Kapitel 32

Die Polizeiassistentin Lilli Ilseborg war nicht sonderlich mitteilungsbedürftig. Nachdem Jonas Sokolowski als Beifahrer an ihrer Seite einige Minuten ein Comedy taugliches Dauerfeuerwerk abgebrannt hatte, war er sich sicher, sie schwieg, um sich auf die Straße konzentrieren zu können. Lilli schien tatsächlich keine erfahrene Fahrzeuglenkerin zu sein. Sie fuhr langsam, defensiv und ständig wurde der Polizeiwagen von anderen Fahrzeugen überholt. Die hatte vielleicht Nerven! Soko hätte am liebsten das Steuer übernommen. Doch noch stritten sich die beiden Länder darüber, ob er mit seinem deutschen Führerschein auch dänische Polizeiwagen fahren durfte. War der Grund, warum man ihm Lilli zugeteilt hatte, dass sie ihm ans Leder wollten, die Dänen? Der Gedanke daran ließ Jonas Sokolowski nicht mehr los.

Um sich abzulenken, wählte der frisch beförderte Hauptkommissar die Dienstnummer der Hamburger Mordkommission und wartete darauf, dass sich jemand meldete. Endlich! Verwundert registrierte Soko, dass es Julia Sinn-Brinkhaus war, die im Polizeipräsidium den Hörer abnahm.

„Mensch, Soko, das ist ja schön, deine Stimme zu hören.“

„Wie, du bist wieder zurück in der Mordkommission, Julia?“

Die junge Kommissarin bejahte das.

„Ich bin von Sønderborg aus mit einer dänischen Kollegin unterwegs nach Süderlügum, einem kleinen Ort an der Grenze. Soll dort eine Seemine finden oder so. Kannst du mir das bitte genauer erklären?“

Julia ließ sich nicht zweimal bitten. Sie berichtete über die Explosion der U-434 und überraschte Soko mit dieser Neuigkeit. Ihm fiel ein, dass er überhaupt keine Nachrichten mehr anschaute. Er spürte, dass Julia vorsichtig war, über das Telefon Details auszuplaudern, doch nach wenigen Minuten wusste Soko, warum sie die Fahrt angetreten hatten und was man von ihm verlangte.

„Danke, Julia, dann grüße mir unbekannterweise den neuen Hauptkommissar Frost. Emma natürlich auch. Hast du etwas von Kollegin Sandra gehört?“

Das konnte die Frau nicht bestätigen. Sie vermutete, dass Sandra Holz eine neue Handynummer besaß, die sie bisher nur wenigen mitgeteilt hatte.

„Oh, dann muss ich mir nicht die Mühe machen, sie anzurufen!“

Soko legte auf. Dann durchdachte er die aktuelle Situation noch eine Weile. Letztendlich schloss er seine Augen in der Hoffnung, gesund in dem Ort mit dem seltsamen Namen anzukommen.

*

„Geschließt!“

Soko wurde wach, als ihn jemand anstieß. Es roch nach Zigarettenrauch und Parfum. Als er die Augen öffnete, erinnerte er sich sofort daran, mit Kollegin Lilli Ilseborg zur deutschen Grenze gefahren zu sein. Die Beifahrertür stand offen; Lilli lehnte wieder rauchend am Wagenblech.

„Was sagtest du?“

Soko rieb sich die Augen und schaute sich um. Zumindest war er noch am Leben. Doch er hatte ja noch die Rücktour vor sich, fiel ihm schlagartig ein. Ein Schauer lief seinen Rücken hinunter.

„Geschließt!“

Wieder huschte das seltsame Wort über Lillis hübsche Lippen. Was meinte sie damit? Er drehte sich auf dem Fahrersitz, stellte die Füße außerhalb des Polizeiwagens auf den schmutzigen Asphalt und schaute sich um. Sie befanden sich vor einem geschlossenen rostigen Metalltor, das ihn sofort an eine Einrichtung der Bundeswehr erinnerte. Er selbst wurde noch im Jahr 2010 zur Wehrpflicht einberufen, hatte sich nach dem Abitur bemüht zu verweigern, aber dann war er doch zum Bund gegangen. Die Zeit wurde ihm später beim Studium und bei der Ausbildung zum Kommissar angerechnet. 2011 hatte man die Wehrpflicht in der Bundesrepublik abgeschafft. Soko fühlte sich verarscht, dass es ihn noch getroffen hatte.

Die militärische Anlage, vor der sie parkten, sah aus, als sei sie geschlossen. Auch während seiner Dienstzeit gab es beim Bund rostige Tore, aber dass das Gras dahinter einen Meter hoch stand, hatte er nie erlebt. Obwohl: Die Zeit, in der sie aktuell lebten und in der die Grünen in Schleswig-Holstein mitregierten, könnte auch das einen Rasenschnitt in einer Kasernenanlage verhindern, überlegte er.

Lilli hatte die Selbstgedrehte auf den Boden geworfen und war zum Tor spaziert. Sie blickte durch die Gitterstäbe, während Soko der glimmenden Zigarette den Garaus machte.

„Lukket, der er ingen her mere!“ Sie schaute zum deutschen Kollegen und grinste. Ihr war klar, er verstand nichts. „Hier ist geschließt, keiner im Haus! Was nun, Soko?“, wollte die uniformierte Dänin wissen.

