Kapitel 37

Jon Frost klingelte am Nachmittag an der Tür von Sandras alter Wohnung. Er drückte sie zärtlich an sich und erklärte: „Ich habe alle Termine abgesagt, das Diensthandy abgestellt. Ich würde mir wünschen, wenn wir das Wochenende nur für uns hätten.“

Sandra war ganz seiner Meinung. Wünsche konnte man vorbringen, aber die Realität würde am Montag überprüft werden müssen.

„Hast du den Wagen mit?“, grinste sie keck und sah den Mann fragend an.

„Nein, natürlich nicht. Ich kann ja mit der Bahn zu dir fahren. Kostet mich auch nichts ...! Also, wenn du mich rauswerfen solltest ...!“

„Warum sollte ich dich rauswerfen, mein starker Held!“

„Warum fragst du nach dem Wagen?“

„Ich war gestern in meiner neuen Wohnung, saß auf der Terrasse. Ich habe mir überlegt, wir könnten heute Nacht dort schlafen und morgen früh auf der Terrasse frühstücken. Mit Blick auf die Elbe.“

„Kein Problem, ich kann den Wagen holen. Müssen wir das Frühstück kaufen?“

„Das auch und ein wenig mehr“, antwortete Sandra.

*

Zwei Stunden später standen die beiden erschöpft in der neuen Wohnung. Sie waren zuvor bei Ikea gewesen, hatten dort eine vakuumierte Riesenmatratze besorgt, zwei Gartenstühle und einen kleinen Tisch. Dazu genügend Wein. Unterwegs hatten sie sich entschlossen, das morgige Frühstück im Portugiesenviertel einzunehmen. Der Kauf einer Kaffeemaschine und weiteres Zubehör hätte den ganzen Nachmittag in Anspruch genommen. Anschließend hatten sie noch einen großen Karton mit Sushi besorgt.

Jon hatte die Matratze auf den Boden des möbelleeren Wohnzimmers geworfen.

„Während du die Matratze entkleidest, suche ich einen Parkplatz!“, erklärte Frost, und wenig später hörte Sandra, wie sich die Tür des Aufzuges schloss.

Die Kunststofffolie war schnell entfernt. Auch Stühle und Tisch waren keine Herausforderung. Es dunkelte schon, als Jon klingelte. Sie hatte sich Sorgen gemacht.

„Warst du noch etwas einkaufen?“, frotzelte sie.

„Nein, aber hier Parkplätze zu finden, ist wie bei uns in Dänemark auf eine Goldader zu stoßen. Ich habe dann aufgegeben, bin zur Palmaille gefahren und habe den Wagen vor meiner Haustür geparkt.“

Sandra war erstaunt. „Du bist mit der U-Bahn zurückgekommen?“ Frost nickte. Er schielte auf das Sushi und die Flasche Wein.

„Oh, Mist!“

„Was ist, Sandra?“

„Ich besitze doch unten einen Tiefgaragenplatz. Warum ist mir das nicht eingefallen? Ich bin vielleicht blöde!“

Frost grinste. „Nein, sicher etwas überarbeitet.“ Wieder nahm er Sandra in den Arm und streichelte über ihr Haar. „Schatz, wir brauchen dringend mehr Ruhe!“

„Und mehr Rotwein!“

*

Nach dem Essen saßen sie gemütlich auf der Terrasse. Sie hatten soeben die zweite Flasche Rotwein geöffnet.

