganz durch den Wind. Ich habe ihm von der gefundenen Lederjacke erzählt. Der fragte doch glatt nach einer Belohnung, der Döspaddel. Das habe ich ihm natürlich gleich ausgetrieben, Frau Kommissarin.“

Die Stimme der aufgelösten Frau wurde immer schriller. Die sich inzwischen im Laden verteilten Personen hatten schon ihre Suche nach Kleidungsstücken aufgegeben und lauschten dem Monolog.

„Stopp!“

Sandra reichte diese lärmende Dame. „Das ist kein Kaffeekränzchen, Frau ...“

„Kobold!“, fiel Kommissarin Porceddu ein, nachdem die Frau mit aufgerissenem Mund vor Sandra stand.

„… alles klar, Frau Kobold?“ Der Name schien Programm zu sein, dachte Sandra und reduzierte selbst die Lautstärke ihrer eigenen Stimme:

„Hören Sie, Frau Kobold, wir ermitteln im Fall einer verschwundenen Person. Wahrscheinlich ein Tötungsdelikt.“ Die letzten drei Worte flüsterte die Kommissarin. „Also, wo genau befindet sich die Jacke?“

Wie in Trance wandte sich die Angestellte des Kilo-­Shops um. Sie lief in Richtung einer Seitentür. Sandra folgte ihr und registrierte, dass auch Marie-Therese hinter ihr herrollte.

Frau Kobold öffnete die Tür und trat in den Raum. Sie schaltete eine Neonleuchte ein. Dann wies sie, anscheinend noch immer sprachlos, in die Ecke. Dort, auf einem Holzbügel, zwischen diversen Kleidungsstücken, hing eine pinkfarbene Lederjacke.

„Wie viele ihrer Kolleginnen hatten die Jacke seit dem Fund in der Hand, Frau Kobold?“

Die Frau fand endlich ihre Stimme wieder.

„Nur ich, Frau Kommissarin.“ Ihr bislang hochroter Kopf kehrte nach wenigen Sekunden wieder zu einer normalen Gesichtsfarbe zurück.

Sandra entnahm ihrer eigenen Lederjacke einen Kugelschreiber und trat damit zur Ecke. Schon von der aktuellen Position aus konnte sie sehen, dass das Jackenfutter bemalt war. Sie öffnete mit dem Stift vorsichtig die Jacke, suchte nach dem Namen der Vermissten. Tatsächlich stand oben in einer Art Ballonschrift: STEFANIE ANDRES.

„Ich glaube, das ist tatsächlich die gesuchte Jacke!“ Sandra drehte sich zur Kollegin Marie-Therese und Frau Kobold.

„Gut gemacht, ihr beiden. Und was eine Belohnung angeht, Frau Kobold, ich werde mit dem Vater des vermissten Mädchens sprechen. Vielleicht ergibt sich ja etwas.“

*

Frau Kobold hatte den beiden Kriminalbeamtinnen eine Tüte besorgt. Vorsichtig und ohne ihre eigene DNA zu verteilen, packte Sandra das Kleidungsstück hinein.

Draußen atmeten beide Kommissarinnen tief ein. Den Frauen war bewusst, dass ihnen noch immer zahlreiche Augenpaare folgten.

„Puh, das war anstrengend. Manche Mitmenschen machen es einem nicht leicht.“

Marie-Therese Porceddu bestätigte das.

„Am Telefon schien mir Frau Kobold als eine ruhige, sachliche Person. Vielleicht hat ihr Partner sie verrückt gemacht?“

Sandra schmunzelte.

„Immer sind die Männer schuld. Was hältst du davon, wenn wir noch einen kleinen Ausflug machen? Ich habe zwar schon Feierabend, kann aber jede Überstunde gebrauchen.“

„Nichts dagegen einzuwenden, Sandra. Wenn du mich nicht mehr in weitere Ein-Kilo-Läden schleppst!“

Vergnügt brachen die beiden Frauen auf in Richtung Bahnhof Altona.

*

Kurz nach 13 Uhr standen beide Kommissarinnen vor der Pforte der Rechtsmedizin im Hamburger Butenfeld. Sandra hatte ihrer Kollegin vorgeschwärmt und diese konnte nicht erwarten, das Innere eines rechtsmedizinischen Instituts zum allerersten Mal betreten zu dürfen. Sandra hatte unterwegs überlegt, Marie-Therese nach dem Grund ihrer Gehbehinderung zu fragen. Hatte es dann aber verschoben. Marie-Therese würde sicher selbst irgendwann damit anfangen. Die beiden Frauen hatten auch so genügend Gesprächsstoff zwischen diversen Bahnen.

