Kapitel 26
Rechtsmediziner Dr. Fischer hatte Sandra auf einen Kaffee ins Butenfeld eingeladen. Es gebe Wichtiges zu besprechen, hatte die Empfangsdame am gestrigen Nachmittag Kollegin Porceddu am Telefon ausgerichtet. Als Zeitpunkt war 11 Uhr ausgemacht. Fischer war bekannt, dass Sandra nur halbtags eingesetzt war. Er nahm bestimmt Rücksicht auf ihre Arbeitszeiten. Es freute die Kommissarin, dass der Rechtsmediziner mitdachte, doch mit Verspätung erschien sie zum Termin. Fast zwanzig Minuten bewegte Sandra den elektrifizierten Smart um das UKE und das Butenfeld, bis endlich ein Parkplatz frei wurde. Der Smart passte eigentlich in jede noch so kleine Lücke. Aber war vor Monaten noch ausreichend Platz zwischen parkenden Fahrzeugen frei, hatten die Bewohner der Hansestadt wohl reagiert und sich auch einen der Kleinwagen zugelegt. Wahrscheinlich zusätzlich zum parkenden SUV in der Tiefgarage.
Fischer sei beim Sezieren, hieß es, als Sandra keuchend die Pforte betrat.
„Tut mir leid, ich habe keinen Parkplatz gefunden. Was ist nur los in der Stadt?“, schimpfte sie.
Frau Höppner, die neue Empfangsdame des Instituts, geleitete sie in Fischers Büro, schenkte Sandra sofort einen Kaffee ein. Dann berichtete sie, der Rechtsmediziner sei informiert und werde baldigst erscheinen.
Für heute Abend hatte sich Freund Jon angemeldet. Der Fall um das detonierte U-Boot und die Erpressung der Hansestadt schien zum Glück vor seinem Abschluss zu stehen, zumindest gab dieser Termin Anlass zu der Vermutung. Sandra freute sich und überlegte, was sie kochen sollte, als Fischer sein Büro betrat. Er hatte wohl nur die Schürze abgelegt. Vielleicht auch seine Hände gewaschen. Trotzdem ähnelte Fischer einem Schlachter bei der Arbeit. Doch sein Grinsen versprach gute Nachrichten.
„Moin, Sandra, schön, dass du Zeit gefunden hast. Ich hätte alle Infos zur Jacke und der darin aufgefundenen DNA-Spur auch an das Landeskriminalamt senden können. Aber ich dachte, erst informiere ich dich persönlich.“
Sandra lehnte sich voller Erwartung auf dem Stuhl zurück.
„Mit dieser Lederjacke hast du uns ein schönes Stück Arbeit aufgehalst. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Verschwinden der Besitzerin noch Anhaftungen mit DNA zu finden, erscheint im ersten Moment unmöglich. Zumal Leder oft vom Eigentümer behandelt wird. Zumindest wenn er das Kleidungsstück schätzt. Doch ich möchte es kurz machen. Du siehst, ich bin auch mitten in der Arbeit. Das Leder außen und das Futter selbst ergaben keinen Treffer. Es scheint tatsächlich, als sei die Jacke vor dem Auffinden gereinigt worden. Aber die Futterinnentasche war unser Glück. Sie besitzt einen Reißverschluss. Ich mutmaße, dass sich die Besitzerin vor ihrem Verschwinden zusammen mit einer männlichen Person am Strand aufhielt. Vielleicht sogar hier bei uns an der Elbe. Meiner Einschätzung nach hatte das Paar die Jacke auf den Boden gelegt und sie als Unterlage benutzt. Dabei bettete die männliche Person ihren Kopf auf der Innenseite. Ich fand ein wenig Sand in der verschlossenen Innentasche; dazu ein männliches Haar. Ja, Sandra, Glück gehört in unserem Job auch dazu.“
Sandra hatte gespannt zugehört. Auch jetzt nach Abschluss der Ausführung blieb sie zunächst ruhig.
„Sicher wartest du nun auf einen Namen. Und das zu Recht. Es gibt eine Person, die hinter der gefundenen DNA steckt. Deine Kollegin Marie-Therese hat es eben gemeldet: Michael Florian Wachter. Was mit Wachter ist und wo du ihn antriffst, das wirst du sicher schnell herausbekommen. Halte mich gerne auf dem Laufenden. Sorry, ich muss los. Die Leiche wartet nicht!“, grinste Fischer.
Als beide zusammen auf den Flur traten, meinte er: „Wie ich höre, bist du mit Jon Frost zusammen. Das ging ja schnell. Gratuliere!“ Das Wort ,Gratuliere‘ klang eher schnippisch als echt, und Sandra wollte noch etwas entgegnen, aber Fischer hatte schon die Treppenstufen nach unten genommen.
*
Allein der Vorname Michael ließ Sandras Herz hüpfen. Sie hatte sich entschlossen, wieder zurück zum Überseering zu fahren. In den endlosen Staus und Ampelstopps fand sie genügend Zeit, den weiteren Ablauf der Ermittlung vorzubereiten.
„Wie, heute Überstunden?“, empfing sie Kommissar Liebknecht im Büro.
„Ja, tatsächlich. Wie du weißt, haben wir den Namen eines potenziellen Verdächtigen im Falle Stefanie Andres: Michael Wachter!“
„Michael Florian Wachter, geboren am 1. November 1972 in Kempten im Allgäu. Lehre als Mechaniker für Land- und Baumaschinentechnik abgebrochen; zu Hause ausgebüxt, arbeitete er in den 90ern als Türsteher auf St. Pauli. Zwei Anzeigen wegen Körperverletzung, er wurde zweimal verurteilt. Sein Wohnsitz ist bekannt, und das Gute ist, wir können ihn jederzeit besuchen“, leierte der Kollege hinunter.
Sandra überlegte, was Liebknecht mit dem letzten Satz meinte.
„Wachter sitzt ein, Sandra. In der Justizvollzugsanstalt Bamberg. Und zwar noch bis September dieses Jahres.“