Kapitel 34

Sandra war klar, die anschließende Aussprache lag wie ein Damoklesschwert über dem Notartermin. Es konnte Andres gar nicht schnell genug gehen, seine Unterschrift unter den Vertrag des Wohnungsverkaufs zu setzen, um der Kommissarin endlich Fragen stellen zu können. Die beiden hatten sich bei Andres ausgewähltem Notar an der Palmaille verabredet. Noch beim Eintreten in den alten Klinkerbau ging Sandras Blick suchend zum Hochhaus, in dem Jon Frost seit einigen Tagen lebte. Doch von hier aus war es nicht zu sehen.

Während der Notar den Vertrag vorlas, wurde der Kommissarin wieder bewusst, dass sie als Wohnungsbesitzerin ihre finanziellen Mittel ziemlich ausgeschöpft hatte. Zur Not blieb nur der Verkauf des Elternhauses. Aber das war Ultima Ratio!

Endlich waren alle notwendigen Papiere unterschrieben. Käufer und Verkäufer verabschiedeten sich von dem Notar. Schon auf dem Weg zu seinem Fahrzeug fragte Andres nach dem Erfolg ihrer gestrigen Dienstfahrt. Sie spürte, wie er alle Hoffnung in die Antwort legte, und das überforderte sie plötzlich. Sie glaubte, alle Fragen auf dem kurzen Gang zum Wagen zu klären, wäre die Chance, einer längeren Diskussion aus dem Wege zu gehen.

„Jochen, wir haben den damaligen Freund von Stefanie, diesen Mike, ausfindig gemacht und befragt. Aber ich muss dir sagen, obwohl wir echtes Glück hatten, seine DNA zu entdecken, hat uns die Spur leider nicht weitergebracht. Wachter hat mit dem Verschwinden deiner Tochter nichts zu tun. Doch ich halte dich weiterhin auf dem Laufenden. Mach es gut, ich habe noch einen zweiten wichtigen Termin.“

Sandra winkte Andres ein letztes Mal zu. Sie nutzte die Gelegenheit, den fassungslosen, ehemaligen Polizeipräsidenten stehen zu lassen und zur S-Bahn-Station Königstraße abzubiegen.

*

In der Bahn auf dem Weg zu ihrer Wohnung machte sich die Kommissarin große Vorwürfe, Andres so hastig verabschiedet zu haben. Doch sie durfte diese Geschichte, wie alle anderen Fälle vorher auch, nicht zu emotional an sich heranlassen. Das schadete den laufenden Ermittlungen, dem Team und auch ihrer noch immer angeschlagenen Gesundheit.

Als sie die Wohnungstür des von Kollegin Emma angemieteten Appartements öffnete und im engen Flur ihre Lederjacke aufhängte, überkam sie ein Gefühl großer Freude. Schon in wenigen Tagen würde sie umziehen. Endlich Platz im Überfluss. Viele ihrer Habseligkeiten waren noch in Kisten im Keller dieses Gebäudes eingelagert und sie sah sich schon, einen Prosecco in der Hand, die Kartons leer räumen. Sicher würde ihr Jon helfen. Er wohnte ja nur knapp einen Kilometer Luftlinie von ihr entfernt, dachte sie, als sie später auf der Couch saß. Sandra war sich absolut sicher, dass Jon der Richtige war. Wenn er nur genauso denken würde. Darüber war sie sich nicht im Klaren. Die neue Maisonettewohnung bot Platz für mindestens zwei Personen. Vielleicht sollte sie Jon fragen, ob er mit in die Pepermölenbek einziehen wollte. Vielleicht erst einmal auf Probe? Oder war das verfrüht? Die laufenden Ermittlungen in den beiden so unterschiedlichen Fällen hatten dafür gesorgt, dass sie wenig gemeinsame Zeit miteinander verbringen konnten. Das vor ihnen liegende Wochenende wäre genau die Chance, einen Test zu wagen, ob das Zusammenleben klappte. Sie musste Jon erst fragen und klären, ob er zu ihr oder sie zu ihm in die Palmaille kommen wollte.