Sandra hatte vorab angerufen und Professor Dr. Fischer hatte seine Anwesenheit bestätigt und Freude über ihren Besuch im Butenfeld ausgedrückt. Fischer hatte die Ermittlerinnen schon erwartet. Er zeigte sich wenig überrascht, Sandra im Beisein einer Frau im Rollstuhl anzutreffen. Er begrüßte beide überschwänglich.

„Hallo, Sebastian, das ist Marie-Therese Porceddu, meine neue Kollegin.“

„Ah, Cold Case!“, grinste er schelmisch.

Sandra stutzte, die Info über ihren neuen Arbeitsplatz hatte sich nun schon bis in die entlegensten Ecken Hamburgs verbreitet. Der Mopo sei Dank!

„Sebastian, wir möchten dir recht herzlich zur Professur gratulieren. Wie alt bist du eigentlich? Sicher noch keine dreißig?“

Dr. Fischer strahlte bei den Worten Sandras und zeigte es ihr durch eine leichte Gesichtsrötung. Er ging aber nicht auf die Frage ein, blickte eher neugierig auf die mitgebrachte Lederjacke. Dann bat er die Frauen, ihm in sein Büro zu folgen.

Der Raum hatte sich geändert, seit Sandra das letzte Mal die Rechtsmedizin im Butenfeld aufgesucht hatte. Sauber und akkurat standen Fachbücher und beschriftete Ordner in den deckenhohen Regalen. Der Schreibtisch war nicht, wie zuletzt bei Pellin, überladen mit Akten und aufgeschlagener Literatur. Nein, die Papiere lagen ordentlich gestapelt auf der alten Eichenplatte, Schreiben und Dokumente lagen nicht mehr durcheinander, sondern hatten ihren Platz in sogenannten Ablagesystemen gefunden. Hinter dem Schreibtisch hing an der Wand eine riesige Tafel. Links war der Jahreskalender aufgeklebt und rechts war die Tafel übersät mit kleinen „Post-it“-Zetteln. Auch die Fensterscheiben waren geputzt. Man konnte hindurchsehen.

„Du bist ein Freund der Übersicht“, bemerkte Sandra, nachdem sie Fischers Ordnungssinn bewundert hatte.

Fischer nickte. „Wenn du auf die Unordnung von Uwe Pellin ansprichst? Ja, da hast du sicher recht. Auch Traudel hat nicht mehr aufgeräumt. Sie war wohl der Meinung, für das eine Jahr hier im Institut lohne sich der Aufwand nicht. So habe ich ein komplettes dienstfreies Wochenende damit verbracht aufzuräumen.“ Stolz wanderte sein Blick durch sein Büro.

„Das ist Ihnen gelungen, Herr Professor.“ Marie-Therese Porceddu hatte sich gemeldet.

Fischer überlegte kurz. „Sagen Sie gerne Seb zu mir, wie Sandra. Wenngleich ihr Sebastian ja wohl besser gefällt. Und nun erzählt mal, ihr beiden, was treibt euch her? Doch nicht nur ein junger, gut aussehender Rechtsmediziner?“ Er schlug sich vor Lachen auf den Oberschenkel.

*

Sandra hatte dem Leiter der Hamburger Rechtsmedizin alles über den Hintergrund zur pinkfarbenen Lederjacke berichtet und diese auf dem Schreibtisch abgelegt. Fischer dachte eine Weile nach, dann machte er den Kommissarinnen wenig Hoffnung: „Wenn die Leder­jacke tatsächlich 1996 das letzte Mal von dem Mädchen getragen wurde, was glaubt ihr, durch wie viele Hände sie bislang gegangen ist? Sicher finden wir DNA, doch sie zuzuordnen wird schwierig sein. Sollten wir tatsächlich einen Treffer landen, wer sagt uns, dass die Person, wenn überhaupt im System, nicht die Jacke gekauft und nur getragen hat? Vielleicht selbst nichts mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hat?“

Nachdenklich verließen Sandra und ihre Kollegin das Institut. Kommissarin Porceddu rollte gemütlich hinterher. Sie ließ ihrer Chefin Zeit nachzudenken. Erst oben bei der Bushaltestelle angekommen, meldete sich Marie-Therese: „Recht hat er, der Seb!“ Sie lachte. „Nein, Spaß beiseite, die Spreu vom Weizen zu trennen, wird schwierig. Und wir dürfen uns nicht blenden lassen. Sonst versteifen wir uns auf den oder die Falschen.“

Die Aussage traf Sandras Überlegungen. „Du hast völlig recht, Marie-Therese. Aber vielleicht kommt die Lederjacke frisch aus der Reinigung und man findet gar keine verwertbaren Spuren.“

„Außer vielleicht ...!“

„Außer vielleicht was ... spuck es aus!“

„Außer vielleicht der Kobold-DNA!“

„Kobold-DNA?“ Sandra musste kurz nachdenken. Dann wurde ihr alles klar und sie amüsierte sich.