Kapitel 39

„Sandra, ich habe Infos zu Iwan Represarowitsch“, empfing Marie-Therese ihre Chefin am nächsten Morgen. Sandra hatte sie gebeten, etwas über den Geschäftsführer der Represarowitsch PVF in Erfahrung zu bringen.

Die Kommissarin hatte sich auf den Bürostuhl gesetzt und war mit diesem zur Kollegin gerollt.

„Dann berichte bitte mal!“

„Dieser Represarowitsch war Inhaber und Geschäftsführer der gleichnamigen Personalvermittlungsfirma. Er hat das Geschäft von 1990 bis 2008 betrieben. 2008 wurde Privatinsolvenz angemeldet. Represarowitsch wohnte bis zu dem Zeitpunkt mit seiner Ehefrau Olga Tchech-Represarowitsch im Norderstedter Johannes-Kepler-Ring. Was hältst du davon, wenn wir beide dorthin fahren?“

„Mit der Bahn oder leisten wir uns einen Wagen?“

Die Kommissarin überlegte kurz. „Ich glaube, wir fahren mit dem Wagen. Die Adresse liegt abseits der Stadt, und so gerne ich rolle ...!“

*

Sandra hatte einen VW E-Golf geordert. Der Leiter des Fuhrparks hatte ihr das Fahrzeug für 11 Uhr zugesagt. Das würde heute wieder nichts mit pünktlichem Feierabend. Sie hatte für den Nachmittag geplant, mit einem Umzugsunternehmer zu sprechen. Der sollte die wenigen Möbel, die sie besaß, in die neue Wohnung transportieren. Das musste sie fürs Erste verschieben.

Sandra holte ihre Kollegin Marie-Therese am Überseering ab und sie benötigten knapp vierzig Minuten für die Strecke. Endlich fasste sie allen Mut zusammen und fragte die Frau vorsichtig nach dem Grund ihrer Einschränkung.

Marie-Therese lachte. „Ich dachte, du fragst nie! Nein, ich war mir sicher, jemand hätte dir schon von der armen Kommissarin erzählt, die man bei dem G-20-Gipfel so malträtiert hatte.“

Sandra erschrak. Die wenigen Worte reichten bei ihr aus, um das Kopfkino in Bewegung zu setzen. Doch Marie-Therese war schon dabei, zu berichten.

„Ich bin, was diese Erfahrung angeht, kein großer Erzähler, Sandra. Ich verrichtete meinen Dienst bis Anfang Juli 2017 bei der Bundespolizei am Hauptbahnhof. Sicher sind wir uns dort schon mal über den Weg gelaufen. Wobei die Gewichtung der Worte auf gelaufen liegt. Heute kann ich nur noch rollen.“ Sie versuchte es locker und ohne Emotion auszusprechen, doch Sandra hörte am Unterton, wie sehr sie das Erlebte belastete.

„In der Nacht des G-20-Gipfels befand ich mich in einer Hundertschaft im Schanzenviertel und die Autonomen warfen Steine und Ziegel von den Dächern. Ich hatte gerade einen Randalierer zu Boden gebracht, beugte mich über ihn, als mich ein Dachziegel auf den unteren Rücken traf. Ich ging zu Boden und wachte am nächsten Tag nach einer schweren Operation in der Schön-Klinik in Eilbek auf. Dort im Wirbelsäulenzentrum hat man alles versucht, aber wie du siehst, haben es die Ärzte nicht geschafft, mich wieder zum Laufen zu bringen.“

Sandra musste den Wagen vor einer Ampel anhalten. Sie warf einen Blick zu ihrer Kollegin auf dem Beifahrersitz.

„Bloß kein Mitleid, Sandra. Es ist nun mal geschehen und nicht zu ändern. Lass uns bitte das Thema wechseln.“

Marie-Therese erzählte plötzlich wie besessen von der Familie Porceddu, dazu von ihrem Vater, der Anfang der Siebzigerjahre aus Sardinien nach Deutschland gekommen war.

