Kapitel 23

Georg Weirich war schon ein begeisterter Taucher, seit er seine ersten Atemzüge gemacht hatte. So beschrieb er stets seine Liebe zum Tauchsport. Da war es klar, dass Weirich, nach zwölf Jahren als Kampfschwimmer bei der Marine, anschließend in Hamburg bei der Feuerwehr als Entschärfer angeheuert hatte. Inzwischen war der 42-Jährige fast zehn Jahre dort im Job und bei den Unterwasser-Entschärfern der Mann für die schwierigen Fälle.

Als der Einsatzbefehl mit dem Wortlaut ,Seemine in der Elbe über dem Alten Elbtunnel identifizieren‘ am Sonntag gegen Mittag in der Leitstelle eintraf, packte er ohne zu zögern seine Tauchausrüstung zusammen. Schon wenige Minuten später machte er sich mit zwei weiteren Kollegen der Hamburger Feuerwerker im Dienstboot auf den Weg zur besagten Stelle.

„Wie kommen die darauf, dass dort eine Seemine zu finden sein soll?“, fragte Bootsführer Siggi Schütz seinen Vorgesetzten Weirich. „Ist doch etwas ungewöhnlich, nicht?“

Georg Weirich war gerade dabei, seinen Taucheranzug anzuziehen. Er und sein Kollege Jimi Herzog würden zusammen im abgesperrten Bereich zwischen St. Pauli und Steinwerder tauchen. Ein Minensuchboot der Deutschen Marine, ausgestattet mit Sonar, war auch schon von Wilhelmshaven aus nach Hamburg unterwegs. Das hatte man ihnen gemeldet und die Gruppe war unsicher, ob sie zuerst tauchen oder ob erst das Boot den Metallgegenstand orten sollte. Endlich erreichte sie die Nachricht per Funk, das Minensuchboot sei schon in der Elbe. Weirich zog das Oberteil des Neoprenanzuges wieder aus. Er setzte sich auf die Planken und lehnte sich zurück.

„Das klingt ja fast, als habe so ein Döspaddel vom Marineboot beim Verlassen der Landungsbrücken eine Mine verloren?“ Jimi Herzog ließ nicht locker. Man konnte spüren, dass ihn die Situation bedrückte.

„Aber Jimi, mach dir keinen Kopp, wir finden das Teil schon!“, beruhigte ihn Schütz und lenkte das kleine rot-weiße Mehrzweckboot gegen die Wellen eines Jet­ski, der etwas Seegang auf der Elbe verursachte. „Wenn es tatsächlich dort ist!“, ergänzte er.

„Und was ist, wenn ich im trüben Wasser der Elbe diese Mine zu fassen bekomme?“ Der 29-jährige Kampfmittelräumer hatte die geballten Hände in die Seite geschoben und blickte fragend zu seinen Kollegen.

Weirich und Schütz schauten sich an. Man sah, die offen ausgesprochenen Gedanken des jungen Mannes nervten sie.

„Also Jimi, hör zu: So eine Mine sieht ein wenig aus wie ein Seeigel. Den kennst du ja, bist ja im letzten Urlaub in Ägypten in einen reingetreten.“

„Was?“, brüllte Herzog auf.

„Hast doch selbst erzählt, wie weh das getan hat. Wie du tagelang rumlagst, während sich Bille in der Disco amüsierte!“ Die beiden Kollegen lachten.

Jimi hatte seinen Blick gesenkt und war an die Reling getreten.

„Na ja, kann sein.“

„Gut“, fuhr Weirich fort. „Wenn du die Mine gefunden hast, packst du sie an einem der Stachel und ziehst sie hinter dir her. Ist ein bisschen wie beim Wasserballett.“

Herzog drehte den Kopf. Er war sich unsicher, ob ihn sein Vorgesetzter verarschen wollte.

„Genau, Jimi!“, übernahm nun Schütz den Sprecherpart. „Du ziehst die Wassermine wie eine Wasserleiche an den Elbstrand. Im Idealfall in Höhe der Strandperle. Dort hast du jede Menge Publikum. Sie werden dich fotografieren, in der Mopo über dich berichten und du wirst zum Helden der Stadt.“

Jetzt endlich hatte der junge Mann begriffen, dass ihn die Kollegen nur ärgerten. Er verlieh seiner Empörung Ausdruck, indem er seinen Arm hob und mit der Hand den Stinkefinger zeigte. „Ihr Deppen!“, brüllte er. Dann drehte er sich beleidigt weg.

*

Das kleine Boot hatte inzwischen die Einsatzstelle erreicht. An den Landungsbrücken waren kaum Menschen zu sehen. Polizeikräfte hatten alles abgesperrt, sodass Gaffer und Touristen keine Chance für ein schnelles Handyfoto bekamen.

„Schau, da sind auch die Kameraden mit den WLF!“

Jetzt konnte auch Weirich die Wechselladerfahrzeuge der Hamburger Feuerwehr auf dem Platz beim Museumshafen erkennen.

„Läuft!“, rief Schütz und lenkte das Boot in Richtung Fischmarkt.