„Wie läuft es mit der Erpressung?“ Im selben Moment, als Sandra die Worte ausgesprochen hatte, erinnerte sie sich an das dienstfreie Wochenende. Frost hatte das bemerkt und lächelte. „Nein, lass nur, wir sind und bleiben Kriminalbeamte. Nun zu deiner Frage, die Mine hat sich als Scherz herausgestellt. So langsam zweifele ich an der Echtheit des angeblichen Terroranschlags.“

„Was meint unser Bürgermeister?“

„Der hat natürlich die Verantwortung aller Bewohner Hamburgs vor Augen. Er möchte von Theorien und Vermutungen nichts wissen. Aber Fakten gibt es bisher auch wenig.“

„Hat man die Mine denn inzwischen gefunden?“

„Nein, die Fachleute sind sich sicher, dass dort in der Elbe keine liegt. Der Schiffsverkehr wurde auch schon wieder freigegeben.“

Sandra nickte. „Ja, ist mir aufgefallen. Sag mal, was machen die Erpresser mit so viel digitalem Geld? Es muss doch schwer sein, es in Euro, Dollar oder englische Pfund umzuwechseln?“

„Die erpressten Bitcoins sind sicher schon über weitere Kanäle gewaschen und in Form von harter Währung bei der Bande angekommen.“

„Wenn du mir einen Bitcoin schenkst, was könnte ich mit dem hier in Hamburg anfangen?“

„Ich glaube nicht, dass du damit einkaufen kannst. Stell dir vor, eben an der Ikea-Kasse: Entschuldigen Sie, Fräulein, ich besitze nur Bitcoins, können Sie sie wechseln?“

Das Paar lachte und stieß an.

„Aber jetzt erzähle mal etwas über deine Ermittlungen. Gibt es Hoffnung, die Tochter des Wohnungsbesitzers zu finden?“

„Des ehemaligen Wohnungsbesitzers!“

„Was? Sag nur, du hast schon alle Papiere unterschrieben?“

„Ja, Jochen Andres und ich waren gestern beim Notar. Du sitzt also in meiner Wohnung.“

„Was genau heißt das für mich?“

„Dass du ab sofort im Sitzen pinkelst!“

Jon holte mit der geballten Faust aus und tat, als wolle er Sandra boxen. Ihre schnelle Abwehrhaltung war eindeutig.

„Du wirst doch keine Angst haben, dass ich dich schlage?“

„Nein!“ Trotzdem hatte sie die Handbewegung des kräftigen Mannes erschreckt.

Sandra fiel ihre gestrige Fahrradtour durch den Alten Elbtunnel nach Steinwerder und den beiden seltsamen Begegnungen ein. Sie erzählte ihm davon.

„Oh, ich dachte, sexuelle Angriffe auf Frauen haben seit MeToo noch mehr an großer Aufmerksamkeit gewonnen. Jeder noch so unterbelichtete Mann sollte wissen, was ihm blüht!“

„Schön wäre es, Jon!“

„Weißt du, um die Jahrtausendwende zählten wir in Dänemark noch doppelt so viele Vergewaltigungen wie in den letzten Jahren. Die Bewegung scheint etwas geändert zu haben.“

Sandra war nachdenklich geworden. „Habe ich etwas Falsches gesagt, Sandra?“

„Nein, nein. Aber du hast recht. Was ist, wenn Stefanie auf dem Rückweg von Steinwerder etwas ... passiert ist?“

„Du meinst ...!“

„Genau, im Alten Elbtunnel.“

*

Als es kühler wurde, verließen die beiden die Terrasse. Sie machten es sich innen auf der Matratze bequem. Das Wohnzimmer sah leer aus. Mittendrin nur die einsame Matratze. Jon hatte seinen riesigen Schlafsack und zwei kleine Kissen aus der Wohnung mitgebracht. Dankbar kuschelte sich Sandra an ihn.

„Jon?“, flüsterte sie nach einer Weile.

Nach einer Ewigkeit kam die Antwort: „Ja!“

„Könntest du dir vorstellen, hier bei mir einzuziehen?“

Frost richtete sich langsam auf. „Mietfrei?“

Sandra konnte sein Grinsen im Mondlicht erkennen.

„Nein, ich werde dich bis auf das letzte Hemd ausziehen.“ Sie begann an den Knöpfen seines Jeanshemdes zu reißen.