„Geboren bin ich in Bremen. Dort bin ich auch zur Schule gegangen. Habe mein Abitur gemacht. Als Mama 2014 an Brustkrebs starb, zog es Papa zurück auf die Insel. Ich hatte bald die Schnauze voll vom Bremer Polizeidienst. Hamburg lag in der Nähe, so musste ich die Möbel nicht weit transportieren“, lachte sie und warf ihre Haare zur Seite.

Sie hatten die Langenhorner Chaussee verlassen und fuhren über die Straße Tarpenbek in Richtung ihres Ziels. Das Navi zeigte noch eine Reststrecke von 1.200 Metern an.

„Wo bist du geboren, Sandra?“, wollte die 29-Jährige wissen.

„In Oldenburg. Also, das Oldenburg in Niedersachsen.“

„Oh, da wohntest du ja nicht so weit von mir entfernt.“

Sandra nickte, ließ dabei den fließenden Verkehr nicht aus den Augen.

„Ich wurde in Oldenburg als Polizistin mal bei einer Demo eingesetzt. Dauerte ein Wochenende lang. Wir bekamen im Gebäude der Polizeidirektion die Einweisung. Das war, warte ... ich glaube, das war ... Ende 2013. Wann bist du dort weg?“

Sandra musste den Wagen durch einen Kreisel lenken und erst als sie wieder beschleunigte, antwortete sie: „2015!“

„Dann sind wir uns ja vielleicht dort mal über den Weg gelaufen.“ Marie-Therese drehte den Kopf in Richtung Seitenscheibe.

Das Navigationsgerät riss beide Frauen aus ihrem Gespräch: „Nach 500 Metern rechts abbiegen!“

*

Bei dem letzten gemeldeten Wohnsitz von Iwan Represarowitsch handelte es sich um einen riesigen Walmdachbungalow in großzügiger Bauweise. Er lag abseits, mit weitläufiger Grünfläche drum herum und Sandra parkte das Elektrofahrzeug auf dem Seitenstreifen.

„Wenn Represarowitsch noch immer hier wohnt, trotz Privatinsolvenz, stimmt etwas nicht“, mutmaßte Marie-Therese, während Sandra ihr den Rollstuhl an die Tür schob.

„Wird die Privatinsolvenz nicht automatisch nach sechs Jahren gelöscht?“

Sandra nickte. „Ja, doch oft haben die Schuldner alles der Ehefrau überschrieben. Dann sind sie rechtlich kaum dranzukriegen.“

Sie klingelten an der Pforte und schnell meldete sich eine Stimme.

„Ja, hallo?“

„Hier sind die Kommissarinnen Holz und Porceddu!“

Für einen Moment war Schweigen im Walde. Sandra hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dass sich die Stimme weit hinten im Walmdachbungalow wieder meldete. Doch dann wechselte der Akzent.

„Hier spricht Tchech. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir sind auf der Suche nach Iwan Represarowitsch. Seine letzte Adresse hat uns hierhergeführt.“

Wieder verzögerte sich die Antwort um sicher eine Minute. „Warten Sie, ich lasse Sie hinein!“

*

Wenige Minuten später saßen die Kommissarinnen zusammen mit Frau Tchech, einer hochgewachsenen älteren Frau im Cocktailkleid, im Wintergarten und schlürften Tee. Dazu gab es englisches Gebäck, bereitgestellt von einer Angestellten. Frau Tchech hatte auf dem Weg von der Tür zum jetzigen Sitzplatz mehr ausgeplaudert, als Sandra Fragen gestellt hatte. Über ihr Alter von zweiundsechzig Jahren, ihre Herkunft aus Böhmen und ihren Geburtsort Prag. Auch bat sie die Kommissarinnen, sie einfach Mila zu nennen. Nur über ihren Mann hatte sie bisher kein Wort verloren. Es war, als habe die Frau lange darauf gewartet, endlich wieder Besuch zu bekommen.