„Da, die M1092, Hameln !“ Weirich zeigte die Elbe hinunter, wo ein graues Kriegsschiff auftauchte.

„Und das kannst du so schnell erkennen?“, wollte Jimi wissen.

„Klar, war lange genug bei der Marine.“

„Wie kommt so ein träges Teil so schnell hierher?“ Die Rückfrage kam vom Kollegen Schütz.

„Sicher haben sie in der Nordsee Minen suchen geübt, und nun ereilt sie hier die Praxis.“

Die drei Männer lachten gleichzeitig, obwohl die aktuelle Lage nicht zum Spaßen war.

„Dann lassen wir die Jungs mal suchen.“

*

Das Minensuchboot Hameln hatte inzwischen abgedreht. Es war schon nach achtzehn Uhr. Die Feuerwerker Schütz und Herzog saßen bzw. lagen auf dem Mehrzweckboot. Sie vertilgten belegte Brötchenhälften.

„Die Versorgung klappt hier wie geschmiert.“ Schütz griff zur letzten Brötchenhälfte. Er schubste das halbe Ei, das den Lachs krönte, auf den Teller und biss hinein.

„Hättest ja mal fragen können ...!“ Herzog hatte sich zu Wort gemeldet.

„Was meinst du ...?“, Schütz’ Frage war kaum zu verstehen. Er schluckte den Bissen hinunter und wiederholte die Frage.

„Ach, vergiss es!“

Georg Weirich kam eben von der Einsatzbesprechung zurück und neugierig standen die beiden auf und warteten, bis der Vorgesetzte auf das Boot gestiegen war.

„Und, was haben Sie entdeckt?“

„Nix!“

„Wie nix?“

Schütz und Herzog schauten sich an, als glaubten sie Weirichs Worten nicht.

„Die hatten dem Kapitän der Hameln offensichtlich verschwiegen, dass über dem Alten Elbtunnel diese fetten Eisenplatten liegen.“

„Eisenplatten?“

„Ja, wusste ich auch nicht. Man hat sie wohl dort abgesenkt, bevor die Renovierung des Tunnels begann. Damit die Röhren nicht zur Oberfläche aufsteigen. Die fehlenden Fliesen, ihr versteht?“

Herzog verstand nichts. Sein Gesicht bildete ein riesiges Fragezeichen.

„Georg, kannst du es bitte einfacher erklären? So, dass es auch Jimi blickt.“

Schütz hatte sich eingeklinkt.

„Gut, also kurz: Beim Renovieren wurden alle Fliesen entfernt, und um ein Auftrieb der Röhren zu verhindern, haben die Verantwortlichen zur Sicherheit schwere Metallplatten auf den Grund der Elbe ablegen lassen. Über dem Tunnel. Diese Platten stören nun natürlich das Sonar. Somit hat es wohl über den kompletten Bereich nur Metall signalisiert. Damit war ein Auffinden der Seemine unmöglich. Jetzt müssen wir ran. Wir tauchen mit je zwei Teams von Steinwerder und von St. Pauli aus und treffen uns in der Mitte. Mit oder ohne Mine.“

„Aber Chef, wir sind nur zu zweit. Woher sollen wir das zweite Team nehmen?“

„Die Marine hat Taucher des Minensuchboots abgestellt. Die machen sich gerade auf Steinwerder tauchfertig.“

*

Die Sicht im milchigen Wasser der Elbe war nach wenigen Zentimetern Tiefe gleich null. Taucher Weirich war das schon vorab klar, doch er hatte gehofft, dass durch die Sperrung des Flussabschnitts für Wasserfahrzeuge in den letzten Stunden die Trübung abgeschwächt wurde. Dem war nicht so und er orientierte sich an seinem digitalen Kompass am Armgelenk, der ihm den Weg zur gegenüberliegenden Seite aufzeigte. Er musste das Display fast bis an die Brille halten, um etwas erkennen zu können. So würden sie diese verdammte Mine nie finden. Wenn sie überhaupt hier unten rumschwamm, was er stark bezweifelte.

*

Hauptkommissar Christen Jon Frost saß mit seiner Kollegin Emma Meyfeld und Oberkriminalrat Rolf Jensen zusammen im Besprechungsraum des LKA 41. Sie hatten Tassen mit dampfendem Kaffee vor sich stehen. Der Leiter des LKA hatte die beiden, was die Erpressung anging, auf den aktuellen Stand gebracht. Jensen war erst vor wenigen Minuten aus dem Hamburger Rathaus zurückgekehrt.

„Ich glaube tatsächlich, wir sind einem bösen Ter­roranschlag entgangen, Kollege Frost. Die Männer vom Kampfmittelräumdienst und auch Marinetaucher sind zwar bei der Suche nach der Seemine noch nicht fündig geworden, aber ich zweifele nicht daran, dass es sehr eng war.“

Frost überlegte, warum das Auffinden der Mine solchen Aufwand bereitete. Man konnte Handys orten, auf die ISS fliegen, jedoch eine meterdicke Stahlkugel zwischen Steinwerder und St. Pauli in der Elbe war nicht aufzuspüren?