*

Hauptkommissar Frost hatte lange mit dem ehemaligen Hamburger Kommissar Jonas Sokolowski telefoniert. Persönlich waren sich die beiden Ermittler noch nie über den Weg gelaufen. Frost kannte auch nicht den genauen Grund, weshalb der Kollege so schnell und unorthodox nach Sønderborg versetzt worden war.

„Das Munitionsdepot in Süderlügum wurde schon 2009 geschlossen“, meldete Soko.

Frost war enttäuscht, aber auch etwas beunruhigt. Wenn sie keine Ergebnisse bekamen, würden sich die Ermittlungen zur Erpressung und das Auffinden der Terroristen noch mehrere Wochen, wenn nicht Monate lang hinziehen.

„Dann war das eine falsche Spur.“

„Da gab es wohl vor zwei Jahren den Vorfall, dass eine Seemine gestohlen wurde. Leider eine Attrappe. Eine Art Streich der Jugendlichen aus dem Ort.“

Also doch eine Mine. Der Hinweis der Terroristen lautete: Seemine aus einem deutschen Depot gestohlen. Kollegin Julia hatte den Namen Süderlügum ermittelt. Ob es sich tatsächlich, wie er schon vermutet hatte, doch um einen Bluff gehandelt haben könnte? Durch die Überweisung der digitalen Währung waren Nachverfolgung des Geldes und Dingfestmachung der Täter nahezu unmöglich geworden. Jemand konnte im Büro neben ihm mit dem Handy Geld erpressen und dann unmittelbar danach mit dem gleichen Mobiltelefon den Eingang der Überweisung überprüfen. Die Welt war verrückt geworden. Wie angenehm war es noch, als Entführer die erpresste Geldsumme persönlich abholten und für die Polizei ein Zugriff erfolgen konnte.

Kollege Sokolowski hatte weiter berichtet, während Frost sich gedanklich vom Gespräch entfernt hatte. Die letzten Worte des Deutschen, die der Leiter der Mordkommission noch verstanden hatte, waren: „Ich komme gern zurück nach Hamburg und unterstütze das Team bei den Ermittlungen!“

„Das ist sehr freundlich, Kollege Sokolowski. Das habe natürlich nicht ich zu entscheiden. Aber zurück zur Mine in Süderlügum. Sie sagten, das Depot ist seit Jahren geschlossen. Dort lagert keine gefährliche Munition mehr. Die einzige Mine stand irgendwo im Bereich der Liegenschaft des Süderlügumer Depots und wurde von Jugendlichen entwendet?“

„Richtig! Das können Sie auch in den Südtondern Nachrichten nachlesen.“

Frost war sich sicher, dass Kollegin Julia in diesem Artikel den Hinweis über die Mine gefunden hatte. Wenn er die wenigen Cent freigegeben hätte, um den kompletten Zeitungsbericht zu lesen, wäre der Aufwand der Sønderborger Kollegen womöglich ausgeblieben. Doch nun war es nicht mehr rückgängig zu machen.

„Danke, Kommissar Sokolowski. Grüßen Sie mir bitte die Kollegen in Sønderborg.“

„Mach ich gerne. Nennen Sie mich Soko, das machen alle und ist einfacher.“

Frost lachte. „Dann gab es tatsächlich zwei Sokos beim Landeskriminalamt Hamburg.“

„Ja, tatsächlich. Und wie gesagt, ich komme gerne zurück! Tschüss!“

*

Soko hatte aufgelegt. Die Aussage des Kommissars, gerne zurückzukommen, klang eher wie ein Hilferuf. Ob es ihm nicht gefiel in der neuen Dienststelle? Frost stellte fest, die Dänen waren anders als die Deutschen. Aber der deutsche Kollege war ja erst wenige Tage dort.