„Bring uns drei Gläser, Dívka, dazu die Flasche Slivovice.“

Die Frau gehorchte und verschwand. Sandra blickte zu Marie-Therese und ihre Augen begegneten sich. Beiden schauten erstaunt. Marie fand als Erste die Worte: „Bitte keinen Alkohol, Frau Tchech. Wir sind mit dem Wagen hier – im Dienst. Tee und Gebäck sind völlig ausreichend. Übrigens sehr lecker, auch die Kekse!“

„Na gut!“ Die Gastgeberin hatte die Augen gerollt. Sie rief in das Hausinnere: „Nur ein Glas und die Flasche.“

„Frau Tchech, wir müssen mit Ihrem Mann reden.“

„Ach ja, Sie sagten es bereits. Also, Iwan ist schon seit ...“, sie hob grazil den Kopf, schien zu rechnen, „... egal, seit Langem nicht mehr mein Ehemann.“

Die Kommissarinnen blieben ruhig. Das Mädchen brachte den Schnaps und schenkte das Glas der Frau randvoll ein. Die Angestellte schien zu wissen, was ihre Chefin mochte.

Mila nahm das Glas mit zwei Fingern, machte einen kleinen Knicks und schluckte den Alkohol hinunter. Dann stellte sie das Glas ab. Sie schaute die Angestellte, die noch immer beim Tisch verweilte, stumm an. Diese füllte nach und verschwand anschließend.

„Iwan hatte seinen Laden an die Wand gefahren. Er wollte von mir, dass ich das Haus verkaufe und meinen teuren Schmuck rausrücke. Was glauben
Sie, was ich dafür alles getan habe, um endlich ein Collier und goldene Ohrringe zu bekommen. Täglich mit dem Dicken zu schlafen, war noch das Geringste!“

Sie warf erneut den Kopf hoch, als wolle sie eine imaginäre Brille zurechtrücken. Dann trank sie auch das zweite Glas in einem Zug leer.

„Zum Glück hatte er mir alles sauber überschrieben.“ Frau Tchech grinste.

Es war schon nach dreizehn Uhr, und Sandra war sich sicher, wenn sie nicht bald zum Abschluss kamen, würde sich die Frau weiter volllaufen lassen und dann lallend über ihr Leben berichten. Das war sicher interessant, aber nicht zielführend.

„Wo finden wir Iwan?“ Auch Sandras Kollegin hatte genug.

Er ist vor Jahren ausgezogen, war lange Zeit verschwunden. Ein Bekannter hat ihn im letzten Jahr mal am Hauptbahnhof getroffen.“

„Am Hauptbahnhof? Hier in Hamburg?“

„Ja, er war wohl obdachlos, wenn der Freund, der Iwan gesehen haben will, recht hat.“

„Er hat sich nie wieder bei Ihnen gemeldet?“

Frau Tchech lachte. „Doch! Vor etwa zwei Jahren stand er hier vor der Tür. Wollte Geld und bettelte ...“

„... und Sie haben ihn abgewiesen!“ Marie-Therese war sauer geworden.

„Was fällt Ihnen ein?! Abgewiesen! Ich denke, Sie gehen jetzt, ich habe genügend getan und gelitten, um mir dieses Leben ermöglichen zu können. Ich habe mich krummgelegt, seine Buchführung gefä...!“

Es schien Sandra, als wolle die Frau das Wort ,gefälscht‘ sagen, aber ihr war gerade noch eingefallen, dass ihr die Polizei gegenübersaß.

„... also die Buchführung geschrieben. Iwan musste stets dicke Autos fahren, Weiber im Puff aushalten, während ich zu Hause saß und das Geld zusammenhielt.“

Frau Tchech war aufgestanden. „Wenn Sie endlich fertig sind mit der dämlichen Fragerei ...?“

*

„Was hältst du davon?“, wollte Marie-Therese wissen, als sie Norderstedt hinter sich gelassen hatten und Sandra den Golf durch Hamburg steuerte.

„Viel weiter sind wir nicht gekommen. Aber wir sollten uns mal um die Obdachlosen kümmern. Das kann Liebknecht morgen übernehmen.“