„Was haben wir für Anhaltspunkte, um die Erpresser ausfindig zu machen?“

Jensen überlegte und antwortete dann: „Eigentlich funktioniert das nur über die Cyberschiene. Wir haben keine DNA, keine Fingerabdrücke – nichts. Wenn das so weitergeht, ermitteln nur noch Computer gegen Computer.“ Er lachte.

„Und der mit dem schnellsten Prozessor gewinnt!“, warf Frost ein.

„Ja, tatsächlich. So wird es kommen. Lassen Sie uns die nächsten Tage eine Art Schlachtplan entwerfen. Vielleicht kommen bis dahin Anhaltspunkte zu sauberen Ermittlungen hinzu.“

Jensen verabschiedete sich von Emma und Frost und verschwand nach dem Händeschütteln.

*

Wenig später saß Jon Frost nervös auf seinem Stuhl im ehemaligen Büro seiner Freundin und Kommissarin Sandra Holz.

Erst wenige Tage war der Hauptkommissar auf dem neuen Posten angekommen. Schon steckten sein Team und er mitten in einem Tötungsdelikt, das wiederum in Zusammenhang mit einem geplanten Terroranschlag stand. Nicht gerade den Einstieg, den er sich nach der Versetzung von Esbjerg nach Hamburg gewünscht hatte. Seit Sonntag hatte er kaum geschlafen. Und wenn, dann eher stundenweise im Rathaus oder auf der kleinen Couch, die er sich ins Büro hatte bringen lassen. Oberkriminalrat Jensen war einverstanden mit der Erklärung seines Ermittlers, schnell und unverzüglich vor Ort sein zu wollen, denn beide Beamte hatten sich das Ziel gesetzt, den Fall schleunigst lösen zu wollen.

Seit wenigen Minuten gab es Neuigkeiten: Emma Meyfeld, die damit betraut war, Kameras und Radarfallen in der Nähe des Tatorts auszuwerten, war auf ein auffälliges Fahrzeug gestoßen. Der VW-Bus war kurz nach der Explosion am Morgen hinter der Altmannbrücke auf der Kurt-Schumacher-Allee mit überhöhter Geschwindigkeit von einem stationären Blitzer erfasst worden. Die Kennzeichen, so viel war klar, wurden am selben Tag in Eppendorf gestohlen. Frost ging stark davon aus, dass es sich um die Männer handelte, die das U-Boot gesprengt hatten.

„Bingo!“ Kommissarin Emma Meyfeld überraschte ihren nachdenklichen Leiter, als sie ohne zu klopfen eintrat.

„Was gibt es, Emma?“ Beide hatten sich auf das Du geeinigt und schnell kam die Kommissarin zur Sache.

„Laut dem Sicherheitsdienst der nahe gelegenen Seniorenresidenz Augustinum erfolgte exakt um drei Uhr zweiundvierzig die Explosion der U-434. Der Mann hatte die Zeit in seinen Unterlagen vermerkt. Der Blitzer erfasste den VW-Bus um drei Uhr einundfünfzig, was aussagt, dass die Insassen mit erhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt gerast sind. Der Automat hat sie mit dreiundneunzig km/h geblitzt.“

Emma hatte eine Pause gemacht. Sie schien zu überlegen. Frost ließ sie nachdenken.

Plötzlich meinte sie: „Die letzte Stunde habe ich damit verbracht, Knöllchen zu finden, die am Sonntag in Hamburg verteilt wurden. Und tatsächlich befand sich auch die gestohlene Nummer dabei. Der Bus wurde am Sonntagmorgen bei einem Supermarkt an der Billbrooker Bredowstraße abgestellt. Ein Parkplatz, den eine Abschleppfirma nutzt, um sich etwas ... dazuzuverdienen.“

Frost verstand nicht. „Wie, etwas dazuverdienen? Die können doch nicht selbstständig Fahrzeuge abschleppen?“

„Nein, nicht selbstständig. Der Besitzer oder Pächter eines Geschäfts hat das Hausrecht, auch auf dem dazugehörigen oder mitgepachteten Parkplatz. Er gibt vor, wer dort parken darf, wie lange und zu welchen Bedingungen. Um das Dauerparken auf dem Parkplatz zu verhindern, erteilt er einem privaten Abschleppunternehmen den Auftrag, Fahrzeuge dort zu entfernen. Für das Unternehmen eine lukrative Sache. Frag mal Sandra!“ Emma grinste.

„Wie, Sandra wurde auch schon zur Kasse gebeten?“

Die Kommissarin nickte.

„Bevor ich es vergesse, das Kennzeichen war als gestohlen gemeldet. Und noch etwas, Jon, im Austausch von Kommissar Mikael Vitthudt, der sich ja nach Berlin hat versetzen lassen, wird uns ab morgen eine neue Kollegin unterstützen. Hat mir Jensen auf dem Flur gesteckt. Soll ich dir ausrichten.“

„Okay! Also sind wir dann bei diesem Fall zu dritt. Aber nun weiter mit dem Abschleppdienst und dem VW-Bus.“

„Nichts weiter. Ich habe einen Wagen gebucht und dachte, wir beide fahren nach Billbrook zum Abschleppdienst Geier!“