„Lass uns in den Ort fahren, zum Bürgermeister. Oder vielleicht gib es eine Polizeistation.“ Soko ärgerte sich. Hätte man nicht vonseiten des Hamburger Landeskriminalamtes anrufen und nachfragen können? Musste er zweihundert Kilometer fahren, um festzustellen, dass dieses dämliche Depot geschlossen war? Niebüll lag, so die Karte, in der Nähe von Dagebüll. Soko erinnerte sich, als Jugendlicher mit den Eltern auf einer Fähre von dort auf die Insel Föhr gefahren zu sein.

Eine Polizeidienststelle gab es in dem kleinen Ort Süderlügum nicht. Soko hatte im Internet nachgeschaut. Die nächste lag in Niebüll. Er bat Lilli, zu den knapp zehn Kilometer entfernten Polizeikollegen zu fahren. Sie zuckte lässig mit den schmalen Schultern, stellte das Navi ein und fuhr los.

*

Der Polizeibeamte, den sie dort antrafen, war überrascht, fast erschrocken über die dänische Polizistin und den deutschen Hauptkommissar. Erst als er beide Ausweise eingehend überprüft hatte, wurde er ruhiger. Soko war sich sicher, dass der Mann noch in zig Jahren seinen Enkeln von dieser seltsamen Begegnung in der tiefen Provinz erzählen würde.

„Ich bin Kommissar Uhlmann, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir wollten zum Munitionsdepot in Süderlügum“, begann der Kriminalbeamte. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Denn Lilli hatte hinter dem Uniformierten eine Kaffeemaschine entdeckt und war zu Uhlmann getreten.

„Darf ich?“ Sie zeigte auf die halb volle Kaffeekanne.

Der Polizeibeamte nickte.

„Das Munitionsdepot ist seit über zehn Jahren geschlossen, müssen Sie wissen. Man hatte vor Jahren, als die Bundeswehr geschlossene Depots reaktivierte, gehofft, dass Süderlügum wieder reaktiviert wird. War schon ein Wirtschaftsfaktor hier in der öden Gegend. Aber nur das Materiallager Bargum, etwa fünfzehn Kilometer südlich von hier, wurde wieder in Betrieb genommen. Immerhin etwas!“, grinste der vielleicht 30-Jährige.

Lilli hatte sich mit der Tasse Kaffee nach draußen verdrückt. Sicher rauchte sie eine Zigarette. Soko selbst waren das zu viele Informationen. Er musste das Gespräch mit dem Kollegen aus Schleswig-Holstein abkürzen. Es war schon nach Mittag, sie hatten noch nichts gegessen und mussten noch zurück nach Sønderborg.

„Es geht um eine gestohlene Mine. Um genauer zu sein, um eine Seemine.“

Der Beamte schaute zunächst etwas konsterniert, flüsterte dann: „Seemine?“

Dann legte er seine Stirn in Falten. „Süderlügum war ein reines Luftwaffen-Munitionsdepot, zumindest soweit ich mich erinnere. Ich bin mir fast sicher, dort lagerte keine Marinemunition.“

Soko war entsetzt. Lief denn dieser dämliche Auftrag komplett in die falsche Richtung? Erst war das genannte Depot seit einem Jahrzehnt geschlossen. Nun gab es zu den aktiven Zeiten in der Lagerung keinerlei Seeminen. Er musste dringend mit Emma Meyfeld telefonieren. Sicher konnte sie das aufklären. Sie war die letzte verbliebene und ihm noch bekannte Kollegin in seinem ehemaligen Dienstbereich, der Mordkommission.

„Moment, jetzt wo sie fragen, fällt mir etwas ein. Seemine! Seemine!“, der Niebüller Kollege kratzte sich am Kopf. „Sie beziehen sich sicher auf einen Artikel in den Südtondern Nachrichten? Genau! Lange Jahre stand im Eingangsbereich des Depots so eine alte ausrangierte Seemine, also keine scharfe. So ein Übungsding mit einem Schild dran. Sie wurde immer wieder überpinselt. Irgendwann, ich meine, es war Silvester 2019 auf 2020, war sie von dort verschwunden. Man bemerkte das erst später. Unbekannte waren in den Bereich des ehemaligen Depots eingedrungen und haben das Teil einfach rausgerollt. Monate danach wurde bekannt, dass es sich um einen Streich der Süderlügumer Jugend gehandelt hatte. Die Mine wurde in einer der hiesigen Garagen aufgefunden. Soldaten haben sie später wieder abgeholt.“

„Sie sind sich sicher, die Seemine war nicht explosiv?“

Uhlmann nickte. „Absolut sicher! Von der ging keinerlei Gefahr aus.“

*

Jonas Sokolowski und Lilli Ilseborg hatten an einem Schnellimbiss in Niebüll eine Wurst gegessen, dazu ein Mineralwasser getrunken. Anschließend waren sie wieder nach Sønderborg aufgebrochen. Die Rückfahrt verlief ähnlich der Hinfahrt. Soko hatte meistens die Augen geschlossen. Wenn er sie mal öffnete, schaute er Fahrzeugen zu, die sie überholten.